Haarsträubende Geschichten über Schweizer Uhren

Heute ist Nationalfeiertag in der Schweiz. Doch anstatt ein bisschen über unseren nationalen Zusammenhalt zu faseln, um den es nicht zum Besten bestellt ist, erzähle ich lieber vom Besuch unserer Nachbarn, den Kaufmanns. Es war ein charmantes Treffen zwischen sehr unterschiedlichen Haushalten. Während wir unter der Regie von Herrn T. zu Klimaaktivisten geworden sind, legt Herr K. als Handelsmann jährlich 60000 Kilometer mit dem Auto zurück.

Als wir von unseren Ferien im Jura erzählten, leuchteten Herrn K.s Augen. Ich schilderte die geschichtsträchtige Heimat der Schweizer Uhrenindustrie als sanft dem Verfall anheimgegebene, wildromantische Landschaft. „Da macht man sich natürlich ganz falsche Vorstellungen“, sagte Herr K., nennen wir ihn Toni. „Wisst ihr, da gibt es in der Nähe einer dieser Hochlandseen, äh, der Name fällt mir grad nicht ein… also, da gibt es eine alte Scheune. Die ist so baufällig, wenn Du die siehst, dann denkst Du, sie fällt gleich auseinander. Aber sobald Du drin bist, ist alles topmodern und total Hochglanz. Und in dieser Scheune sitzen sechs Leute, und jeder von denen arbeitet an einer einzigen Hochpräzisionsuhr. Von diesen sechs Leuten baut jeder nur eine einzige Uhr im Jahr. Und die kostet dann eine Million Franken. Aber diese Uhren sind so begehrt, dass die Firma 38 Kunden auf der Warteliste hat. Stell Dir mal vor, wie lange man da auf eine Uhr warten muss!“

„Sechs Jahre!“ sagte Herr T.

„Jaaa, da gab es natürlich Leute, die sagten: ‚Ich zahle Ihnen zwei Millionen, wenn es schneller geht.'“, fährt Toni weiter. „Aber die Firmenleitung winkt ab: ‚Nein, das machen wir aus Prinzip nicht‘, sagen die.“

Wahr oder gut erfunden? Jedenfalls irgendwie haarsträubend. Deshalb habe ich ein bisschen herumgegoogelt. Auf die Schnelle habe ich keine Firma gefunden, auf die Tonis Beschreibung zehntelsmillimetergenau passt. Aber in Frage kommt zum Beispiel Greubel Forsay in der Nähe von La Chaux-de-Fonds. Da parkiert man beim Firmenbesuch in der Tat direkt neben einem Bauernhaus – wenige Meter weiter gibt’s dann aber gut sichtbar eine filigrane, moderne Fabrikationshalle mitsamt Schafweide auf dem Dach.

Millionenteuer sind auch gewisse Armbanduhren der Marke Richard Mille, mit der sich Tennis-Star Rafael Nadal gerne schmückt. Richard Mille haben ihren Sitz in Les Breuleux – einem Kaff, das ich meiner Mutter in einer Whatsapp als „etwas traurig und heruntergekommen“ geschildert habe: „Beim Bahnhof geschlossene Läden und bröckelnde, mit Brettern notdürftig zusammengehaltene Hausfassaden.“ Vielleicht ist das welsches Laissez-faire. Und vielleicht kommt von Rafael Nadals Millionen einfach nicht sehr viel bei den Bewohnerinnen von Les Breuleux an.

Sieben Ferienhighlights aus der Nordwestschweiz

Creuxduvan

Am Sonntag bin ich von unserer dreiwöchigen Reise aus der Nordwestschweiz zurückgekommen. Als Tourismusgebiet ist diese Gegend weniger populär als etwa das Tessin oder das Engadin. Sie ist meist wild und entlegen, und so machten wir dort eine eine oft abenteuerliche Entdeckungsreise. Offizielle Top-Sehenswürdigkeit ist der Creux du Van – völlig zu Recht (siehe Bild oben, von 2019). Der riesige Felsabbruch im Val de Travers wird auch Grand Canyon der Schweiz genannt und ist spektakulär. Aber in diesem Beitrag geht es nicht um Top-Sehenswürdigkeiten. Das hier ist meine persönliche Liebeserklärung an die Jura-Dreiseen-Region 2021:

