Manchmal sagt jemand ein paar Sätze über einen, die so wahr sind, dass man gerne einfach nur dasitzen und ein paar Tränen vergiessen möchte. Neulich zum Beispiel sass ich mit ein paar schwerhörigen Kolleginnen und Kollegen zusammen. Wir diskutierten wieder mal darüber, wie schwierig es für unsereiner ist, in einer Kneipe mit einer Gruppe von Leuten Spass zu haben. Meistens verstehen wir so um die 30 Prozent eines Gesprächs. Das reicht einfach nirgends hin.
Da zeichnete einer, er ist Psychologe, die Skizze oben auf ein Stück Papier. Die blauen Mannsgöggeli* links sind die Hörenden, die rote Figur rechts die schwerhörige Person. „Nehmen wir an, Du bist mit drei gut Hörenden zusammen an einem lärmigen Ort. Du verstehst nicht viel von dem, was sie sagen. Nun hast Du zwei Möglichkeiten. Du kannst entweder ständig nachfragen, damit Du auch am Gespräch teilnehmen kannst. Aber dann denken die anderen: ‚Gott, ist das anstrengend!‘ Sie werden Dich vielleicht für eine Nervensäge halten und ein bisschen früher gehen, weil sie genug haben von der Situation. Oder Du kannst so tun, als würdest Du das Wesentliche verstehen, im richtigen Moment lachen wie die anderen oder den Kopf schütteln – als schwerhörige Person hast Du herausgefunden, wie das funktioniert, auch wenn Du keine Ahnung hast, wovon sie reden. Dann denken die anderen: ‚Och, sie ist doch ganz ok und, hey, so schlimm ist es doch gar nicht mit ihrer Schwerhörigkeit‘. Nach aussen ist dann alles paletti, aber in Dir drin sieht es himmeltraurig aus.“ Er zeichnet drei waagrechte, rote Linien zwischen die Mannsgöggeli und unterbricht sie gleich wieder. „Das ist die Verbindung zwischen den Menschen, die in einer solchen Situation eigentlich entstehen würde. Aber bei Dir ist das einfach nicht möglich, egal, was Du machst. Man nennt es das Paradox der Schwerhörigkeit.“
Wir anderen beeilen uns, das jetzt ein bisschen zu negativ zu finden. Wir wenden hastig ein, es gäbe 1000 Trickli, solche Situationen doch irgendwie zur Zufriedenheit aller zu meistern. Aber im Grunde erkennen wir uns alle in diesem roten Mannsgöggeli wieder. Das Paradox der Schwerhörigkeit ist übrigens auch gut erforscht, hier ein ganzer Vortrag zum Thema.
Für Euch Hörende ist das natürlich auch keine gute Nachricht – Ihr wisst jetzt eigentlich nur, dass die Dinge mit uns Schwerhörigen manchmal nicht so sind wie sie aussehen. Was kann man da machen? Ehrlich gesagt: Ich weiss es nicht. Aber falls jemandem ein paar Trickli einfallen – bitte (und gerne auch als Kommentar).
*Schweizerdeutsch für Spielfiguren oder abstrakte Zeichnungen von Menschen.
Ein passendes Trickli habe ich nicht.
Aus diesem Grund treffe ich mich lieber mit nur einer Person. In Rudeln fühle ich mich selten wohl und gerate ich doch unfreiwillig in ein solches, fixiere ich mich oft auf nur eine Person aus einer Gruppe.
Ansonsten, wenn ich die nötige Energie habe, werde ich zur fragenden Nervensäge.
Sehr selten finde ich mich in Situationen, wo ich mich in einer grösseren in-sich-geschlossenen Gruppe wohl fühle. Das letzte Mal war sehr lange her.
Vielleicht gehe ich deshalb gern auf Konzerte. Ich muss aber deshalb nicht mit den anderen Menschen ins Gespräch kommen, aber ich kann jedenfalls behaupten, dass ich unter Menschen war.
Danke für diesen Beitrag!
Bitte, gerne, rotes Mannsgöggel :-). Ich fand das so glasklar, ich fand die Analyse des Schwerhörigen-Paradoxes so glasklar und treffend, dass ich sie einfach mal nacherzählen musste. Ich mache es ganz ähnlich wie Du – ausser bei den Konzerten (weil ich eine starke Fehlhörigkeit habe). Heute hatten wir so ein Mittagessen im Familienkreis. Das heisst dann: Beste Sitzposition erkämpfen, vor allem mit dem Gegenüber sprechen, bei Gelegenheit mal nachfragen und sonst: die Dinge nehmen wie sie kommen und mich bei erster Gelegenheit absetzen.
