Ferien im Vereinigten Königreich

Abend am Pier von Llandudno, Wales

Gestern Abend sind Herr T. und ich aus unseren dreiwöchigen Ferien in England und Wales zurückgekommen. Von Anfang an war diese Reise von einer eigenartigen Wehmut durchtränkt. Sie lässt sich schwer mit zehn effektvollen Highlights feiern, sie braucht Stimmungsbilder.

Sie braucht das Meer, immer wieder das Meer. Stundenlang haben wir an den Stränden von Wales die Gezeiten beobachtet. Wir haben zugeschaut, wie es an einem Sommerabend vor einem Pub am Strait of Menai langsam Ebbe wurde. Im Lokal stieg der Alkoholpegel, junge Männer vergnügten sich auf Gaelisch. Draussen sank der Wasserspiegel und legte nach und nach Kiesbuckel frei. Zwischen ihnen stelzten Vögel und suchten mit langen Schnäbeln nach Futter.

Sie braucht die Gespräche mit unseren Freunden, den Hooligans. Wir kamen bei ihnen an, in der Nähe von Peterborough, und waren noch voll von diesem unwirklichen Gefühl, das man nach einer neunstündigen Zugreise in ein fremdes Land hat. Wir setzten uns an ihren Tisch, gefasst auf ein Stündchen leichte Konversation. Aber Diamond Eye kam sofort zu Sache. Sie hat eine schreckliche Geschichte mit ihrer Familie durchgemacht und war vor Entsetzen dem Tod nahe gewesen. Sie musste alles erzählen. Sie ist über 70. Einst schien sie mir vor Kraft und Fröhlichkeit zu strotzen, ihr einige Jahre jüngerer Ehemann Eagle Nose erst recht. Aber beide sind gezeichnet von schlechten Zeiten und schlechten Nachrichten. So seltsam es klingt: Ich hätte nie gedacht, dass sie älter werden könnten. Bei Menschen, die oft sieht, merkt man das nicht so. Aber Freunde, die man acht Jahre lang nicht getroffen hat, halten einem den Spiegel hin. Auch wir sind älter geworden.

Sie braucht die Unruhe des Lebens aus der Reisetasche. Alle zwei Tage morgens abreisen und am Nachmittag ankommen in einer neuen Stadt, einem neuen Zimmer. Fremdeln. In einigen Städten in Wales vor den verlassenen, öden Ladenstrassen mitten im Zentrum erschrecken. Die schwierige ökonomische Lage, hatte uns Eagle Nose gewarnt. Ungetröstet einschlafen und am Morgen einen Ort suchen, an dem wir uns wohlfühlten. Hier ein bunt angemaltes Café mit gutem Cappuccino oder auch nur ein Billardtisch in einem Pub. Dort ein verborgener botanischer Garten am Stadtrand. Oder der Strand. Den Menschen dankbar sein, die sich hier in Würde eingerichtet haben, uns anlächeln und uns fragen, wo wir herkommen. Weiterreisen.

Sie braucht die Wachheit, mit der ich in den ersten Tagen alles sah und registrierte und innerlich beschrieb. Und dann, nach zehn Tagen dieses Gefühl, vom vielen Reisen glattgeschliffen und stumm zu sein und mitgerissen zu werden wie ein Kiesel im Fluss.

Sie braucht die pralle Dynamik von London, die Fleischigkeit dieser Stadt, ihre Gier und ihre Lebensfreude.

Sie braucht das verschmitzte Lächeln meines Patensohns Tim, seine ruhige, abwägende Art. Und sie braucht die liebenswürdige und sehr hilfreiche Wohlorganisiertheit seiner grossen Schwester Mina.

Sie braucht eine Anekdote zum Schluss. Ich stehe in Greenwich, London, vor einem Kaffeestand. Es ist ein strahlender Tag, 30 Grad. Die Betreiberin des Standes ist kurz weg, aber ein Sicherheitsmann bewacht ihn. Ich warte. Wir stehen da und betrachten die Mineralwasserfläschchen auf dem Tresen. „Sind die aus Glas oder aus Plastik?“ frage ich. „Made of glass“, sagt der Sicherheitsmann, „the water must be quite warm by now. You could probably make a cup of tea with it.“