Tariche 1) Tariche ist ein kleiner Campingplatz verborgen im engen Tal des Doubs, mitten in einem Naturschutzgebiet. Hier ist es vor allem eins: grün. Man kann hier stundenlang einfach sitzen, die Bäume und den Fluss anschauen und den Vögeln zuhören. Ein Paradies, jedenfalls bei Sonnenschein. Das nächste Städtchen ist zwei Stunden Fussmarsch entfernt, der Wanderweg dorthin ist traumhaft schön. Bus gibt es keinen, nur eine einspurige Strasse für Autos. Dafür aber das vielleicht abenteuerlichste öffentliche Verkehrsmittel der Schweiz: eine etwas morsch gewordene Fähre, die man selbst bedienen muss (siehe Bild).

st. ursanne2) Das zwei Stunden Fussmarsch von Tariche entfernte Städtchen heisst St. Ursanne und ist bezaubernd. Der Stadtkern – und viel mehr ist dort nicht – stammt aus dem Mittelalter. Besonders sehenswert: die teils 1000-jährige Kirche im Zentrum. Rundum fast nur bewaldete Jurafelsen, Frankreich ist nah. An einem heissen Sommermittag hat der Hauptplatz (Bild) den trägen Charme einer französischen Provinzstadt in einem alten Film. Nur vor dem Coop herrscht Betrieb. Dort treffen sich die Jurawanderer und -Velofahrer zum Provianteinkauf und besprechen ihre Pläne.

3) Südlich von St. Ursanne liegen die Freiberge, eine Hochebene mit Weiden und Wäldern. Wir erreichten sie auf dem Chemin de fer du Jura, zu Deutsch, der Jura-Eisenbahn. Dass es in dieser dünn besiedelten Region einen Zug gibt, dazu noch einen mit Taktfahrplan, scheint wie ein Wunder. Gemütlich zieht das rote Gefährt durch die Landschaft, dann und wann taucht ein Haus oder ein Dorf auf, dann gibt’s einen Halt – meistens nur auf Verlangen.

4) Wandern in den Freibergen ist etwas für Leute wie mich, die nicht das Gipfelerlebnis suchen, sondern einfach in wunderbare Landschaften eintauchen möchten. Klar, auch hier kann Spektakuläres tun: bei Biaufond über steile Leitern zum Doubs hinuntersteigen. Oder den Etang de la Gruère umrunden, einen idyllischen See im Torfmoor. Man kann auch einfach über die Hügel spazieren, hier eine Pferdeweide betrachten, da einen Wald oder eine Doline, dann ein paar Windräder. Meist erreicht man irgendwann ein Restaurant, zum Beispiel La Combe à la Biche nahe beim Mont Soleil (ländlich) oder das Hôtel du Soleil in Le Noirmont (gehoben). Rückreise dann auf dem Chemin de fer du Jura.

5) Als ich die Stadt La Chaux-de-Fonds vor vielen Jahren zum ersten Mal sah, hat sie mich mit ihrer streng rechtwinklingen Anlage und ihren grauen Fassaden zugleich fasziniert und ein wenig geängstigt. Geblieben ist die Faszination für die Uhrmachermetropole auf 1000 Metern über Meer. Das Stadtbild ist einzigartig. Es gibt dort grosse Werkstätten und gleich nebenan Wohnraum von guter Qualität (wie oben im Bild, links die Fabrik). Heute gehört die Stadt deshalb zum Unesco-Welterbe. Es gibt tolle Architektur-Stadtspaziergänge und ein Uhrmachermuseum, das zugleich Wertschätzung für das Uhrhandwerk und Interesse am Phänomen Zeit weckt. Gleichzeitig wirkt die Stadt stellenweise aus der Zeit gefallen – denn die Uhrenfabriken stehen jetzt ausserhalb, und was soll man mit diesen erhaltenswerten, aber zu klein gewordenen Fabrikgebäuden tun?

