Warum nur finden manche den Mississippi magisch?

Vor ein paar Jahren machte ich mit meiner Freundin Helga in Deutschland einen Ausflug nach Speyer. Sie zeigte mir den goldenen Hut im Museum, dann schlenderten wir zum Auto zurück. „Dort hinten liegt der Rhein“, sagte sie beiläufig. Ich sofort: „Oh, da will ich unbedingt hin!“ Sie sah mich befremdet an. „Da gibt es aber nicht viel zu sehen“, meinte sie. „Das ist einfach ein Fluss.“ Ich grinste: „Du bist kein sehr reisefreudiger Mensch, oder?“ Ich gab keine Ruhe, bis wir am Rhein standen und ich die Hand ins Wasser getaucht hatte. Mich beglückte die Vorstellung, vielleicht einen Tropfen am Finger zu haben, der 350 Kilometer flussaufwärts durch meine Heimatstadt Luzern geflossen war. Denn durch meine Heimatstadt fliesst die Reuss, und die wiederum mündet bei Brugg im Aargau in die Aare – und die wiederum etwas weiter nördlich in den Rhein.

Die Episode ging mir durch den Kopf, als ich „Iowa“ von Stefanie Sargnagel las. Die 38-jährige Autorin schildert darin ihren „Ausflug nach Amerika“ mit der Musikerin Christiane Rösinger im Jahre 2022. Zunächst sitzen die beiden in einem Unort namens Grinnell fest. Aber dann werden sie eines Autos habhaft, und plötzlich tun sich ungeahnte Möglichkeiten auf. Bei näherer Betrachtung klingen allerdings auch diese Möglichkeiten recht banal, halt das, was die Touristin so macht. Bis die Idee auftaucht, an den Mississippi zu fahren. „Mit einem Mal verklärt sich Christianes Blick“, schreibt Sargnagel (S. 137). „Etwas ist entfacht“ bei der Freundin. Stefanie erwidert trocken: „‚Ok, dann machen wir Mississippi, ist notiert.'“

Das tun sie dann auch. Sie erreichen den Strom bei Dubuque im Staate Iowa. Dort ist Christiane „glücklich und streckt ihre Nase in den Wind“. Stefanie dagegen findet alles hier „zubetoniert und deprimierend“ und hat auch noch Menstruationsschmerzen. Sie reisst sich dann aber zusammen und erzählt eine magische Anekdote über Christiane und den Fluss und die Pelikane am Fluss, die sie vielleicht gesehen haben und vielleicht auch nicht. Warum nur fühlen manche Menschen den Sog, den nur schon der Name eines Flusses haben kann und manche nicht?

Stefanie Sargnagel: „Iowa – ein Ausflug nach Amerika“, Rowohlt Verlag, 2. Auflage, 2024

Geert gegen Geert – zu den Europawahlen

Geert Wilders, Rechtspopulist; Jahrgang 1963 (Quelle: Wikipedia)

Anlässlich der EU-Wahlen wollte ich Geert Mak googeln. Kaum hatte ich „Geert“ getippt, schlug die Suchmaschine mir Geert Wilders vor. Nun, den kennen die meisten. Er ist der bekannteste Rechtspopulist der Niederlande und Sieger der letzten Wahlen dort. Seine vor einiger Zeit noch ausdrücklich EU-skeptische Partei kandidiert auch für die EU-Wahlen.

Wilders ist gewissermassen die Antithese zu jenem Geert, den ich tatsächlich googeln wollte: Geert Mak, niederländischer Schriftsteller, Journalist, begeisterter Chronist der europäischen Geschichte. Ich lese gerade sein 1999 erarbeitetes Buch „In Europa“. Bei jedem Satz des 900-Seiten-Wälzers wird deutlicher, dass seit der damaligen Reise von Herrn Mak ein ganzes Vierteljahrhundert verflossen ist. Wie sehr Europa sich seither verändert hat! Wir erinnern uns an die EU 1999: Der Euro stand vor der Einführung, die EU-Osterweiterung lag in der Luft. Den Rechtspopulismus war noch unbedeutend.

