Warum ich so viel über Wales schreibe

Auf Strandspaziergang in der Nähe von Deganwy, North Wales.

Die einen oder anderen von Euch werden sich gefragt haben: Warum widmet Frau Frogg den Erinnerungen an ihre Reise nach Grossbritannien so viel Zeit? Die Fahrt durch Wales liegt doch schon mehr als einen Monat zurück. Nun ja, es gibt oberflächliche Antworten: Ich hatte letzte Woche eine kleine Operation im Spital, eine Frauensache. Ich bin noch krankgeschrieben und habe Zeit. Und: die Macht der Gewohnheit. Früher habe ich ausführlich über unsere Reisen gebloggt. Mein Türkei-Epos im Jahre 2008 etwa zog sich über mehrere Monate hin. Doch diese Sache geht tiefer. In den letzten Tagen sass ich oft da und bloggte und dachte: Das hier ist das einzige, was ich im Moment überhaupt tun will. Ich will nicht einmal Besuch. Ich will nur schreiben. Es gibt mir dasselbe Gefühl, wie wenn ich an einem müssigen Nachmittag meine Schubladen aufräume – ein Gefühl der Ruhe, der Ordnung und eines warmen, heiteren Lichts in den Zimmern meiner Seele.

Als wir abreisten, glaubte ich, die Reise ins Vereinigte Königreich würde vor allem eine Reise für die Zukunft. Für meinen Gottenbuben Tim, dem ich mein Bestes für seinen ersten London-Aufenthalt geben wollte. Es war Herr T., der das Reiseziel Wales für die beiden anderen Ferienwochen wählte. Ich mischte mich kaum in die Planung ein, denn ich hatte die Destination Grossbritannien durchgesetzt. Jetzt sollte er sein Ding haben. Ich hatte ohnehin Zweifel, ob ich das Vereinigten Königreich immer noch mögen würde (siehe auch hier).

Erst nach und nach wurde mir klar: So viel von meiner Vergangenheit liegt in diesem Land! Ständig fand ich unterwegs Bruchstücke eines jüngeren Ichs wie Muscheln und Schieferstücke am Strand. Splitter meiner selbst von vor den Hörstürzen von 2009, vor dem Heute, heute und wieder heute bei der Zeitung. Bruchstücke eines Ichs vor der Pandemie und vor der Krebstherapie vom letzten Jahr. Ich könnte meine Reise-Erinnerungen jetzt auch einfach in eine Kiste schmeissen. Aber etwas in mir sagt: Du brauchst sie jetzt einfach. Jetzt poliere ich diese Sachen und stelle sie an den richtigen Ort in den Zimmern meiner Seele.

Vielleicht wäre es vernünftiger, ein paar real existierende Schubladen aufzuräumen. Ich weiss auch nicht, wie lange ich auf das hier noch Lust habe. Und viele von Euch werden das alles sowieso für wertlosen Krimskrams halten. Egal, es hilft mir, diese Dinge wenigstens annähernd präsentabel zu machen. Ich poliere sie weiter und stelle sie Euch hin.

 

Regentag in Caernarfon

Wir stiegen hoch in unser Zimmer im Dachgeschoss des Hotels in Caernarfon. Ich dachte: „Nun ja, das Gute an einer ausgebrannten Hotelküche ist, dass sie wahrscheinlich kein zweites Mal ausbrennen wird.“ Dann legten wir uns ins Bett und ich zog die Decke über den Kopf. „Hier ist meine Insel, hier fühle ich mich sicher“, sagte ich mir. Dann schlief ich ein. Am nächsten Morgen hatte Regen den Möwenkot an unserem Fenster beinahe abgewaschen. Und ich hatte begriffen, dass es auf dieser Reise an den raueren Orten nur eins gibt: Inseln der Geborgenheit suchen; das Schöne finden. Und ich muss jetzt auch einfach sagen: Wir haben immer wieder freundliche Leute getroffen, die uns dabei geholfen haben. Ich habe sie umso mehr schätzen gelernt.

Wir fanden: Das Caffi Maes, auf dem Schlossplatz, wo uns eine junge Frau mit regenbogenfarbig geschminkten Augen das Frühstück servierte – es war Pride Month. Dort lernten wir unsere erste kymrische Vokabel: „Caffi“ heisst Café.

Wir fanden einen tollen Spazierweg entlang der Meerenge von Menai, auf einem ehemaligen Eisenbahngleis, den Lôn Las Menai.

Herr T. beim Spazieren auf dem Lôn Las Menai in verwunschenen Wäldern.

Die Meerenge ist auf dem Bild oben gerade nicht zu sehen. Sie ist auch nicht sehr fotogen, es handelt sich einfach um einen breiten Meerwasserstreifen, der Nordwales und die Insel Anglesey trennt. Aber für uns zwei Binnenländer war sie ein faszinierendes Gewässer, wir sammelten dort Muscheln und Schiefersteine. Der Weg ist teils von regenwaldartigem Gehölz umwuchert, so dicht und dunkel wie ich es noch selten gesehen habe. Als dann wieder Regen einsetzte, waren wir an einem kleinen Hafen namens Y Felinheli angelangt. Dort fanden wir schnell eine Bushaltestelle mit Wind- und Wetterschutz, und innert zehn Minuten fand uns ein Bus.

