Die Ehefrauen von Aberystwyth

Bei bestimmten Gelegenheiten erzähle ich die Geschichte von den Ehefrauen von Aberystwyth: Wie mein einstiger Liebster Konrad und ich dort 1990 hinter einem trostlosen, gelben Strand sassen, links von uns ein Jahrmarkt. Wir liessen zahlreiche Familien an uns vorbeiziehen, die aus einem Markt kamen, die Männer immer mit stattlichen Bäuchen voraus, die Frauen mit etlichen Kindern hinterher. Mit einer Haltung und einem Gesichtsausdruck, als würden sie von ihren Ehemännern an an einer Schnur in der Nase in eine Richtung gezogen, in die sie nicht wollten.

Es sind Beobachtungen aus dem Jahre 1990, die bestimmt mehr über mich aussagen als über die Frauen, die ich beobachtet habe. Sie sind bestimmt heute glückliche Grossmütter und haben Herausforderungen bewältigt, die mir nie begegnet sind. Manchmal erzählte ich die Geschichte heute dennoch als leicht surreale Anekdote über das Strandleben in Grossbritannien. Einmal habe ich sie erzählt, um zu erklären, warum ich nie einen Nasenring tragen würde. Und manchmal wollte ich damit auch einem Mann sagen: Nie will ich wie die Ehefrauen von Aberystwyth werden!

Im Zug habe ich sie auch Herrn T. wieder erzählt, als Vorbereitung auf Aberystwyth. Überhaupt: Auf der ganzen, langen Zugreise von Porthmadog nach Aberystwyth haschte ich nach Erinnerungen an meinen letzten Aufenthalt hier.  Ich wusste noch: Wir mieteten damals in Aberystwyth Fahrräder und fuhren zunächst nach Machynlleth (sprich: Mahanthleth, das hatte uns mein Freund Peter beigebracht, und der war Welsh). Wir hielten dort jedoch gar nicht an, sondern fuhren durch und bogen sogleich in die Passstrasse Richtung Dolgellau (sprich: Dolgethlai) ein. Denn wir wollten noch am selben Abend einen Teil der Steigung bewältigen. In der Abenddämmerung fanden wir ein traumhaft schönes Bed & Breakfast unter Bäumen und übernachteten dort. Allerdings: Es gibt zwei Strassen durch das Hochland zwischen Machynlleth nach Dolgellau. Welche der beiden haben wir wohl genommen? Ich weiss es nicht mehr. Sicher ist: Wir kamen in Dolgellau an. Ich erinnere mich an eine Strassenkreuzung dort, an der wir in einem Café Kuchen assen. Obwohl Kuchen viele Kalorien hat. Aber man mit dem Velo einen Pass überquert hat, darf man das. Doch warum habe ich all die herrlichen Landschaften vergessen, die wir dabei  gesehen haben müssen? Was für eine Energieverschwendung!

Meine Gewisseheiten bekamen erste Risse, als Herr T. und ich in Machynlleth umstiegen (er hat hier davon erzählt). Wir mussten 30 Minuten vor Aberystwyth ¨über eine Stunde auf den nächsten Zug warten. Ich ging kurz im Städtchen spazieren, und da sah ich sie! Die Strassenkreuzung, an der wir Kuchen gegessen hatten! Ich hatte einen richtigen Freudenschauer. Aber Halt! Die Kreuzung von damals war doch in Dolgellau! Wie konnte das sein?! Hatten wir etwa Kuchen gegessen, bevor wir über den Pass fuhren? Das hätte mein jüngeres Ich mir doch niemals erlaubt! Oder irrte ich mich? Glaubte ich nur, dass dies die besagte Strassenkreuzung sei, weil ich mich so sehr danach sehnte, etwas von damals zu sehen?

Im Anschlusszug dämmerte mir dann auch: Ich kann die Ehefrauen von Aberystwyth gar nicht in Aberystwyth gesehen haben. Denn Aberystwyth ist nicht trostlos, sondern stemmt mit grosser Geste eine lange Häuserfront den Naturgewalten entgegen. Und es hat auch keinen gelben Strand, sondern einen grauen und eigentlich keinen Platz für einen Jahrmarkt.

Aberystwyth im Juni 2023. Der Mann mit dem Beret links im Bild ist mein Ehemann, Herr T., und nein, er hat keine Schnur.

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