Geert Mak, Journalist, geboren 1946 (Quelle: geertmak.nl)

Mak reiste kreuz und quer durch den Kontinent, machte Recherchen über die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert und schrieb zunächst Kurzbeiträge. Diese erschienen auf der Front seiner Zeitung, des liberalen NRC-Handelsblad. Im Jahr 1999 waren gedruckte Zeitungen noch ehrwürdige Hüterinnen der Demokratie. 2024 sind gedruckte Zeitungen ökonomisch schwer bedrängt und viel diffamiert. Das NRC-Handelsblad gibt es noch, im Print mit einer Auflage von 145000, und auch digital. Aber ich weiss nicht, ob das Blatt heute die Reisen von Herrn Mak bezahlen könnte. Überhaupt, die Digitalisierung: Mak reist bereits mit einem Mobiltelefon und gar einem Notebook (das war damals der letzte Schrei), aber er hatte noch kein Smartphone, statt dessen eine CD-ROM der Encyclopedia Britannica und 15 Kilo Bücher im Gepäck (Seite 21). Weiss heute noch jemand, was eine CD-ROM ist?

Angekommen in Paris, rühmt Mak 1999 die „sechs Gemüsehändler, fünf Bäcker, fünf Schlachter und drei Fischhändler“ an seinem kurzen Weg vom Hotel zum Boulevard (Seite 31). Vor meinem geistigen Auge taucht eine Erinnerung an den Herbst 2022 auf: die leere, ehemalige Metzgerei neben unserem Hotel an der Rue du Faubourg St. Antoine. Ursachen für leere Ladenlokale in der EU heute: die Pandemie. Der unaufhaltsame Vormarsch der Grossverteiler. Und wieder: die Digitalisierung.

Maks nächstes Reiseziel ist London – diese Destination würde er wohl heute  auslassen, Grund: der Brexit.

Wirklich unheimlich wird es aber, als der Autor das Grauen des Ersten Weltkrieges (1914 bis 1918) schildert. Ob Mak sich 1999 vorstellen konnte, dass 2024 ein ähnlicher Krieg am östlichen Rand des Kontinents toben wird? Heute sagen viele Expert*innen: Die Zukunft Europas wird in der Ukraine entschieden. Wichtigste Aufgabe der EU werde nun sein, ihre Haltung zu Putin zu klären.

Diesbezüglich haben die beiden Geerts nun sehr unterschiedliche Meinungen. Geert Wilders ist ein erklärter Putin-Freund, siehe hier, wie so viele seiner rechten Kollegen. Und was sagt sein Gegenpart, Herr Mak? Er hat news.at 2023 ein sehr kenntnisreiches Interview gegeben – hier. Man müsse in der EU mit dem komplizierten Nachbarn Russland leben lernen, einem Mafiastaat, sagt er. Das heisse: Die EU müsse sich bewaffnen, um sich vor ihm zu schützen. Auf die Amerikaner sei diesbezüglich kein Verlass mehr.

Ich habe als Schweizerin nichts zu melden, wenn es um die Zukunft der EU geht. Trotzdem sage ich es hier: In dieser Sache stehe ich auf der Seite von Geert Mak.


Geert Mak hat bereits selbst eine Fortsetzung seines Euro-Epos vom Anfang des Jahrhunderts verfasst. Es heisst „Grosse Erwartungen – auf den Spuren des europäischen Traums“ (erschienen im August 2020). Oder eben: Geert Mak: „In Europa“, Pantheon Verlag, 2004.

Über die Liebe, die Ehe und den Schwindel

Rebecca Solnit

Ein Besuch im Bücher-Brocky spülte mir den Titel „A Field Guide to Getting Lost“*,  von Rebecca Solnit in die Tasche. Als ich zu lesen begann, verliebte ich mich sofort in den Text oder vielleicht auch die Autorin. Die Autorin: geboren 1961. Eine Frau meiner Generation, eine Wanderin und Spaziergängerin. Die Texte: träumerische Essays über das Sich-Verirren, im weiten Land oder als Mensch. Es sind auch Essays über die Liebe, die oft klingen, als wären sie über meine eigenen Liebschaften, jene der Vergangenheit und die heutige. Die heutige: eine fürsorglich-routinierte Ehe. Fast täglich fragt mein Mann: „Hast Du gut geschlafen?“ Oder: „Hast Du die Zeitung schon geholt?“ Oder: „Willst Du Suppe essen?“ Er fragt stets mit einer leisen Ironie, als könnten sich hinter der schieren Banalität dieser Fragen ungeahnte Möglichkeiten verbergen – aber dann vertiefen wir uns halt doch in die Zeitung oder essen Suppe.