Das walisische Wappentier.

In der sehr charmanten Altstadt von Caernarfon, an der Palace Street, fand ich einen ausgezeichneten Buchladen, Palas Print, mit einer englischen und einer grossen walisischen Abteilung. Ich verbrachte dort fast eine Stunde und musste am Schluss schwierige Entscheidungen treffen, denn der Platz in meiner Reisetasche war beschränkt. Ich fand ausserdem einen Souvenirladen, der mir eine Teetasse mit dem walisischen Wappentier verkaufte, einem roten Drachen, in den ich mich ein wenig verguckt hatte. Er ist ein Symbol für den Unabhängigkeitswillen der Menschen in Wales.

Mein Lieblingsplatz aber wurde die Stelle, wo der River Seiont in die Meerenge mündet. Dort trennt eine Fussgänger-Drehbrücke aus dem Industriezeitalter den Hafen vom Meer. Manchmal schrillt auf der Brücke der Alarm, alle müssen sie verlassen, und sie quietscht und knarzt und öffnet sich. Dann zieht ein halbes Dutzend Segelboote in Gänseformation hintereinander ins Meer. Sie liegen schon im Hafen in Wartestellung, bei Ebbe auf ihren Keilen im Schlick.

Die Brücke über den River Seiunt, geöffnet.

Gegenüber steht das Schloss, erbaut vom König Edward I. und auch Aufenthaltsort der Königin Eleanor, der ich anderswo schon einen Beitrag gewidmet habe. Hier brachte sie den ersten englischen Prince of Wales zur Welt, den späteren Edward II. Die Ausstellung über sie im Schloss hebt hervor, dass Eleanor 19 Kinder zur Welt brachte, von denen nur sechs sie überlebten. Seither weiss ich, weshalb die Gebärerin unter den Bienen „Königin“ heisst.

Als wir am nächsten Tag Richtung Süden aufbrachen, stellte ich überrascht fest: Die Stadt ist mir ein bisschen ans Herz gewachsen.

Das Herz von England

    Die Kathedrale und Altstadt von Lincoln im Juni 2023

Das Herz von England liegt nicht in London. In London liegt das Hirn, liegen einige der wichtigsten Muskeln von England. Aber das Herz von England liegt in kleineren Städten, zum Beispiel in Lincoln, ungefähr in der Mitte zwischen London und Newcastle.  Wenn man im Herzen von England angelangt ist, sieht man das am Stadtbild. Meistens gibt es in solchen Städten eine Kathedrale und eine Burg oder wenigstens einen stolzen Landsitz. Es gibt Fachwerkhäuser, Pubs mit Butzenscheiben, Kopfsteinpflaster und sehr rote Postgebäude. Es gibt einen Fluss, in dem Trauerweiden ihre Äste baden und tief liegende Wolken. Es gibt Cafés, in denen man Dinge wie Cheddarkäse auf Früchtebrot, Scones mit sehr dicker Sahne oder Cheesecake essen kann. Es gibt ein sorgfältig gepflegtes Geschichtsbewusstsein.

Das sehr rote Postgebäude in der Altstadt von Lincoln.

Lincoln war im Mittelalter dank florierendem Export von Wolle eine reiche Stadt. Ab 1027 baute man eine Kathedrale, heute ein atemberaubender Anblick, aussen und innen. Die Hooligans hatten uns hergebracht, sie verwöhnten uns mit diesem Ausflug, wir genossen jede Minute. Die Altstadt ist richtig schnuckelig, mit verwinkelten Gässchen und hübschen Läden. Belebt, aber nicht überlaufen. „Ihr hättet das alles vor der Pandemie sehen sollen!“ sagte Diamond Eye. „Es waren so viele Leute in den Gassen, dass es  ein Fussgängerleitsystem gab. Links ging man hoch, rechts kam man herunter.“ War ich froh, dass wir nach der Pandemie gekommen waren!

Es gibt in Lincoln auch eine Burg mit Museum. Dort ist eine der vier ersten Abschriften der Magna Charta von 1215 zu sehen (was das für ein Dokument ist, ist hier einfach erklärt). Es wird auch im Museum selbst gut erklärt, weshalb dieses Dokument so bedeutsam ist, für die Rechtsordnung sehr vieler Staaten. Museumsdidaktisch sind sie im Vereinigten Königreich top. Da starrt man nicht einfach ehrfürchtig ein tintiges Stück Pergament in einer Vitrine an. Da gibt es immer auch kleine, gut verständlich geschriebene Texttäfelchen (ideal für Schwerhörige). Auf so einem Täfelchen stand, dass die Magna Charta der Anfang der Gleichheit aller vor dem Gesetz war.

Wir streiften weiter durch das Herz von England und stellten abseits der meistbegangenen Fussgängerpassagen fest: seine Kranzgefässe kränkeln ein bisschen. Am Rande der Altstadt und an den Ausfallstrassen: auffallend viele geschlossene Ladenlokale, die Schaufenster oft mit Brettern vernagelt. Auch in respektablen, gut erhaltenen Bauten. Herr T. erkundigte sich bei Eagle Nose nach den Gründen. Dieser gab sich wortkarg: „Ungünstiges ökonomisches Klima.“ Aber aus seinen Briefen weiss ich: Er denkt, dass es nicht zuletzt am Brexit liegt. Und er denkt, dass der Brexit mehr ist als ein kleiner Konjunkturknick, ein Klacks angesichts von Hunderten Jahren Geschichte. „Mir tun die jungen Leute leid, von denen so viele jetzt um ihre Zukunft betrogen werden“, hat er einmal geschrieben.

 

Ferien im Vereinigten Königreich

Abend am Pier von Llandudno, Wales

Gestern Abend sind Herr T. und ich aus unseren dreiwöchigen Ferien in England und Wales zurückgekommen. Von Anfang an war diese Reise von einer eigenartigen Wehmut durchtränkt. Sie lässt sich schwer mit zehn effektvollen Highlights feiern, sie braucht Stimmungsbilder.

Sie braucht das Meer, immer wieder das Meer. Stundenlang haben wir an den Stränden von Wales die Gezeiten beobachtet. Wir haben zugeschaut, wie es an einem Sommerabend vor einem Pub am Strait of Menai langsam Ebbe wurde. Im Lokal stieg der Alkoholpegel, junge Männer vergnügten sich auf Gaelisch. Draussen sank der Wasserspiegel und legte nach und nach Kiesbuckel frei. Zwischen ihnen stelzten Vögel und suchten mit langen Schnäbeln nach Futter.

Sie braucht die Gespräche mit unseren Freunden, den Hooligans. Wir kamen bei ihnen an, in der Nähe von Peterborough, und waren noch voll von diesem unwirklichen Gefühl, das man nach einer neunstündigen Zugreise in ein fremdes Land hat. Wir setzten uns an ihren Tisch, gefasst auf ein Stündchen leichte Konversation. Aber Diamond Eye kam sofort zu Sache. Sie hat eine schreckliche Geschichte mit ihrer Familie durchgemacht und war vor Entsetzen dem Tod nahe gewesen. Sie musste alles erzählen. Sie ist über 70. Einst schien sie mir vor Kraft und Fröhlichkeit zu strotzen, ihr einige Jahre jüngerer Ehemann Eagle Nose erst recht. Aber beide sind gezeichnet von schlechten Zeiten und schlechten Nachrichten. So seltsam es klingt: Ich hätte nie gedacht, dass sie älter werden könnten. Bei Menschen, die oft sieht, merkt man das nicht so. Aber Freunde, die man acht Jahre lang nicht getroffen hat, halten einem den Spiegel hin. Auch wir sind älter geworden.

Sie braucht die Unruhe des Lebens aus der Reisetasche. Alle zwei Tage morgens abreisen und am Nachmittag ankommen in einer neuen Stadt, einem neuen Zimmer. Fremdeln. In einigen Städten in Wales vor den verlassenen, öden Ladenstrassen mitten im Zentrum erschrecken. Die schwierige ökonomische Lage, hatte uns Eagle Nose gewarnt. Ungetröstet einschlafen und am Morgen einen Ort suchen, an dem wir uns wohlfühlten. Hier ein bunt angemaltes Café mit gutem Cappuccino oder auch nur ein Billardtisch in einem Pub. Dort ein verborgener botanischer Garten am Stadtrand. Oder der Strand. Den Menschen dankbar sein, die sich hier in Würde eingerichtet haben, uns anlächeln und uns fragen, wo wir herkommen. Weiterreisen.

Sie braucht die Wachheit, mit der ich in den ersten Tagen alles sah und registrierte und innerlich beschrieb. Und dann, nach zehn Tagen dieses Gefühl, vom vielen Reisen glattgeschliffen und stumm zu sein und mitgerissen zu werden wie ein Kiesel im Fluss.

Sie braucht die pralle Dynamik von London, die Fleischigkeit dieser Stadt, ihre Gier und ihre Lebensfreude.

Sie braucht das verschmitzte Lächeln meines Patensohns Tim, seine ruhige, abwägende Art. Und sie braucht die liebenswürdige und sehr hilfreiche Wohlorganisiertheit seiner grossen Schwester Mina.

Sie braucht eine Anekdote zum Schluss. Ich stehe in Greenwich, London, vor einem Kaffeestand. Es ist ein strahlender Tag, 30 Grad. Die Betreiberin des Standes ist kurz weg, aber ein Sicherheitsmann bewacht ihn. Ich warte. Wir stehen da und betrachten die Mineralwasserfläschchen auf dem Tresen. „Sind die aus Glas oder aus Plastik?“ frage ich. „Made of glass“, sagt der Sicherheitsmann, „the water must be quite warm by now. You could probably make a cup of tea with it.“