Hier werde ich über einen Roman schreiben, den nur die allerwenigsten von Euch lesen werden – weil er in einer Sprache geschrieben ist, die die nur wenige von Euch beherrschen: Luzerndeutsch. Ich tue es trotzdem, weil die Lektüre für mich geradezu berauschend war (wenn auch vielleicht nicht so, wie sich die Hauptfigur der Geschichte Berauschtheit vorstellt, aber dazu komme ich noch). Der Roman heisst „Provenzhauptschtadt“, der Autor Béla Rothenbühler. Und der Text beginnt so:
„Ech wörd ned met Schwalben aafo, wenn ke Schwalben ome gsi wärid. Aber: De ganz huere Hemel voll Schwalbe. Schwalbebüüch ond Schwalbeschwänz, wo äifach so omesäglid, voll äis metem Wend, Termik total im Körpergfüel.“ (S. 8)
Heisst auf Hochdeutsch: „Ich würde nicht mit Schwalben anfangen, wenn keine Schwalben dagewesen wären. Aber: Der ganze verdammte Himmel voller Schwalben. Schwalbenbäuche und Schwalbenschwänze, die einfach so herumsegeln, voll eins mit dem Wind, Thermik total im Körpergefühl.“ Als ich das las, fühlte ich mich selbst wie eine Schwalbe, die vom kargen Boden des Hochdeutschen ins Element ihrer Muttersprache gewirbelt wird. Ich hörte den Erzähler geradezu labern, sehe ihn gestikulieren in einer Beiz, mit seinen Kollegen. Ich kann das Bier riechen. Mein Leben lang habe ich eine Sprache gesucht, die manche meiner Geschichten erst richtig zum Fliegen bringen könnte. Das wäre diese Sprache.
Ich muss einräumen, dass es dazu auch andere Meinungen gibt. Arno Renggli, der Rezensent der „Luzerner Zeitung“, beurteilte den Dialekt als „echtes Hindernis“ beim Lesen. Nun ja, vielleicht fehlte ihm auch einfach die Bereitschaft, sich der Thermik dieser Sprache anzuvertrauen. Hat man als Muttersprachler diesen Moment des Zögerns hinter sich, ist es ganz einfach. Renggli benannte auch gleich den kommerziellen Haken am Projekt „Luzerndeutscher Roman“: „Eine gute Story ist eine gute Story, was braucht es da das Handicap des Dialekts, das des Autors Absatzchancen ja auch noch geografisch einschränkt?“ (Ausgabe vom 15. Februar 2021). Da hat er freilich recht: Der Markt für Luzerndeutsche Literatur ist wohl winzig.
Aber erzählt „Provenzhauptschtadt“ auch eine gute Story? Nun ja, nicht so richtig. Eigentlich scheitert sie schon an ihrem Titel. Dieser behauptet, dass sich das Buch mit der Provinzialität im Allgemeinen und der Luzernischen Provinzialität im Speziellen auseinandersetzt. Aber der Ich-Erzähler bleibt bei jeder Gelegenheit, sich in dieses Thema zu vertiefen, vollkommen vage. Er bleibt überhaupt bei jedem Thema vollkommen vage. Er behauptet zwar, „Fermepsücholog“ zu sein – also Firmenpsychologe. Da müsste er doch auch ein wenig an Menschen interessiert sein, vielleicht wenigstens an seinen WG-Kollegen, mit denen er nächtelang bechert. Ist er aber nicht. Nicht einmal die Frau, in die er verliebt ist, interessiert ihn so richtig. Vielleicht liegt es daran, dass gerade Sommer ist und Fussball-WM und alle immer ein bisschen betrunken oder bekifft. Oder will die Geschichte uns sagen, dass Provinzmenschen im Allgemeinen vage denken und beziehungsunfähig sind? Das wäre nun ein Vorurteil, dem ich Deutsch und deutlich widersprechen muss.
Der Roman beginnt sommerlich melancholisch und endet mit einem üblen Kater. Er wird wohl keine neue Literaturtradition begründen, und auch ich werde in meinem Blog weiterhin auf dem Boden des Hochdeutschen bleiben, schon wegen Euch Leserinnen und Lesern. Von meinem stillen Kämmerchen aus aber werde ich wohl ab und zu die Schwalben fliegen lassen und ein bisschen mit dieser Sprache experimentieren.
Béla Rothenbühler: „Provenzhauptschtadt“, Verlag Der gesunde Menschenversand, Luzern, 2021
Ohne deine Übersetzung habe ich nicht viel verstanden und ganz ehrlich; es gibt so viele gute Romane in meiner Schriftsprache, da brauche ich sicherlich nicht einen, wo ich dauernd raten muss. Interessant finde ich es dennoch, bringt sicherlich den (oder heißt es das) Lokalkolorit richtig in Szene!
Dafür habe ich volles Verständnis. Du würdest auch nicht fliegen beim Lesen, sondern wahrscheinlich ständig stolpern. Es ging mir mehr darum zu erzählen, wie es sich anfühlt, wenn man seine eigene Sprache als Literatursprache zu ersten Mal liest.
So ging es mir mit Strittmaters „Der Laden“. Obwohl ich weder Sorbisch noch Lausitzer Dialekt spreche, hat mich der hochdeutsche Rest auch „fliegen“ lassen. Da schreibt jemand, wie ich denke… wie mein Hirn vor sich hinschwurbelt. Das war/ ist einfach toll und ist mir auch noch nicht wieder passiert. Mein Mann dagegen kam mit dieser Schreibweise gar nicht zurecht.
Tz… Strittmatter… tz. Ohne deine Übersetzung habe ich fast nichts verstanden.