Das alles wird in ein merkwürdiges Licht gestellt von Solnit’s Gedanken über Alfred Hitchock’s Meisterwerk „Vertigo“. Ihr erinnert Euch: eine Liebesgeschichte zwischen Privatdetektiv Scottie Ferguson und einer blonden Frau mit einer seltsam verschwommenen Identität. Scottie soll herausfinden, wer sie ist, und verliebt sich in sie. Sie ist jedoch schwer suizidal. Als sie auf einen Kirchturm flüchtet, kann er ihr nicht folgen, denn er leidet an Höhenangst. Er muss zusehen, wie sie vom Turm springt und stirbt. Diese Angst des Protagonisten vor der Tiefe versteht Solnit als Metapher für seine innere Unzulänglichkeit.

Dem Phänomen der Höhenangst** widmet Solnit mehrere Seiten. Sie beschreibt eine Besteigung des Mount Whitney in Kalifornien, 4419 Meter über Meer. Dabei kommt sie von Osten her und hat zunächst nur Blick auf die Landschaft auf der einen Seite des Berges. Sie schreibt: „Einen Gipfel zu besteigen, wird immer als Eroberung dargestellt. Aber wenn Du höher und höher steigst, wird die Welt grösser und grösser, und Du fühlst Dich kleiner im Verhältnis zu ihr, bist überwältigt und befreit, weil so viel Raum um Dich herum ist.“ (S. 151). Dann überwindet Solnit die letzten Meter und blickt über den Grat: „Plötzlich erscheint die Welt im Westen vor Dir, eine gigantische Weite. … Die Welt verdoppelt ihre Grösse. Etwas Ähnliches geschieht, wenn Du jemanden wirklich siehst – und das ist der Grund, weshalb alle in ‚Vertigo‘ immer wieder fallen.“ (S. 152) Mit anderen Worten: Scottie kann die Geliebte nicht retten, weil es ihn überfordert, sie wirklich zu sehen. Oder das, was seine Verbindung mit ihr ist oder sein könnte.

Seither frage ich mich: Was heisst das, jemanden wirklich zu sehen? Ich meine, unsere Ehe gleicht keiner Gipfel-Erstürmung – mehr einem Marsch auf den oft glatten, teils unwegsamen Pfaden des Alltags. Aber: Welche ungeahnten Möglichkeiten sieht Herr T., wenn er fragt, ob ich eine Suppe will? Und: Ist es auch ok, sich der gigantischen Grösse einer Liebe nicht täglich bewusst zu sein?

*Rebecca Solnit: „A Field Guide to Getting Lost“, Penguin, 2006. Ich habe hier bewusst den englischen Titel angegeben, der romantisch und ominös klingt. Der deutsche Titel lautet: „Die Kunst, sich zu verlieren – ein Wegweiser“. Das wirkt für meinen Geschmack zu putzig.

** Als Menière-Patientin muss ich anmerken, dass hier von Höhenangst die Rede ist, nicht von Drehschwindel, obwohl im Film-Trailer Drehschwindel dargestellt wird. Wer mir hier allenfalls eine psychosomatische Lesart des Textes aufzwingen will, hat den Ernst einer Menière-Erkrankung nicht erkannt und gehört mit nur einer halben Stunde zünftigem Drehschwindel bestraft.

Über die Abschaffung des Geschlechts

Ungefähr so wären die Arbeitskräfte meiner Geschlechter-Utopie gekleidet gewesen. Frau und Mann würden aber nebeneinander stehen. (Quelle: joom.com)

Endlich habe ich begriffen, warum Gender-Diversität in den letzten Jahren ein derart grosses Thema geworden ist. Weshalb wir in jeder erdenklichen Lebenslage dazu aufgerufen sind, über sie zu reden, sie anzuerkennen und sie zu preisen. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts war das noch anders. Nehmen wir das Arbeitsleben als Beispiel: Damals waren wir Frauen in vielen Branchen die nicht allzu willkommene Diversität. Aus Vorsicht gaben unsere wie auch immer geartete Gender-Identität beim Sekretariat ab, bevor wir uns am Morgen an die Arbeit machten. Nichts sollte den Verdacht erwecken, dass wir nicht die volle Leistung bringen könnten. Merke: Männer bestimmten meist, was volle Leistung ist. Volle Leistung bringen hiess für Frauen auch, stets angemessen gestylt sein. Im Arbeitsleben lauerte allerhand Ungemach: Eine etwas zu intime Beziehung zu einem Vorgesetzten, es wird ruchbar und, zack, weg ist sie (nicht er)! Es war lange vor MeToo. Judith Butler nennt diesen Zustand Phallogozentrismus und wie ich war sie damit nicht sonderlich glücklich.

Meine Utopie war, dass wir alle an der Bürotür eine Unisex-Mao-Uniform erhalten, in der das Geschlecht des arbeitenden Menschen unsichtbar wird. Das mag freudlos klingen. Aber es hätte niemanden davon abgehalten, sich in der Freizeit nach Kräften zu aufzubrezeln und seinen sexuellen Vorlieben zu frönen.

Butler geht mit mit ihrer Analyse weiter: Der Phallogozentrismus macht nicht nur die Frau unsichtbar, er sorgt – aus vorgeblichem Interesse am Fortbestand der Menschheit – für strikte Geschlechter-Binarität und Zwangsheterosexualität. Als Feministin und Lesbe fragt sie: „Wie kann man am besten die Geschlechter-Kategorien stören, die die Geschlechter-Hierarchie und die Zwangsheterosexualität stützen?“ (S. 8). Sie rät: Wir sollen mit Geschlechter-Identitäten spielen, sie parodieren, sie performen, uns dabei von von Schwulen, Lesben und Transvestiten inspirieren lassen. Das Begehren und die Identität frei schweben lassen.

Das könnte auch heissen: die Binarität durch eine Vielzahl von gelebten  Geschlechter-Identitäten zum Einsturz bringen. Dazu müssen wir die ganze vorhandene Gender-Diversität überhaupt erst sichtbar machen. Die Vielfalt des sexuellen Begehrens und die Transsexualität sind dann unbedingt zu akzeptieren und zu fördern. Im Prinzip bin ich damit absolut einverstanden. Dieses Vorgehen gibt nicht nur vielen Menschen ihre Rechte und holt sie aus der finsteren Kammer der  Selbstzweifel. Es könnte sogar zu einem ähnlichen Resultat führen wie meine eigene Geschlechter-Utopie: dass die Geschlechter-Binarität überall dort einfach verschwindet, wo sie nicht zwingend gebraucht wird.

Nun ist die Darstellung dieser Vielheit sehr viel bunter geworden als ich es mir vorgestellt hatte, und auch das ist eigentlich schön. Ich frage mich lediglich, warum diese Gender-Diversität in den letzten Jahren vor allem die Cis-Frauen zum Verschwinden gebracht (zum Beispiel im Begriff Flintaq*) oder auseinander dividiert hat (im feministischen Streik). Nicht aber die Cis-Männer. Während wir bunt sind, uns zeigen und uns streiten, erhalten sie den Phallozentrismus an Schlüsselstellen unserer Gesellschaft weiter aufrecht: mit Mehrheiten in Machtpositionen in der Finanzwirtschaft, in der Armee, im Bauwesen, in der Politik. Diskret, uniform und mächtig.