Das ist ja eigentlich schade, wenn man sich bei der ersten Gelegenheit absetzen möchte. Aber mir gehts ähnlich, obwohl ich nicht schwerhörig bin. Für Asperger-Austist:innen sind größere Menschenansammlungen eine heftige Reizüberflutung, besonders wenn alle durcheinander bzw. miteinander reden. Da mag ich auch lieber Konzerte – kann mich so besser auf nur eins konzentrieren, auf die Musik – die kommt meistens aus nur einer Richtung!
Schon fast tröstlich zu lesen, dass es ja nicht nur uns so geht… :-/ Ich denke, beides hat durchaus Ähnlichkeiten, es ist bei uns paradoxerweise ja auch eher eine Reizüberflutung (und nicht -unterflutung, wie man es sich gemeinhin vorstellen würde). Einfach viel Lärm rundum.
Ich bin auf einem Ohr taub und in Situationen mit mehr als 5 Personen plus Umgebungsgeräusche auch ziemlich handicapiert, selbst wenn ich mich optimal platziere. Ich weiss leider kein Trickli, mein Vorgehen hängt von meiner Tagsform ab. Jedenfalls versuche ich immer, mich akustisch optimal zu platzieren und sage auch klar, was ich da tue und warum, damit zumindest die, die am nächsten sind, wissen, dass ich nicht doof bin, sondern bloss 50% taub. Was sie natürlich bald wieder vergessen haben, und dann läufts wie von dir beschrieben.
Man sollte eine rote Flagge ins Ohr stecken oder einen Pappmaché-Pamir aufsetzen, um optisch zu signalisieren, was los ist… Kürzlich habe ich das Foto eines einseitig ertaubten Mannes gesehen, der sich einen durchgestrichenen Lautsprecher hinters Ohr tätowieren liess. Ich überlege mir ernsthaft, das auch zu tun.
Interessante Idee mit der Tätowierung – und irgendwie auch witzig. Ich habe Bekannte, die sehr auffällige Hörgeräte tragen – schwarz oder in Regenbogenfarben, und dazu Haarschnitte, die sie voll zur Geltung bringen. Die Rückmeldungen sind positiv. Auch ich selbst trage einen Kurzhaarschnitt, damit man die Geräte besser sieht, aber es reicht irgendwie nicht. Tagesform ist tatsächlich sehr wichtig, und dass die Chemie stimmt.
Danke fürs Bewusstmachen dieser Perspektive. Das stelle ich mir sehr anstrengend vor, zumal ich selbst auch schon relativ lärmempfindlich bin und darüber hinaus auch ohne physiologischen Grund Zweiertreffen bevorzuge. Letzteres ist vermutlich die beste Lösung, wenn ich mir auch die Kommentare so durchlese, oder? 🤔
Ja, ist die beste Lösung. Es hat einen einzigen, grossen Nachteil: Zweiertreffen hat man normalerweise mit Leuten, die man ein bisschen besser kennt, mit denen man fast schon freundschaftliche Beziehungen und/oder grössere gemeinsame Interessen hat. Das heisst: Man trifft sich immer mit denselben drei, vier Leuten. Gibt’s mal Zoff mit jemandem von denen, dann kann das sehr belastend sein. Dieses Surfen von ein bisschen mehr Nähe zu ein bisschen mehr Distanz, wieder mal neue Freunde, eine netter Konversation beim Einkaufen oder an einer Party und so weiter… das ist stark eingeengt.
Schwerhörige haben es echt schwer in der Gesellschaft, Ungeimpfte mittlerweile auch.
Wagen Sie es nicht, Schwerhörige und Ungeimpfte in einem Topf zu werfen! Sie vergleichen Äpfel mit Birnen.
Ich hatte vor, Deinen Kommentar nicht mit einer Antwort zu würdigen, BoMa. Aber Sori hat recht. Wir können uns unsere Schwerhörigkeit nicht aussuchen. Ihr habt volle Wahlfreiheit, ob ihr Euch impfen wollt oder nicht, soweit mir bekannt ist auch in Deutschland.
Liebe Frau Frogg, genau das war auch mein Gedanke.
Es ist die Entscheidung von bonanzamargot, ob er geimpft werden möchte oder nicht. Aber er kann es sich aussuchen. (Ja, auch in Deutschland und Österreich gibt es keinen Impfzwang.)
Wir haben unsere Schwerhörigkeit. Auch wenn uns die besten technischen Hilfsmitteln zur Verfügung stehen, wir bleiben trotzdem schwerhörig und müssen damit leben.
Es ist nun einmal die Entscheidung von Selberdenker, die nicht geimpft werden möchten.
Aber es hat mich so wahnsinnig gestört, dass sie nun mit Schwerhörigen verglichen werden. Das konnte ich einfach nicht stehen lassen.
das war kein vergleich sondern eine anmaßung aus der perspektive eines ungeimpften.