Im Nebel des Vergessens

Neulich kaufte ich in einer Confiserie ein paar Schöggeli. Ich nahm gerade meine Karte zum Bezahlen aus dem Portmonee, als die Kassiererin zu jemandem hinter mir sagte: „Bitte warten Sie noch einen Moment, ich bin gleich bei Ihnen.“ Ich zahlte, drehte mich um und sah hinter mir eine alte Frau mit wirrem Haar. Sie hatte ein Vollkornbrötchen schon halb verschlungen und riss mit den Zähnen gerade ein weiteres Stück Krume ab. Ein verstörender Anblick – weil die Frau so gierig ass und auch, weil sie gegen drei Regeln des Verhaltens im Laden einer europäischen Stadt verstiess: Man hält sich dort nach Möglichkeit frisiert auf. Wenn man etwas zu Essen kauft, bezahlt man, bevor man isst. Man schlingt unter den Blicken anderer nicht gierig Dinge in sich hinein. Die Frau sah nicht aus, als wäre sie soeben aus einem Land mit komplett anderen Regeln in unsere Stadt gekommen. War sie derart hungrig? War sie dement? Hatte sie einfach vergessen, wie man sich im Laden benimmt? Ich vermutete letzteres. Sie tat mir leid, aber ich sah nur eine Handlungsmöglichkeit: aus dem Weg gehen und sie ihr Brötchen bezahlen lassen.

Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich, 1818 – wenn wir älter werden, versinkt die Welt immer mehr im Nebel. Da fragen wir uns manchmal, ob wir noch über der Sache stehen. (Quelle: Wikipedia).

Ich habe in letzter Zeit beruflich viel mit älteren Menschen zu tun. Viele der Kundinnen und Kunden, die bei mir schriftlich ihre Meinung zum Tagesgeschehen deponieren, sind über 80. Einige beliefern mich seit einem Jahrzehnt oder mehr. Ich kann aus der nachlassenden Kohärenz ihrer Texte, aus ihren Wiederholungen ablesen, wie bei vielen die geistigen Kräfte nachlassen. Auch im Familienleben: mehr alte Leute, bei denen die immer gleichen, alten Ängste und Kümmernisse aus dem Nebel des Vergessens ragen. Ich frage mich oft, ob das bei mir jetzt auch anfängt.  Zum Beispiel dann, wenn ich nachts nicht schlafen kann und mich wieder mal eine unerklärliche Wut auf jemanden packt, der mich – so sehe ich das um fünf Uhr morgens – irgendwann in meinem Leben gekränkt hat. Als ich jung war, war Erinnerung für mich vieles: Identität, Nostalgie, Verbindung mit meiner Grossmutter. Als ich  fünfzig geworden war, zählte Erinnerung für mich ein Jahrzehnt lang gar nicht. Die Welt veränderte sich schnell, und nur zu gerne liess ich manche Dinge im Nebel des Vergessens ruhen. Jetzt tauchen zwischendurch Geschichten aus meinem Leben wieder auf, die es wert sind, von der Sonne des neuen Tages neu beleuchtet zu werden. Deshalb habe ich hier eine neue Kategorie erstellt: die Nebel des Vergessens.

6 Gedanken zu „Im Nebel des Vergessens“

    1. Ich glaube, das kennen die meisten von uns – manchmal machen dann die gerade aktuellen Sorgen einen Dreh in der Waschmaschine unseres Gehirns. Neu kommt bei mir unerklärliche Wut hinzu. Das hat auch mit einem Schilddrüsenleiden zu tun, das ich leider Gottes habe, das sich aber wohl bald beheben lässt.

  1. Ich wünsche es Dir.
    (Jetzt muss ich hier nochmal meine Daten eingeben, obwohl ich schon einmal kommentiert habe und Du auf meinen Kommentar geantwortet hast? Hab bitte Verständnis, wenn ich dann nichts mehr schreibe, falls Du hierauf noch was antwortest.)
    Ich wünsche Dir einen schönen Sonntag!

    1. Danke Dir, werter Schreibmann! Dass WordPress so ein schlechtes Gedächtnis für Mehrfach-Kommentatoren hat, dünkt mich auch etwas seltsam. Falls Du einen Trick kennt, der da hilft, bitte doch noch einmal kommentieren 🙂

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