Judith Butler: „Das Unbehagen der Geschlechter“; Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1722, 1991,

Ein Buch, das Vater und Tochter verbindet

Wenn ich meinen Vater im Heim besuche, lese ich ihm jeweils ein paar Seiten aus „Der arme Mann im Tockenburg“ von Ulrich Bräker vor. Wer immer über dieses Buch schreibt, beeilt sich, seine „mangelnde literarische Qualität“ zu erwähnen (zum Beispiel hier). Ich gehe daher vor allem auf seine durchaus erwähnenswerten Stärken ein. Es ist erstens in einer ganz eigenen Sprache gehalten, leicht an Bräkers Muttersprache angelehnt, den Ostschweizer Dialekt, der im bergigen Toggenburg gesprochen wird. Es ist zweitens das früheste erhaltene Stück Schweizer Autofiktion. Bräker (1735 bis 1798) erzählt darin seine Lebensgeschichte, die eines Bauernbuben, der als junger Mann in die preussische Armee gerät, abhaut und dann in seiner Heimat eine karge Existenz aufbaut. Mit Frau, Kindern und einem Textilhandelsgeschäftchen, wie es in der Frühindustrialisierung in der Ostschweiz viele gab. Und: Das Buch hat die Kraft, meinen Vater und mich jeweils für eine halbe Stunde oder so über sein Elend hinweg zu verbinden. Er war selbst ein Bauernbub, im bergigen Napfgebiet, und hat sich später in einer Beamtenhierarchie abgearbeitet.

Ich bin hingerissen von Bräkers ersten Kindheitserinnerungen: „Ganz deutlich besinn ich mich, wie ich auf allen vieren einen steinigten Fussweg hinabkroch und einer alten Base durch Gebärden Äpfel abbettelte.“ Ich sehe das fast wie einen Film vor mir. Aber, hey, das war 1738! Mein Vater horcht auf, wenn vom Geissenhüten die Rede ist. Dann unterbrechen wir uns und er erzählt von der Ziege, die er selbst als Bub hatte. Wie sie ihm sagten, er solle sein Herz nicht zu fest an sie hängen, sie werde zu Ostern geschlachtet.

Wenn ich ihm vorlese, bin ich seine literarische Tochter, geboren, um ihn stolz zu machen. Er geniesst das Stolzsein. Das rührt mich, denn früher war er nie stolz auf mich oder hat es mir jedenfalls nicht gezeigt. Aber hier erzählt er den Pflegenden bei jeder Gelegenheit, dass ich im Fall seine Tochter sei und ihm dieses tolle Buch vorlese.

Einmal, ich bin mittendrin, ruft Wiederkehr an, sein Jugendfreund. Die beiden waren zusammen auf der Beamtenschule und büffelten Schweizer Verkehrswege und Postleitzahlen. Wiederkehr hatte eine Stelle in der Bundeshauptstadt. Aber jetzt ist auch er vergesslich geworden. Auch ihm erzählt mein Vater von diesem tollen Buch und vom Toggenburg und vielleicht wissen beide nicht mehr auf Anhieb, wo oder was das Toggenburg ist, es ist doch etwas abgelegen. Aber dann fällt der Groschen und einen Moment lang klingt es so, als würden sie gleich zusammen Ostschweizer Postleitzahlen zu repetieren beginnen.

Ulrich Bräker: „Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des armen Mannes im Tockenburg; Hofenberg Sonderausgabe 2017; (Erstdruck 1789).

Der literarische Tod und der echte Tod

Mein Vater hat nun ein Zimmer im Heim am Talgrund und findet dort allmählich etwas Ruhe. In den letzten Wochen war er eine ständige, oft auf ganz neue Art liebenswürdige Präsenz in unserem Leben. Jetzt haben der Krebs, die Demenz und der Heimalltag ihn bei der Hand genommen. Es scheint oft schwierig, ihm dorthin zu folgen, wo er gerade ist. In diesen Tagen bezweifle ich oft, dass sein Tod so sein wird, wie wir Tode hundertfach gelesen und am Fernsehen gesehen haben: Der oder die Sterbende blutet, spricht ein letztes, handlungstreibendes Wort, dann kippt sein Kopf zurück, seine Augen brechen.

