Das Doppelleben meines Deutschlehrers

Mein Deutschlehrer am Gymnasium war ein grauer Funktionär. Während jeder Deutschstunde sagte er irgendwann: „Nehmen Sie Ihre Hefte zur Hand.“ Dann diktierte er uns durch die Geschichte der deutschsprachigen Literatur von Walther von der Vogelweide bis ungefähr Uwe Johnson. Er diktierte uns durch Metrik und Rhetorik. Wir schrieben, und an den Prüfungen mussten wir das alles nur detailgetreu wiederholen können, dann war’s gut. Er hatte etwas Gütiges im Gesicht, aber er vermittelte staubtrockenes Wissen, keine Neugier und nie Begeisterung. 1985 machten wir die Matura, er wurde pensioniert. Er hiess Linus Spuler. Das ist sein Klarname, und wenn ihm jemand hier ein ehrerbietigeres Denkmal setzen möchte, so ist er oder sie in den Kommentarspalten sehr willkommen. Es hat sich ohnehin gezeigt, dass mein Bild von ihm nicht annähernd vollständig war.

Ich ging an die Uni, studierte trotzdem Germanistik (im Nebenfach) und dachte selten an ihn. Bis an einem Morgen in der vergangenen Woche. Ich lag kränkelnd im Bett und las „Der Parzival des Wolfram von Eschenbach“ von Dieter Kühn. Ein Buch, das das Mittelalter sehr anschaulich macht, auch für Nicht-Germanisten. Obwohl Kühn gelegentlich akademische Quellen zitiert. Auf S. 148 etwa eine Arbeit von „Judy Mendels und Linus Spuler“. Linus Spuler! Ich stiess einen Überraschungsruf aus. War es möglich, dass ich in einem Werk der deutschen Literatur aus den neunziger Jahren eben meinem Lehrer aus der Schweizer Provinz begegnet war?! Es kann doch im 20. Jahrhundert nicht mehrere Germanisten mit diesem Namen gegeben haben! Hatte mein Gymi-Lehrer einst kühne akademische Träume gehabt und gar eine kongeniale Forschungsgemeinschaft mit einer Frau namens Judy Mendels?!

Ich begann, meinen 2014 mit 93 Jahren verstorbenen Deutschlehrer im Internet zu stalken, und siehe da: Er war’s. Er hat zwischen 1959 und 1965 mehrere Artikel mit Mendels veröffentlicht, unter anderem über einen Hof in Thüringen, an dem Wolfram sein Talent entfalten konnte. Aber auch über Rainer Maria Rilke. Judy Mendels lehrte damals an einer Hochschule in Buffalo, NY, USA. Er war in Luzern. Lernten die beiden sich an einer Fachtagung kennen? Verliebten sie sich? Reisten sie zusammen nach Thüringen? Ach Gott, nein, wahrscheinlich nicht! Thüringen lag damals in der DDR und dort kann ich ihn mir nicht vorstellen. Die letzte Publikation der beiden erschien 1965 und trägt den häuslichen Titel: „Sour Apples – Cooked Sweet“, eine deutsche Grammatik für Anfänger. Erschienen im Eigenverlag in Luzern. Aha, Ende des Thüringer Abenteuers, fabulierte ich. Da haben sie sich wohl zusammen niedergelassen und waren fortan mit ihrem Nachwuchs beschäftigt.

Aber je länger ich forschte, desto unwahrscheinlicher wurde diese These. Denn Mendels schien auch nach 1965 in Buffalo gewesen zu sein. Erst nach längerer Recherche fand ich ihre Biografie auf einer niederländischen Website. Mendels wurde 1906 in Zaandam geboren, war also 15 Jahre älter als Spuler. Während ich das mit Hilfe von ChatGPT übersetzte, rauschte das 20. Jahrhundert an mir vorüber. Mendels war Jüdin, überlebte den Holocaust in den Niederlanden, als Pflegemutter von Waisen im Durchgangslager Westerbork. Sie emigrierte erst 1947 in die USA. An ihrer Uni war sie eine der ersten weiblichen Lehrkräfte. Eine resolute, engagierte, wohl oft auch strenge Frau. Sie kam erst 1972 nach Luzern, mit ihrer Pflegetochter, die eine renommierte Musikerin geworden war.

