Ein Zug der Firma Transport for Wales brachte uns von Manchester nach Llandudno in Nordwales. Wir können dem Unternehmen nur Bestnoten geben. Das Rollmaterial war neu, die Info-Bildschirme funktionierten tiptop, Lautsprecher-Durchsagen waren häufig, korrekt und gut verständlich, naja, für uns nur die englischen. Dennoch: Es war eine Traumreise für Schwerhörige.
Alle Angaben waren strikt zweisprachig, kymrisch und englisch. Der walisische Ansager klang wie ein gut gelaunter Märchenerzähler. Herr T. verstand schon nach wenigen Haltestellen, was „the next station is…“ auf Walisisch heisst: „gorsaf nesaf“ oder „nesaiaf“ oder ähnlich. Ich habe ja in jungen Jahren Linguistik studiert und mich speziell für Phonologie interessiert. Früher hätte ich nach Kräften versucht, meine Zunge um die merkwürdigen Laute dieser Sprache zu schlingen und erste Phrasen zu verstehen oder sogar verwenden zu können. Aber mittlerweile ist mir das zu anstrengend.
Immerhin hatten wir uns auf dem ganzen Weg nach Wales laut darüber nachgedacht, wie man den Ortsnamen „Llandudno“ ausspricht. „Thlandadno? Liandadno?“ Mein Freund Eagle Eye sagte: „Hlandudno“. In unserem Reiseführer stand, das „Ll“ werde in etwa wie ein weiches „Chl“ ausgesprochen. Also „Chlandudno“. Der Märchenerzähler im Zug sagte aber eher „Schandudno“, oder so klang es jedenfalls für mich. Egal. Wir kamen irgendwann dort an.
„Spricht überhaupt noch jemand Walisisch?“ fragte ich mich. „Oder ist diese Zweisprachigkeit im Zug nur politisch gewollte Diversitätspflege?“ Mein Linguistikprofessor vertrat in den späten achtziger Jahren die These: Minderheiten-Sprachen in ökonomisch eher peripheren Gebieten sind zum Aussterben verurteilt. Zuerst werden alle zweisprachig, und das sei bei den Walisisch sprechenden bereits der Fall. Dann würde die Minderheitssprache allmählich aus dem Alltag verschwinden. Ich war ja schon während meines Studiums in den späten achtziger oder frühen neunziger Jahren in Wales gewesen. Hatte ich damals Welsh gehört? Nein, nicht dass ich wüsste.
An den ersten beiden Tagen hörten wir in Llandudno nur Englisch. Llandudno ist ein gepflegtes Seebad, im Juni mehrheitlich von älteren Feriengästen aus England bevölkert. Am dritten Tag brachen wir Richtung Caernarfon auf. An der Bushaltestelle kam Herr T. mit zwei Frauen um die sechzig ins Gespräch. Ob sie eben Walisisch gesprochen habe, frage er.
Die eine lächelte über so viel Ahnungslosigkeit und sagte in einem lustigen Englisch: „Klar! Wenn wir unter uns sind, sprechen wir selbstverständlich Walisisch.“ Später hat mir Herr T. dann und wann gesagt, Leute um uns herum würden Walisisch sprechen. Ich kann Leute um uns herum zwar reden hören, weiss aber meist nicht, in welcher Sprache. Ich glaubte die keltische Sprache daran zu erkennen, dass sie einen anderen Rhythmus hat als Englisch. Englisch ist eher synkopisch, Welsh hat mehr Triolen, behaupte ich jetzt einfach mal. Auch schien mir diese Sprache voll von „aia aia aia“-Wiederholungen zu sein. Aber eben, meine Eindrücke sind höchst unzuverlässig.
Kaum zurück aus den Ferien stöberte ich in meinen alten Tagebüchern und stiess unerwartet auf Notizen meiner ersten Reise nach Wales, 1990. Ich staunte nicht schlecht, als ich eine Liste von präzis geschilderten Situationen vorfand, in denen ich damals die kymrische Sprache gehört hatte (ich hörte noch normal). Sie enthielt sechs Punkte, einige auch für die Soziolinguistin bemerkenswerte, zum Beispiel diesen: „Ffestiniog, The Abbey Pub: Ein Mann um die 25 und mehrere Knaben zwischen 10 und 14 stehen am Pool-Tisch und sprechen Englisch. Dann kommen eine Frau und ein Mädchen dazu (die Frau um die 40, das Kind 12 oder 13), die beiden sprechen Welsh. Solange die Frauen am Tisch stehen, sprechen alle Welsh. Danach wechseln die Männer zurück auf Englisch.“
Ich habe keinerlei Erinnerungen an diesen Vorfall. Ich glaube, ich bin nicht nur schwerhörig, sondern auch dement.
Liebe Frau Frogg, manchmal sind Tagebücher wie das Denkarium in den Harry-Potter-Verfilmungen. Vor wenigen Jahren las ich meine Tagebuch-Aufzeichnungen aus den späten 1990er Jahren. Ich staunte an vielen Stellen nicht schlecht, was damals geschah. Ich denke, oft sind Tagebücher und/oder Blogeinträge dazu da, damit wir unsere Erinnerungen auslüften und konservieren können.
Ja, da hast Du sicher recht, und den Vergleich des Tagebuches mit dem Denkarium finde ich sehr schön. Aber dass ich Dinge aufgeschrieben und danach vollkommen vergessen habe, scheint mir schon ein starkes Stück zu sein. Ich habe mich damals sehr für Zweisprachigkeit und Minderheitensprachen interessiert (für mich als Schweizerin ist das ein naheliegendes Thema). Ich schrieb auch Dinge wie: „B & B in Abersystwith: Ein älteres Ehepaar streitet sogar auf Walisisch. Sie sind beide um die 70 und können kaum gehen.“ Daran erinnere ich mich auch nicht mehr, aber sehr wohl an die Spitzenvorhänge vor dem Küchenfenster und den Geruch von Spiegeleiern im Regen. Was war ich für ein Mensch?
Walisisch hat recht gute Prognosen. Seit 2010 ist es neben Englisch zweite Amtssprache. SchülerINNEN haben es als Erstsprache oder als erste Fremdsprache in der Schule.
Danke für diesen eigentlich unentbehrlichen Kommentar! Ich bin sicher, dass es das Vertrauen der Menschen in eine Sprache stärkt, wenn sie sich in der Schule damit auseinandergesetzt haben und sie Amtssprache ist. Ich habe auch in einer Buchhandlung in Caernarfon eine reichhaltige kymrische Abteilung gesehen. Ich denke, es gibt eine kymrische Kultur und ein kymrisches Selbstvertrauen.
Walisisch ist echt spannend. Ich hatte auch den Eindruck, dass es recht aktiv gepflegt wird, und wünsche der Sprache noch ein langes Fortbestehen. Auch ich fand die phonetischen Konstellationen sehr interessant und hatte mir das „LL“ wie eine Art TH gemerkt und vorgestellt, aber da scheint es so viele Varianten wie Vorkommnisse zu geben (wir waren in Llangollen und in Llandeilo, glaube ich 😅).
Das wäre dann nach meinem Wissensstad in etwas „Chlangochlen“ und „Chlandeilo“. 🙂