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Der Zufall will es, dass ich dieser Tage die letzten Kapitel eines Buches las, das mir eine sehr liebe Freundin ausgeliehen hat: „Rainer Maria Rilkes Schweizerjahre“ von Jean-Rodolphe von Salis. Einige Grundkenntnisse über Rilke gehören immer noch zur deutschsprachigen Allgemeinbildung. Der Autor des Buches, Jean-Rodolphe von Salis, ist hingegen nicht mehr so präsent. Aber er war einer der bedeutendsten Journalisten der Schweiz im 20. Jahrhundert. Von Salis hatte in jungen Jahren Rilke noch persönlich kennengelernt. Die letzten Kapitel seines Buches enthalten eine mitfühlende Schilderung der Krankheitsjahre, die Rilke grösstenteils in der Schweiz verbrachte. Rilke starb an einem Blutkrebs, der jenem meines Vaters ähnlich ist. Deshalb sind mir die letzten Kapitel des Werkes besonders nahe gegangen. Von Salis scheinen ähnliche Fragen beschäftigt zu haben wie mich gerade. War der Tod dieses Literaten so wie er sich selbst den Tod vorgestellt hatte? Sicher dürfe man diesen Tod nicht mit Bildern beschreiben, die dem Werk des Dichters entnommen seien, das verbiete der Anstand, die Scham „vor dem Unaussprechlichen“, schreibt von Salis.

Aber wie hat Rilke selbst es gehalten? Von Salis: „Der Mann, der seit jungen Jahren als Dichter des Leidens und des Todes hervorgetreten war, vermied soviel wie möglich die Aussprache über die grossen Rätsel, als sie sich seiner eigenen Existenz bemächtigten.“ Und: „Es ist auffallend, dass er in seinem letzten Jahren und in seinen reifsten Werken die berühmten alten Bilder nie mehr brauchte, die er einst im Malte-Roman und im Stundenbuch geprägt hat, um den Tod zu bezeichnen.“ Rilke glaubte offenbar auch bis fast zuletzt daran, dass er wieder gesund werde – in dieser Hinsicht ist ihm mein Vater nicht unähnlich. Von Salis zieht das Fazit: „Es war keine literarische Krankheit und kein literarischer Tod, die sich Rilkes bemächtigt haben, und er erlitt beide als ein mannhafter, tapferer Mensch.“ (S.216)

Fünf Bücher, die ich eventuell verschenken würde

Mir ist vor ein paar Tagen klargeworden, dass ich meine wiederkehrende Jahresend-Bücherrubrik jetzt schon schreiben muss. Denn am Jahresende werde ich keine Zeit haben. Dabei habe ich 2023 so viel gelesen wie nie zuvor. 49 Titel sind es bis jetzt, und es waren auch beleibte Bände dabei. Darunter fünf, die einen so starken Eindruck hinterlassen haben, dass ich sie unter Umständen verschenken würde. Hier sind sie, als verfrühter Rückblick auf das Lesejahr:

Kein Buch hat mich 2023 so fasziniert und so gequält wie dieser 1,5 Kilo schwere Ziegelstein. Fasziniert, weil er mein eurozentrisches Weltbild sprengte. Er lässt Weltgeschichte vor 4000 Jahren im heutigen Irak beginnen, mit einer Frau. Dann stellt er die Geschichte von Asien, Lateinamerika und Afrika effektvoll neben jene Europas und Afrikas. Gequält, weil das Buch letztlich doch sehr wenig Substanz hat. Der Autor leiert die Gräueltaten der grossen Dynastien mit dem voyeuristischen Vergnügen einer englischen Boulevard-Zeitung herunter. Bei ihm ist Weltgeschichte nichts als eine endlose Abfolge von Machthunger, Blutdurst und sexueller Gewalt. Immer wieder kommt das Buch an den Punkt, wo es interessante Fragen stellen könnte: Warum war das so? Wie waren die ökonomischen und politischen Verhältnisse damals? Aber genau da bricht der Autor einfach ab und richtet den Blick flugs auf eine andere Ecke der Welt. Dass sich unsere Spezies in vier Jahrtausenden trotz all diesen Grausamkeiten exponentiell vermehrt hat, steht zwar da. Aber erklärt ist es nicht mal ansatzweise. Wir sollten gelassen akzeptieren, dass der Mensch eine reissende Bestie ist, das ist Herrn Montefiores These. Ich habe das Buch selbst geschenkt bekommen, und mit der Zeit wurde die abendliche Lektüre von mindestens zehn Seiten (mit dem Handy auf den Knien, zum Googeln) eine Art Meditationsübung. Schenken würde ich es jemandem, der gerne wichtig aussehende Wälzer herumstehen hat. Oder jemandem, der mit mir darüber diskutieren möchte, was wir mit Herrn Montefiores These anfangen sollen. Aber nur zusammen mit dem nächsten Buch.