Was nicht erklärt, wie sie mit Linus Spuler verbunden war. Aber einerlei. Ihn sah ich in seinen letzten Arbeitsjahren in den Pausen oft bewegungslos am grossen Nordwestfenster stehen, allein. Er blickte hinaus in den Herbst oder Frühling oder Winter. Träumte er? Wartete er auf die Pensionierung? Ging er im Kopf seine nächste Stunde durch? Hatte er noch Kontakt mit Judy Mendels? Kann es sein, dass wir ahnungslosen Teenager ihn mehr gelangweilt haben als er uns?

2 Gedanken zu „Das Doppelleben meines Deutschlehrers“

  1. Es ist frühmorgens, draussen schneits, und ich lese grad die Dissertation von diesem später einmal als „grau“ wahrgenommenen Linus Spuler. Titel der Diss: „Oskar Kollbrunner. Leben, Werk und literarhistorische Stellung eines Schweizer Dichters in der neuen Welt“. Auf das Thema ist Linus vermutlich gestossen, als er nach seinem Liz-Examen (1950 in Freiburg) ein Jahr in den USA studieren konnte (Johns Hopkins University Baltimore). Sein Dissertationsobjekt, der Thurgauer Schriftsteller Oskar Kollbrunner, ist im Jahr 1913 als 18-Jähriger vom Bauernhof in Hüttwilen TG nach Amerika ausgewandert – zuvor hatte er die Ausbildung am Lehrerseminar Kreuzlingen hingeschmissen um Schriftsteller zu werden (das wiederum ist, was MICH an der ganzen Sache interessiert, weil ich in den 80ern ebenfalls das Semi X-lingen absolviert habe). In Amerika streicht Kollbrunner 5 Jahre lang als Hobo herum, inkl. Freighthopping, bevor er sich in New York eine prekäre Journalisten- und Dichter-Existenz aufbauen kann. Kollbrunner pendelt dann zwischen Amerika und Hüttwilen, begeistert von der Literatur und geplagt von Fernweh und Heimweh. Er stirb 1932 verarmt in Hüttwilen. Die Dissertation von Linus rekonstruiert und interpretiert Kollbrunners Leben und Dichtung. Es geht dabei sehr um Lebensträume, um Entbehrung, Konformität und Kunst. Linus‘ Quellen reichen von der Library of Congress in Washington bis zu Gesprächen mit Kollbrunners Bruder in Hüttwilen. Oskar war sicher kein Zuverlässiger. Und seine Gedichte sind auch nicht wirklich gut. Dennoch war Linus Spuler offenbar fasziniert von ihm. Mir gefallen deine Fragen am Schluss deines Blogeintrages. Vielleicht hat dein alter Deutschlehrer, kurz vor der Pensionierung am Nordwestfenster stehend, ab und zu auch an Oskar und Oskars Pläne gedacht, wenn er euch beim Pausemachen zusah? In der Vita zur Dissertation schreib Linus über sich: „Ich, Linus Spuler, von Endingen, Kanton Aargau, wurde am 8. Juli 1921 als achtes Kind des Karl August und der Rosa, geborene Schneider, in Endingen geboren.“

    1. Lieber Christian, Du machst mir richtig Lust darauf, Linus Spulers Dissertation über Oskar Kollbrunner zu lesen. Dass er sich für diese gebrochene Figur interessierte, lässt in der Tat tief blicken. Spuler war moderner Dichtung eher abgeneigt, daran hat mich eine ehemalige Schulkollegin bei einem Mail-Austausch erinnert. Aber Kollbrunner dürfte er gemocht haben, weil er sich wahrscheinlich an den amerikanischen Vorbildern des 19. Jahrhunderts orientierte. Danke auch für das Zitat aus der Vita. Ich wusste, dass er Aargauer war, der genaue Herkunftsort war mir aber unbekannt. Liest Du diese Diss zur persönlichen Weiterbildung? Oder schreibst Du selbst?

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