Ich kann gut nachvollziehen, dass Du sehr wenig verstanden hast. Je weiter weg man von der alemannischen Sprachwelt ist, desto schwieriger wird’s.
Ah, hier kommt der Strittmatter. Danke, Erinnye. Ich musste den Roman googeln, ich kannte ihn nicht. Du kennst also dieses Gefühl eines eigenen Sprachsounds! Aber Schweizerdeutsch und die Sprache der Lausitz sind natürlich weit voneinander entfernt!
Liebe Frau Frogg,
wenn ich Schwyzerdütsch lese, stelle ich mir immer vor, wie Büne Huber sprechen würde. (OK, er spricht Bärndeutsch und kein Luzerner Dialekt.) Aber so verschaffte ich mir Zugang zu der Musik von Patent Ochsner. Ich hörte und las immer wieder die Texte mit.
Ähnlich ist es auch mit dem Österreichischem bzw. dem Wienerischen.
Stichwort „Provinz“: In Österreich herrscht (auch) das Vorurteil, dass Dialekt sprechenden Menschen weniger Bildung zugetraut wird.
Ich habe als Eingewienerte und dank meiner Hörbeeinträchtigung immer wieder Schwierigkeiten, Dialekt zu verstehen. Aber wenn mir etwas zuerst auf Dialekt gesagt wird und anschließend auf Hochdeutsch, kann ich mir die Aussage im Dialekt gut vorstellen.
Manchmal erscheint es mir geradezu irrsinnig, ausgerechnet in ein Land zu gehen, wo die gleiche Sprache anders gesprochen wird, aber wenn ich mir die jungen Leute hier in Wien und Umgebung anhöre, bedaure ich es regelrecht, dass sie die ursprüngliche Sprache nicht mehr sprechen.
Danke, liebe Sori. Schön, dass Du zum Schweizerdeutsch eine Beziehung hast, Büne Huber spricht tatsächlich Berndeutsch, und nach verbreiteter Schweizer Auffassung ist der Unterschied zwischen Schweizerdeutsch und Luzerndeutsch natürlich himmelweit. Aber aus der Distanz von Wien und Erfurt und objektiv betrachtet ist er doch ziemlich klein.
Der Bezug zur Provinzvorstellung in Wien ist sehr interessant. Für mich ist Wienerisch an sich ja eine Variante des Hochdeutschen 🙂
Erinnert mich bissle an Lëtzebuergesch, hab fast alles verstanden
Ja, da gibt es wahrscheinlich viele Ähnlichkeiten, sowohl phonetisch als auch in der Funktion als Alltagssprache. Ich kenne Letzeburgisch allerdings leider überhaupt nicht. Aber ein paar Brocken würde ich wohl schon verstehen. Sprichst Du Letzeburgisch?
Sprechen nein, verstehen ja. Besteht ja praktisch aus den drei Komponenten Deutsch, Französisch und Eifeldialekt; die sind mir komplett vertraut.
🙂 Habe vorhin versucht, ein wenig Letzeburgisch zu lesen, aber es war für mich auch sehr holprig. Es ist wohl so: Je weiter weg der Dialekt, desto schwieriger. Interessant fand ich diesbezüglich Sächsisch, das habe ich sehr gut verstanden (sprechen würde ich natürlich weder Eifeldeutsch noch Sächsisch).
Leider kann ich bei dir nicht im Reader kommentieren, hab ich nach längerer Pause meinerseits grad wieder gemerkt. Trotzdem hatte ich von deiner Erkrankung mitbekommen, die mich wortlos betroffen gemacht hat. Nun hoffe ich, dass die Auseinandersetzung mit anderen Themen hoffentlich Hinweis auf eine möglichst stabile Lage bei dir ist. Das Thema Dialekt-Literatur finde ich sehr interessant, habe mich gerade auch intensiver mit Dialekt beschäftigt. Obwohl ich keinen wirklich spreche, kann ich durchaus seine Qualität, Ästhetik und Funktionalität schätzen. Interessanterweise habe ich von deinem Absatz, als ich ihn mir laut vorgelesen habe, doch das meiste verstanden. Aber freilich wäre die komplette Lektüre eines solchen Textes viel zu anstrengend. Und inhaltlich scheint er dann ja doch auch nicht so wirklich zwingend zu sein, wie du beschreibst. Dennoch vielen Dank für diesen interessanten Einblick und Ausflug. Und natürlich die besten Wünsche für dich!
Danke sehr herzlich, liebe Phoebe, für die guten Wünsche! Ich will ja auch niemanden zwingen, dieses Buch zu lesen. Es hat mich gedrängt, diesen Text zu schreiben, weil Fragen zur literarischen Sprache mich umgetrieben haben. Ich muss vielleicht hinzufügen, dass der Dialekt in der Schweiz eine andere Funktion hat als in Deutschland. Wir sprechen alle im Alltag jederzeit Dialekt, Hochdeutsch ist bei uns fast nur Schriftsprache, und wir verwenden sie mündlich nur im Parlament, teilweise in der Kirche und in der Schule.
Was die Genesung betrifft, so befinde ich mich momentan in einer sehr merkwürdigen Zwischenwelt: Es kann sein, dass es doch ohne Chemotherapie geht. Untersuchungen sind noch im Gang. Derweil habe ich mich von der Operation gut erholt und versuche jetzt, ein normales Leben zu führen. Das gelingt auch teilweise, die Lebensfreude ist jedenfalls zurück.
Kommentare schreiben bei mir, offensichtlich ein schwieriges Thema. Mein Mann müsste sich drum kümmern, und dafür will ich ihn im Moment nicht bemühen. Herzliche Grüsse Dir auf jeden Fall!