Diesen dünnen Band habe ich bereits einer Freundin geschenkt – weil wir beide ein gewisses Unbehagen gegenüber dem woken Feminismus teilen, der im Endeffekt so tut, als gäbe es Frauen gar nicht. Aber begeistert hat es mich schliesslich, weil es sich liest, als würde Susan Neiman Herrn Montefiore geradewegs ins Gesicht antworten: „Nein“, sagt sie. „Wir Linken nehmen nicht einfach hin, dass der Mensch eine reissende Bestie ist und bleibt und basta.“ Sie schreibt sinngemäss: Links sein heisst, darauf zu bestehen, dass Ansprüche auf Gleichheit, Gerechtigkeit und die Einhaltung der Menschenrechte nicht utopisch bleiben. Dass alle Menschen zwei Dinge gemeinsam haben: dass sie Schmerz und Mitleid empfinden können. Und dass dies unser Zusammenleben  definieren sollte – nicht unsere Zugehörigkeit zu einer Gruppe, einer Rasse, einer Dynastie. Oder unser Status als Opfer. Ich zweifle manchmal, ob es eine gute Idee ist, links zu sein, aber ich bin sicher lieber links als Montefiore.

Reines Leseglück! Dieser Roman hat einen Sound, einen leicht sphärischen Sound, etwa wie „Lucy in the Sky with Diamonds“ von den Beatles aus dem Jahre 1967. Und das ist kein Zufall, denn er spielt im Jahre 1967 und ist die Geschichte einer fiktiven Popband namens Utopia Avenue in Swinging London. Neben den vier sehr verschiedenen fiktiven Bandmitgliedern kommen da auch viele echte Musikgrössen von anno dazumal vor, der junge David Bowie etwa, der einen sphärischen Humor hat. Oder Gitarrengott Jimi Hendrix, der entweder sehr verladen ist oder einfach sonst kein origineller Plauderer. Ich würde es jeder und jedem mit meinen einstigen musikalischen Vorlieben schenken. Besonders aber jenen, die keine Musik mehr hören können und hier auf dem Papier die Leichtigkeit eines Spätsechziger-Songs zurückbekommen.

„Ach, weibliche Betroffenheitsliteratur“, habe ich geseufzt, als eine Freundin mir dieses Buch auslieh. Was habe ich in jungen Jahren solche Bücher gelesen! Klar, sie haben dazu beigetragen, dass ich ein kritisches Bewusstsein für das Patriarchat der 1980er-Jahre entwickelte. Aber heute sind wir doch viel weiter, da werde ich doch nichts mehr lernen können, dachte ich. Ich täuschte mich. Schutzbach liefert Antworten auf aktuelle Fragen wie: Warum müssen Frauen eigentlich immer noch so sehr darum kämpfen, ernst genommen zu werden? Ist es wahr, dass Frauen immer noch mehr Familienarbeit leisten als Männer? Und wenn ja: Warum? Warum hassen Frauen ihre Mütter (jedenfalls manchmal)? Und: Wie könnten wir es schaffen, Erwerbsarbeit, Care-Arbeit und Erholungszeit neu aufzuteilen? Zweierlei nehme ich ihr allerdings übel: Sie strengt sich furchtbar an, in ihrem Buch alle „weiblich sozialisierten“ Menschen mitzumeinen. Als würden nicht grossmehrheitlich Frauen weiblich sozialisiert. Oft verwendet sie den Begriff Flintaqs – ein Akronym, das Frauen und ihre Erfahrung gleichsam zum Verschwinden bringt. Und dann vergisst sie auch noch eine ziemlich grosse Gruppe Menschen, die mehrheitlich aus Frauen besteht: Jene, die sich um ältere Angehörige kümmern. Überhaupt vergisst sie Frauen Ü50. Sollte Schutzbach das hier je lesen, wird sie sich ermattet eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen und stöhnen: „Oh nein, nicht das auch noch!“ Allein für das Fünkchen Schadenfreude, das bei dieser Vorstellung aufglimmt, würde ich es meinen feministischen Freundinnen schenken, auch den älteren.