9 Gedanken zu „Ferien im Vereinigten Königreich“

  1. Da würde ich gern noch mehr lesen! Vielen Dank für diese Zusammenstellung 🙂
    Das war aber noch nicht der Trip mit dem Patenkind oder?
    Welche Städte waren bei euch so geisterhaft? Ich hab da von 2016 auch noch ein paar Zombie -Erinnerungen neben viel Schönem 🙂

    1. Doch, das war der Trip mit dem Patenkind. Vielleicht bekommen er und seine Schwester in diesem Beitrag ein bisschen zu wenig Aufmerksamkeit. Das liegt daran, dass ich zögere, unsere Erlebnisse der Leserschaft preiszugeben. Weil ich noch Schwierigkeiten habe, das alles in Worte zu fassen. Und weil ich Ihnen doch etwas mehr Privatheit gönnen möchte als meinen ganz erwachsenen Freunden…

      Aber ich werde mehr erzählen, ich denke noch über die geeignete Form nach, doch Du hast recht: Unsere verschiedenen Aufenthaltsorte gehören gewürdigt, jeder auf seine Art.

  2. Fast ein Gedicht dieser Eintrag… wie eine literarische Welle, die einen direkt packt und dann sanft mit sich nimmt, die Küste entlang, durch die Zeit. Ich würde gerne mehr genau dieser Art lesen… suche gerade die passende Ferienlektüre für meinen Urlaub in der Natur und der Stille. Liebe Grüße von zora

    1. Danke Dir, Zora, das ist grosses Lob von dazu qualifizierter Seite. Ich habe lange Jahre gezögert, auf diese Art zu schreiben. Aber vielleicht kann ich es ja doch.

      Ich denke gerade über geeignete Lektüre für Deinen Urlaub nach. Ich selbst habe bei der Reise nach Wales ein paarmal an W. G. Sebalds „Austerlitz“ gedacht (den Du aber wahrscheinlich gelesen hast). Oder Byung-Chul Han: „Vita conteplativa“ vielleicht? Der Autor nimmt ausdrücklichen Bezug auf Hannah Arendts „Vita activa“.

  3. Ups, ich bin aber doch keine qualifizierte Seite, nur jemand mit, so wird mir nachgesagt, einem ganz guten Sprachgefühl 😉

    Wieso hast du lange gezögert, auf diese Art zu schreiben? (Zu nahbar…? Mein erster Gedanke.)

    „Austerlitz“ hätte gepasst; schade, dass ich es schon gelesen habe und mich auch noch ziemlich gut daran erinnern – was längst nicht bei allen Büchern der Fall ist 😉

    Ich habe vorhin tatsächlich zufällig ein vielversprechendes in einem öffentlichen Bücherschrank (ich liebe sie) gefunden: von Olga Tokarczuk, Unrast. Klingt danach, als könnte es das richtige Buch für den Augenblick sein. Kennst du es?

    1. Oh, entschuldige, „qualifiziert“ ist vielleicht tatsächlich missverständlich. Ich finde Dich „qualifiziert“, weil Du es eben genau schaffst, Dein Lebensgefühl in ihrer ganzen Gedrängtheit (bedingt durch die tägliche Hektik mit Kindern und Arbeit) und in einem poetischen Stil herüberzubringen. Es gab schon Momente, wo ich gedacht habe: Ich wollte, ich könnte das so wie Du.

      Warum ich es bis jetzt nicht getan habe? Nicht unbedingt wegen der Nahbarkeit, man entblösst ja seine Seele hier die ganze Zeit. Eher, weil ich gedacht habe: Diese Gefühlsduselei will doch von mir niemand lesen! Es braucht Fakten, einen Anknüpfungspunkt oder quasi einen Serviceteil (Reisetipps!). Blöde Prägung durch den Journalismus!

      1. Gefühlsduselei lese ich da gar keine; es ist nur ein anderer Schwerpunkt, den du bei der Reise setzt… irgendwie auf den Rahmen, das, was jedem von jeder Reise so vertraut ist, das aber weniger oft so im Mittelpunkt steht. Also mehr eine Beschreibung der Tüte als des Inhalts, andere Fakten eben 😉 Und dann natürlich stilistisch vom Feinsten…

        Dein Kompliment hat mich sehr berührt, vor allem, weil es von dir kommt… goldene Wortkapseln im Alltag, die freuen und gut tun – Danke 🙂
        Aber warte ab, mein nächster Eintrag, den ich schon vor Wochen geschrieben haben wollte, wird sicher wenig poetisch… liebe Grüße

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert