In Llandudno hatten wir zwei Nächte lang in einem hübschen, kleinen B&B mit Blick aufs Meer übernachtet. Vom Zimmer aus hatten wir traumhafte Sonnenuntergänge gesehen. Als wir abreisten, verabschiedete uns der Hotelier mit den Worten: „So, you’re going to Caernarfon? Well, you will see, the castle is beautiful, but the town is a little bit rubbish.“ Ein Tourismus-Profi dürfte nie einen solchen Satz über eine benachbarte Destination aussprechen. Und mein Englischlehrer hätte ihn auch nicht als englischen Satz akzeptiert. Dennoch machte sie mich auf der zweistündigen Busfahrt nach Caernarfon etwas bange. Was uns wohl dort erwartete?
Caernarfon präsentierte sich zunächst als Landstädtchen, das seine besten Zeiten im 19. Jahrhundert gesehen hat. Der Schlossplatz lag grau vor uns, gegenüber unser Hotel. Dazwischen die Statue eines Mannes, der Kopf weiss von Möwenkot. Das Hotel hat ein Pub im Erdgeschoss, und wir fragten den Wirt erst mal, ob wir hier ein Mittagessen bekämen. „Nein, tut mir leid. Es gibt hier nichts zu essen. Die Küche ist ausgebrannt“, sagte er. Wir bezogen unsere Zimmer im Dachstock.
„Die Küche ist ausgebrannt!“ sagte ich beim Auspacken vorwurfsvoll zu Herrn T. Er ist unser Reise-Organisator, und manchmal erwischt er bei den Hotelbuchungen ein faules Ei. Man schaut sich dann mit grösster Wachsamkeit im Zimmer um, wer weiss, was man alles zu sehen bekommt. Doch der Raum war sauber und frisch gestrichen, das Bad karg, aber sauber. Nur auf der Fensterscheibe klebte ein grosser, weisser Möwendreck. Und ich hatte kein Netz. Die Stadt hat zwar ein offenes WLAN, aber mein Handy verweigerte das Login, aus Sicherheitsgründen. Ich fühlte mich wie aus der Welt gefallen.
Ich beschloss, mich erst mal zusammenzunehmen. Wir gingen zurück auf den Schlossplatz und picknickten auf einer Bank. Dabei waren wir ganz froh, dass wir mit dem Rücken zur Presbyterianischen Kirche sassen, denn diese bot einen traurigen Anblick: geschlossen, die Tore mit Sperrholzbrettern verbarrikadiert. Auch die Post und die Bank hinter uns: bröckelnde Farbe, bröckelnder Stein. Schräg links ein architektonisch ansprechendes Lokal aus den 1960er-Jahren: geschlossen. Durch die grossen Glasfenster waren die verdreckten Trümmer einer einstigen Einrichtung zu sehen. Überhaupt, die Stadtseite östlich des Schlossplatzes: viele leere Bauten, zum Teil verbrettert, da und dort Baugerüste, aber keine Arbeiter. Dazwischen zwei oder drei in fröhlichen Farben frisch gestrichene Häuser. Als seien ihre Bewohner entschlossen, dem Verfall etwas entgegenzusetzen.
Wir waren bei der zweiten Scheibe Brot, als eine Möwe direkt vor uns landete und uns böse anschaute. Sie wollte unser Brot, das war offensichtlich. Die Möwen in Wales sind so gross wie dicke Katzen. Sie haben Hackschnäbel und es gibt kein anderes Wort für ihren Blick als böse. Richtig böse. Plötzlich eine alte Frau hinter uns, die mit verschrecktem Blick auf den Vogel zeigte. „Be careful!“ warnte sie uns und zeigte mit einer wilden Armbewegung, wie der Vogel einen Angriff auf uns fliegen würde. Sie meinte es gut. Aber ich weiss nicht, ob ich mich mich mehr vor dem Vogel oder vor ihr fürchtete. Sie war hager, ihr zerfurchtes Gesicht liess ahnen, dass sie Dinge erlebt hatte, die man selbst lieber nicht erleben möchte.
Unter höchster Wachsamkeit assen wir. Dann nahmen wir unseren touristischen Auftrag wahr und besichtigten das Schloss von Caernarfon. Es ist ist eine Wucht, aussen und innen. Das Abendessen im Pub The Anglesey Arms war köstlich. Danach ein Spaziergang am Strait of Menai in der langen Junidämmerung.
Dann betraten wir wieder unser Hotel. Im Pub ein einziger Gast, angetrunken. Er kam uns entgegen und sagte mit irrem Grinsen: „Es gibt hier nichts zu essen, die Küche ist abgebrannt.“
Ich musste doch etwas schmunzeln bei diesen Zeilen, auch wenn du dich leider nicht so ganz wohlgefühlt hast. Der Katzen-Vergleich ist super 😹 interessant, wie sich der Ort womöglich geändert hat in ein paar Jahren (wir waren 2016 da, sagt der Blick ins Fotoalbum). Eventuell war es aber auch der unmittelbare Vergleich. Wir waren leider in Bangor abgestiegen, was absolute Zombieatmosphäre hatte (Betrunkene, die mittags ins Koma fielen und neben dem Gehweg liegen blieben, Schlägerei neben dem Geldautomaten, sonst alles recht ausgestorben, die wenigen verbliebenen Menschen sehr seltsam…). Wir flüchteten uns in Tagesausflüge, u.a. Nach Caernarforn, was im Vergleich zu Bangor paradiesisch schön, wenn auch zugegebenermaßen nicht ganz so hübsch wirkte wie Conwy oder Anglesey. Auf jeden Fall bin ich gespannt, was du noch berichtest, interessiert mich sehr und macht eigentlich gleich Lust auf Wales, auch wenn ich ich fürchte, dass ein Teil des Downfalls durchaus am Brexit liegen könnte – viele Projekte waren damals EU-finanziert laut Plakette 🤷🏻♀️
Ui, da bin ich direkt froh, dass wir durch Bangor nur durchgereist sind! Das klingt schauderhaft. So schlimm habe ich das zum Glück nirgends erlebt, auch wenn da und dort dem Alkohol etwas mehr zugesprochen wurde als mir so richtig lieb war. Aber eine etwas gespenstische Atmosphäre herrschte auch in einigen Städten, die ich gesehen habe. Dann muss man tatsächlich nach Orten suchen, wo man sich geborgen fühlt. Ich habe es nicht „flüchten“ genannt, sondern „Inseln finden, wo ich mich wohl fühle“ und recht gut damit gelebt.
Eben habe ich übrigens einen Bericht über EU-Unterstützungsgelder für das Vereinigte Königreich gefunden, der Deine These bestätigt. Aus dem Jahr 2016. Hier der Link:
https://www.theguardian.com/society/2016/may/31/what-has-the-eu-ever-done-for-my-town
Und noch das hier, wo – kurz und bündig – steht, dass die EU Wales zwischen 2014 und 2023 mit 2,1 Milliarden Pfund unterstützt hat. Wales hat für den Brexit gestimmt, wenn auch knapp.