6) Die Stadt Neuchâtel sähe wegen ihrer gelblichen Farbe („jaunâtre“) aus, als sei sie aus Butter geschnitzt, sagte Alexandre Dumas der Ältere etwas verächtlich. Im 19. Jahrhundert war Butter wohl noch sehr viel gelber als heute. Heute wirkt der safrangelbe Sandstein, aus dem die Stadt tatsächlich gebaut ist, sehr attraktiv. Ausserdem hat Neuchâtel ein tolles Schloss auf einem Hügel – ein gediegener Arbeitsort für die Angestellten der Kantonalen Verwaltung, die dort ihrem Tagewerk nachgehen. Und es gibt in „Nöösch“ (so wird die Stadt umgangssprachlich genannt) eine der attraktivsten und längsten Seepromenaden der Schweiz. Wer dorthin geht, sollte unbedingt im Hotel Touring au Lac logieren: ein Dreisternehaus an bester Lage, zahlbar und sympathisch.

7) Das Schloss Grandson ist eine Ikone der Schweizer Geschichte. Hier fochten die Eidgenossen 1476 die erste von drei Schlachten gegen den übergriffig gewordenen Karl den Kühnen und seine Burgunder. Der Spruch, den wir dazu in der Schule gelernt haben: „In Grandson verlor Karl das Gut, in Murten den Mut und in Nancy das Blut.“ Tatsächlich sind im Schloss Teile des Burgunderschatzes ausgestellt, die die Schweizer damals erbeutet haben, darunter ein goldener Hut. Hier erfochten sich die Eidgenossen auch Anerkennung als eine Art Staatswesen mitten in Europa und einen nationalen Mythos, der die Jahrhunderte überdauerte. Das Schloss ist öffentlich zugänglich, heute aber im Besitz einer Immobilienhändler-Familie. Alle Schlossherren haben sich bemüht, die mittelalterliche Atmosphäre und den heroischen Charakter des Gemäuers zu unterstreichen.

Frühling in Terrassien


Das Café in unserem Erdgeschoss heute Vormittag. Gegen Abend wird hier Hochbetrieb herrschen.

Zu den Glückseligkeiten unserer relativ neuen Wohnlage gehört das Café im Erdgeschoss. Als ich am Freitagabend von der Arbeit kam, fand ich dort an einem Tischchen auf dem Vorplatz schon den Buddha und den Doppelbuddha beim Bier. Ich nenne die beiden so, weil das Freitagabendbier mit den beiden, wenn es denn stattfindet, stets ein erheiterndes Ritual ist. Der Buddha hat ein pfiffiges Lächeln und viele Geheimnisse, von denen er selten eines preisgibt. Der Doppelbuddha hat ein warmes Grinsen, eine kräftige Stimme und treibt die Konversation voran, die nirgends hinführen muss, aber immer wieder von Gelächter unterbrochen wird.

Ja, ihr habt das richtig mitbekommen: Bei uns in der Schweiz sind die Gaststätten offen. Oder jedenfalls die Gaststätten-Terrassen, die Gartenrestaurants, die Tischchen auf den Vorplätzen. Ich fühle mich sonst nicht wohl in Restaurants, meistens kann ich den Gesprächen an einem Vierertisch nicht so recht folgen, und das verunsichert mich. Aber im Moment geht von diesen geöffneten Terrassen eine ungeheure Anziehungskraft aus. Ich würde mich bei diesem frühlingshaften Wetter wie der einsamste Mensch auf der Welt fühlen, wenn ich nicht irgendwann alle warnenden Stimmen in den lauen Frühlingswind schlagen und mich wenigstens für ein Stündchen auch in dieses Gartenbeizengetümmel stürzen könnte.

Ich habe die beiden Buddhas seit längerer Zeit nicht gesehen, und mich dünkt, der Doppelbuddha habe heute eine ungesund ins Bläuliche spielende Gesichtsfarbe. Seine kleine Firma hat in der Krise des letzten Jahres gelitten. Seine Partnerin arbeitet im Tourismus, und der Tourismus liegt bei uns seit bald 14 Monaten im Koma. Normalität wird hier – noch – mit Bundesgeldern aufrechterhalten. Wir sind ernster als sonst, trinken, diskutieren.

Und doch. Dieses eine Stündchen fühlt sich an wie richtiger Frühling.