Perücke

Echthaar-Perücke an etwas zu rotwangigem Model (Quelle: lightinthebox.com)
Zweierlei habe ich festgestellt, seit ich um den Krebs weiss: So eine Diagnose verschiebt erstens die Koordinaten der zwischenmenschlichen Beziehungen auf merkwürdige Art. Zum Beispiel wollen einen plötzlich Menschen umarmen, zu denen man eigentlich keine Umarmungs-Beziehung hat. Zweitens: Sobald man sich als Frau einer Chemotherapie unterziehen muss, gehört man zur Zielgruppe einer spezialisierten Wohlfühl- und Gutausseh-Industrie. Schon im Spital bekommt man Müsterchen mit Kosmetika und eine Liste von Coiffeuren, die Perücken vermitteln. Man sieht unzählige Bilder von etwas zu rotwangigen Schönheiten mit Turbanen und Haarteilen. Ich will das nicht kritisieren, wahrscheinlich werde ich sogar auf meine Art froh darum sein, die Chemo beginnt nächste Woche.

Ich befolgte auch den Rat, mir schon vorher von so einer Perücken-Vermittlungsperson einen Haarschnitt verpassen zu lassen. Damit die wissen, was man für Haare hat. Im Spital gab mir jemand eine Liste mit Adressen von solchen Leuten. Auf ihr war der Coiffeur Platzhirsch mehrfach vertreten, der für seine Professionalität und einen etwas pompösen Dekor einen gesalzenen Preis verlangt. Ich wählte statt dessen den Salon Léonie bei uns in der Nähe. Eine Einzelperson mit einem kleinen Lokal in einem Wohnblock.

Ich hatte mir Léonie als nüchterne Geschäftsfrau Ü35 vorgestellt, aber sie erwies sich sehr jung, fast noch ein Mädchen, das ein scheues Wesen hinter ein paar Speckröllchen versteckte. Ihr kleiner Salon ist voller Topfpflanzen, an den Wänden zwischen den Spiegeln ranken hübsche, wahrscheinlich selbst hingemalte Ornamente. Sie hatte einen kleinen Hund bei sich und wenn sie lächelte, tat sie es nicht wie ein Profi, sondern wie ein richtiger Mensch.

Nun ja, sie habe eigentlich bis jetzt wenig mit Perücken und so zu tun gehabt, gestand sie. „Aber eine habe ich besorgt, für eine Frau hier aus dem Haus. Die kann ich Dir zeigen. Sie hat sie gestern zurückgebracht.“ Sie nestelte an einer Schuhschachtel auf dem Ladentisch herum.

Ich sagte: „Ja, wenn das alles vorbei ist, gibt man die Sachen sicher gerne zurück.“

„Nun ja“, sagte Léonie, „es ist eben nicht vorbei. Die Frau räumt gerade ihre Wohnung, sie geht morgen ins Sterbehospiz.“

Ich liess das kurz einsinken. Dann sah ich ihr zu, wie sie eine weissblonde Perücke auf ein Drahtgestell drapierte. Sie erklärte mir erst die haarigen Einzelheiten. Dann erzählte sie mir ganz viel über die Frau, die das Ding getragen hatte: Wo deren erster Tumor ungefähr gesessen habe und dass sie über 80 sei. Schnell war ich sicher, dass ich die Frau nicht kennen konnte. Daher liess ich Léonie erzählen und mir sogar Bilder der Fremden mit Perücke zeigen – von hinten, man sah ihr Gesicht nicht. Aber ich sah eine vielgliedrige Goldkette an ihrem Hals wie meine Mutter eine hat.

Zwischendurch wurden Léonies Augen etwas feucht. „Weisst Du, sie war eine so liebenswürdige Person! Ich habe sie sehr gern gehabt.“ Ich zweifelte leise an der Eignung von Léonie für den emotional fordernden Job der Perückenvermittlerin. Aber es fehlte nicht viel und ich hätte sie umarmt, um sie über den Verlust ihrer Nachbarin zu trösten.

10 Gedanken zu „Perücke“

  1. Aber eine Perücke hast du immer noch nicht, oder? Und vielleicht ist die junge Frau – gerade wegen ihrer Emotionalität – genau die richtige dafür!

  2. Nein, eine Perücke habe ich noch nicht. Vielleicht will ich auch gar keine, ich habe erst mal immerhin zwei Turbane und einen megaschönen Sonnenhut bestellt. Ich lasse das mal auf mich zukommen. Und, ja: Mit letzterer Bemerkung hast Du durchaus recht. Unsere Geschäftsbeziehung könnte höchstens daran scheitern, dass sie nicht in der Lage ist, mir eine Quittung per E-Mail zu schicken. Ich kann, dem Schweizer Sozialversicherungsrecht sei Dank, eine Perücke von der Versicherung bezahlen lassen. Aber dafür brauche ich eine verwendbare Quittung.

