„Hast Du gesehen, Friedel Frogg ist gestorben“, sagte Sekretärin Wilma neulich am Morgen. „Steht in der Zeitung.“
Ich schaute nach, und tatsächlich: Friedel Frogg ist tot. Jahrgang 1933. Einfach weg. Was hat hat mich dieser alte Mann in den letzten 11 Jahren irritiert! Wie musste ich alles, was ich denke und glaube aus meinem Büro hinauszwingen und dann die Tür zudrücken, um es telefonisch überhaupt mit ihm aufnehmen zu können. Dass er mein Namensvetter war – reiner Zufall. Verwandt waren wir nicht, darauf legte ich Wert. Meine Familie stammt vom Berg M. Seine aus dem Tal E.
Er war ein Leserbriefschreiber. Wenn ihn etwas wütend machte, dann nahm er einen blauen Kugelschreiber und schrieb in einer breiten Schrift ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier. Dieses schickte er uns. Ich musste den Text dann abtippen, redigieren und auf die Seite stellen. Er schrieb Sätze wie: „In Sachen Rassismus muss man fast schon jedes Wort auf die Goldwaage legen.“ Oder: „James Schwarzenbach war intelligent. Er hat in den sechziger Jahren gegen die Überfremdung gekämpft.“ Mir kräuselte sich beim Tippen die Kopfhaut. Sein rotes Tuch war die Ehe für alle: „Nur wenn Mann und Frau sich ehelichen und in der Regel Kinder kriegen, ist es eine Ehe. Gleichgeschlechtliche Paare können das nicht.“ Das wiederholte er so gerne, dass ich ihn einmal fragte, warum er eigentlich selbst nie geheiratet habe. Er lästerte über die EU, pries „unsere bewaffnete Neutralität“ und gerne auch den rechtskonservativen Churer Bischof.
Nicht selten schrieb er einen Satz, den ich ihm streichen musste. Weil es gegen das Gesetz verstossen hätte, ihn zu veröffentlichen. Oder, weil er unleserlich oder unverständlich war. Wenn ich das tat, griff Friedel Frogg zu Telefonhörer. Wenn ich nicht da war, diskutierten die Frauen vom Sekretariat mit ihm. Er hatte diesen trügerisch leutseligen Umgangston, den ich auch von anderen Männern aus dem Tal E kenne. Wie eine freundlich zum Gruss entgegengestreckte Hand, die eine Scherbe versteckt. Er rief auch an, wenn ihn ein Anglizismus in der Zeitung ärgerte oder er etwas nicht verstand.
„Legen Sie sich doch endlich einen Computer zu, Herr Frogg“, sagte ich hundertmal. „Dann können Sie alles nachschlagen. Oder gehen Sie in die Bibliothek.“ Nein, er müsse uns das sagen. Damit wir Bescheid wüssten, dass manche Leute uns nicht verstünden.
„Warum bringst Du diesen alten Sack überhaupt noch?!“ sagte einmal ein Blattmacher zu mir, dem die Leser des von ihm gemachten Blattes herzlich egal waren. Ich sagte: „Das kann ich nicht. Er hat ein Recht auf freie Meinungsäusserung und ein Abonnement unserer Zeitung.“
Mit den Jahren wurden Herr Frogg und ich milder miteinander. Zuletzt war ich es, die ihn anrief. Er hatte uns etwas geschickt, was ich unmöglich bringen konnte. Am Telefon rang er zwischen zwei Sätzen nach Atem. Das Herz. Ich war in Sorge.
Später am Tag, an dem ich von Friedel Frogg’s Tod erfuhr, brachte ich etwas ins Sekretariat. Auf einem Gestell brannte eine Kerze. „Die haben wir für Herrn Frogg angezündet“, sagte Wilma. Wir schauten sie an und waren ein bisschen traurig.
Ja, ich glaube, man kann auch etwas widersprüchlich „liebgewonnenes Negatives“ vermissen.
Eine schöne Geste, das mit der Kerze.
Ja, genau, das war mein Punkt! Danke, dass Du mich verstanden hast, Lo! Merkwürdig, aber wahr.
Er hatte den Jahrgang meiner Mutter, die hat auch kein Netz, nur zum Schreiben einen PC, weil’s damit leichter von der Hand geht.
RIP Herr Frogg aus Tal E.
Ja, RIP! Ich brauchte noch diesen Text, um ihn gehen lassen zu können. Ich denke, viele Leute seiner Generation haben Berührungsängste mit dem Computer. Herr F. wusste sehr entschieden, was er nicht wollte.
So ist es wohl.
hast du wieder sehr schön in worte gefasst… was für ein sympathischer zeitgenosse, dieser alte frogg vom tal e. in dorfkneipen und an stammtischen kann man regelmäßig solche altbackenen meinungen/anschauungen hören. es ist aber auch für viele menschen nicht leicht, dem irren tempo gesellschaftlicher veränderungen zu folgen.
Ja, das bringt es gut auf den Punkt. Er gehörte in eine alte Welt, und er war zu alt, um sich noch verändern zu können/zu wollen. Jetzt, wo ich selbst älter werde, frage ich manchmal, ab welchem Punkt man auch zu diesem Alterssegment gehört. Wenn ich mit meinem Gottenbuben spreche, dann habe ich manchmal den Eindruck: eindeutig jetzt schon.
Jeder folgenden Generation wird es ähnlich gehen. Besser, man übt sich in geistiger Flexibilität, ohne dabei einem willfährigem Opportunismus anheim zu fallen.