Porthmadog und das Wesen der Erinnerung

Porthmadog – hier muss ich einmal den Weg zu einem phänomenalen Ziel eingeschlagen haben. (Bild: Robert Parry Jones/North Wales Live)

Kaum waren wir in Porthmadog angekommen, beschäftigten mich Fragen nach dem Wesen der Erinnerung fast mehr als die Gegenwart. Porthmadog ist ein erstaunlich lebhaftes Dorf in einer Landschaft von geradezu alpiner Kargheit. Es hat an jedem Ende einen Bahnhof, und auf dem Weg vom einen zum anderen gingen wir fast die ganze High Street hoch. „Ich bin schon hier gewesen“, rauschte es mir durch den Kopf, „Hier muss ich zusammen mit meinem damaligen Liebsten Konrad den Zug nach Blaenau Ffestiniog bestiegen haben. Es kann gar nicht anders gewesen sein, denn nur von hier aus gibt es einen Zug dorthin.“ Ich weiss noch, dass wir aus Aberdaron kamen und die Schiefergruben in Blaenau Ffestiniog besichtigten, und dass das phänomenal war. In meiner Erinnerung verschwimmen die Bilder von der Fahrt in die Tiefe des Berges mit jenen von Harry Potters Ausflügen in die Gewölbe von Gringott’s Bank. Immer wieder Harry Potter! Aber Porthmadog? Ein weisser Fleck in meinem Hirn.

Als ich jung war, legte ich grossen Wert auf die Pflege meiner Erinnerungen. Die Erinnerung ist ein Schatz, sagte ich mir. Sie macht uns zu der Person, die wir sind. Mit den Jahren setzte ich andere Prioritäten. Manche Erinnerungen legte ich in Grümpelkisten, irgendwo im Hirn, sie waren mir egal, aber fortschmeissen kann man sie ja nicht. Bei Bedarf braucht es manchmal etwas Zeit, bis ich sie hervorgekramt habe. Aber dass eine Erinnerung gar nicht mehr auffindbar war, war doch beunruhigend. Ich meine: Wer sind wir, wenn wir nichts mehr über den Ort wissen, von dem aus wir ans Ziel unserer Reise gelangten?

Herr T. und ich kamen beim zweiten Bahnhof an und picknickten auf einer Bank. Wir hatten noch Brot aus Conwy, Cherrytomaten und frischen Cheddarkäse. Wo wir den gekauft hatten, weiss schon jetzt nicht mehr. Ein Stück Käse fiel mir vom Brot auf eine Zigarettenkippe unter der Bank. Ich ging ein paar Meter zum nächsten Abfalleimer, um es wegzuschmeissen.

Es war kalt. Wir warteten, bis es 13 Uhr war und der Pub am Bahnhof öffnete. Auch das Lokal war karg, trotz nostalgischen Reisebildern an den Wänden. Die Wirtin machte Tee für meinen Mann und – widerwillig – eine Tasse Nescafe für mich. Eine ältere Frau in einem Kleid in verwaschenen Farben trank ihr erstes Bier, am runden Tisch sassen ein paar junge Männer mit anthrazitfarbener Sportbekleidung. Über allem hing der überwältigende Geruch von Bleach. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was sich am Vorabend hier zugetragen haben könnte, dass es so viel von diesem chlorhaltigen Reinigungsmittel gebraucht hatte. Bleach tötet Bakterien und Viren und überdeckt alle anderen Gerüche.

In Grossbritannien laufen solche Putzmittel generell unter der Bezeichnung „Bleach“. (Quelle: cloroxa.ca)

Aber bei mir belebte der ätzende Geruch Erinnerungen. Keine an Porthmadog, aber mehrere an etwas auch fast Vergessenes: das Heim in Südengland, in dem ich mit 20 ein Jahr lang gearbeitet habe und an die zwei weissblonden Kinder des Heimleiterpaares. Der Bub war vier, das Mädchen zwei, es hiess Emily. Sie hatten beide Keuchhusten, wochenlang. Wenn sie einen Anfall hatten, bellten sie in den Gängen herum, bis der Brechreiz kam. Nie wieder habe ich kleine Menschen so erbärmlich husten sehen. Damals lerne ich das Wort Bleach kennen, weil die Heimmutter immer damit hinter ihnen herputzte, als wäre Bleach ihr Nothelfer. Sie war Anthroposophin, und sonst waren Calendulasalbe und Ruhetage ihr probates Rezept gegen die meisten Übel. Hier aber: Bleach. Sie muss in 1000 Ängsten gewesen sein, dass der Erreger unter den Jugendlichen im Heim eine Epidemie auslösen könnte. Aber das wird mir erst beim Erinnern klar.

2 Gedanken zu „Porthmadog und das Wesen der Erinnerung“

  1. Das mit der Erinnerung an längst vergangene Reisen und Ausflüge ist eine eigenartige Sache: Es bleiben Bilder, Töne und Gerüche im Kopf, die im Nachhinein belanglos erscheinen, während anderes, das aus heutiger Sicht abgespeichert sein müsste, keinerlei Spuren hinterlassen hat. Gut möglich, dass ihr damals mit dem Bus von Aberdaron über Pwllheli nach Porthmadog gefahren seid, um den den Dampfbahnausflug nach Blaenau Ffestiniog zu machen. Dann hättet ihr in Porthmadog nur einen kurzen Fussweg zur Harbour Station gehabt und von der High Street kaum etwas mitbekommen. Die Fahrt von Porthmadog nach Blaenau Ffestiniog und die Besichtigung der Schieferwerke ist allein schon ein Tagesauflug. Wenn dann für die Anreise von Aberdaron noch zwei Busfahrten von je 90 Minuten hinzu kommen, bleibt wenig für die Besichtigung von Porthmadog…

    1. Danke, lieber Kulturflaneur. Ja, so könnte es gewesen sein! Ich finde es unfassbar, dass wir damals so lange Tagesausflüge gemacht haben müssen, aber Dein reiseplanerisches Sensorium stimmt wohl.

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