  3. Hast du das alles wieder liebevoll beschrieben! Das ist das, was ich schon immer an dir zu schätzen wusste.
    Du, letztes Mal war bei dir die Mitteilungsfunktion bereits nach wenigen Stunden geschlossen. Ich hätte dir dann noch mailen können, habe aber am Smartphone keine Anschriften gespeichert, und an den PC komme ich nur noch selten. Außerdem wollte ich keine großen Reden schwingen, höchstens, dass ich gehofft hatte, du kämest ohne Chemo davon.
    Diese Turbanmüsterli, findest du diese Farben nicht auch etwas zu dezent? 😉 Das sind eigentlich die Farben, wie sie Muslimas tragen. Ich bin davon überzeugt, dass du dich für etwas kräftigeres entschieden hast. 😏
    Weiterhin alles Gute für dich! Ach, und klar, du schaffst das!👍⚘🧸🌝🌷🙋🏼‍♀️

    1. Hast Du das Bild mit den Turbanmüsterli im Feed gehabt? Das ist ja sehr merkwürdig! Es ergab eine Titel-/Bild-Schere, und ich habe es deshalb ausgewechselt. Jetzt steht da ein Bild von einer Frau mit Perücke. Dass die Kommentarfunktion bei Dir so schnell zugeht, tut mir leid. WordPress halt. Ich habe keine Ahnung, wie die das machen. Danke trotzdem, dass Du die Schwelle überwunden hast! Die beiden Turbane, die ich habe, haben tatsächlich sehr viel kräftigere Farben. Der eine ist dunkelblau, der andere hat pinkfarbene Müsterchen. Mal schauen. Noch befriedigt mich nichts wirklich.

  4. Wir fanden die Perücke meiner Großmutter, als wir die Wohnung räumten. Sie trug diese nie, aber da sie stark an Gewicht verlor, hätte sie damit wohl noch kränklicher gewirkt.

    Hmm, es stimmt; eine Krebsdiagnose trifft Andere nicht wie z.B. Aids. Krebs ist dieses große Übel, welches uns alle durch dessen Medienwirksamkeit über die Berichterstattung in den letzten 40 Jahren verbindet. Ich erlebte das als Kind in den 80ern so; in beinah jeder Nachrichtensendung wurde—gefühlt—von neuen Methoden der Diagnose und Behandlung gesprochen Und jeder kennt jemand oder ist direkt davon betroffen. Vielleicht will man ein Stück Leben »festhalten«?
    Ich halte dich fest.

    1. 🙂 Danke, Hopkins, ich fühle mich gerne von Dir festgehalten! Viele Leute sind tatsächlich sehr offen für das Thema, weil es so viele Betroffene gibt. Ich meine: Wenn eine von zehn Personen in ihrem Leben an Krebs erkrankt, dann ist das eine ganze Menge. Und zum Glück können sie mittlerweile so viel! Bis jetzt hatte ich auch grosses Glück mit meinen Freundinnen und Freunde. Niemand ist vor Schreck gleich davongelaufen, soweit ich es überblicke. Das ist sehr beglückend.

  5. Das stimmt, was Hopkins da meint. Ich habe mich gestern in die Situation von deinem Gegenüber hinein versetzt, und die denken sich wahrscheinlich: Du gehst nicht weg, bleib in meiner Welt!

  6. Der in Weinrot ginge noch. Über den Reader sehe ich die Müsterli nach wie vor, und zwar ganz oben. Auf der Webseite schon auch, aber verkleinert. Die Dame mit der dunklen Perücke erscheint etwas weiter unterhalb. Ich muss ja wegen meiner chronischen Nebenhöhlenentzündung auch Tag und Nacht was auf dem Kopf tragen, und ich liebe Hüte. Strohhüte finde ich besonders cool, aber halt erst wenn es wieder etwas wärmer wird. 👒

  7. Ich verfolge auf Insta eine junge Frau, die an Haarlosigkeit leidet. Sie hat immer tolle Perücken, die wahnsinnig echt aussehen. Ich glaube aber, ich würde es wie du machen und auf andere Kopfbedeckungen ausweichen. Letztlich ist es nur ein temporärer Zustand und wenn vollständige Genesung winkt, dann ist es vielleicht auch besser erträglich 🌸

    1. Ja, da hast Du recht, liebe Milou. Ich behandle das Thema auch so. Noch hat die Chemo nicht begonnen, neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass sie vielleicht doch nicht stattfinden muss. Das wäre dann das Best Case-Szenario.

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