Auch wenn dieser Beitrag nun schon sehr gelehrsam ist: Dieses Buch des Engländers Oliver Bullough muss ich noch erwähnen. Ich würde es all jenen schenken, die sich für die Ungerechtigkeit des Spätkapitalismus interessieren, aber Finanzdienstleistungen halt so kompliziert finden. Es erzählt leicht verständlich und zuweilen sehr amüsant, wie das Vereinigte Königreich vom Kolonialherrn zum diensteifrigen Bankier für die Oligarchen der Welt wurde – und wie es damit arme Länder ärmer macht und gemacht hat. Wir erfahren hier so viel über Steuerdumping und -Hinterziehung, über Hinterzimmer-Finanzdeals und Casino-Spielchen,  dass ich mir oft gewünscht habe, es gäbe ein solches Buch über die Schweiz (die Bullough vergleichsweise harmlos findet). Leider hat das Buch ein frustrierendes Fazit: Der britische Staat ist mittlerweile derart abgewirtschaftet, dass zwar ein Wille besteht, wenigstens internationalen Standards von Fairness und Transparenz nachzukommen – aber es fehlen ihm einfach die Mittel dafür.

 

 

 

In eigener Sache

Falls jemand von Euch am kommenden Dienstag, 14. November, in Luzern sein sollte: Ich lese am Abend in der Loge Luzern an der Moosmattstrasse 25 drei kurze Texte. Die Veranstaltung heisst „Anlesen“ und bietet literarischen Neulingen einen recht intimen Rahmen, ihre Texte und literarischen Experimente präsentieren könnten. Wir werden zu sechst sein, ich kenne nur eine der ebenfalls lesenden Personen, Astrid von Rotz. Wir beide werden Text zum Thema Schwerhörigkeit vorlesen. Was die anderen machen? Da bin ich auch neugierig. Mehr Infos hier;

Loge – Deine Literaturbühne (logeluzern.ch)

 

Brief von meinem jüngeren Selbst

Bertolt Brecht, den mein jüngeres Ich sehr verehrt hat.

Es ist Mode geworden, dass man Briefe an sein jüngeres Selbst schreibt. Man tut es in der Psychotherapie, man tut es auf X (vormals Twitter). Meist tut man es, um die Ängste seines jüngeren Ichs zu beschwichtigen und ihm zuzuzwinkern: Ist ja alles besser herausgekommen als man mit 20 befürchtet hat. Kurz nach Kriegsausbruch im Nahen Osten war mir aber plötzlich, als bekäme ich einen Brief von meinem jüngeren Selbst. In einem Couvert aus in den achtziger Jahren gebräuchlichem, rauem Recycling-Papier. Als erstes fiel mir daraus ein Blatt mit einem Gedicht von Bertolt Brecht entgegen: An die Nachgeborenen. Ich schmunzelte. Die junge Frau Frogg war eine grosse Verehrerin von Bertolt Brecht. Unterstrichen hatte sie die Verse: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist“. Daneben hingekritzelt die Fragen meines jüngeren Selbst an mich: „Also, dass zu meinen Lebzeiten ähnlich kriegerische Zeiten ausbrechen werden wie damals bei Brecht, damit habe ich nicht gerechnet. Darf man bei Euch jetzt auch nicht mehr ohne schlechtes Gewissen über Bäume reden? Belastet Euch die Nachrichtenlage? Muss ich mir Sorgen um Euch machen?“

„Gemach! Gemach!“ antwortete ich meinem jüngeren Selbst unverzüglich. „So schlimm ist es jetzt doch noch nicht. Bedenke doch: Brecht schrieb dieses Gedicht im Exil in den dreissiger Jahren, auf der Flucht vor den Nazis, die ihn wegen seiner kommunistischen Haltung staatenlos gemacht hatten. Die Verhältnisse waren damals für ihn und für viele in Europa unmittelbar und existenziell bedrohlich. Natürlich sind wir aufgewühlt, natürlich denken wir an die Opfer dieser entsetzlichen Hamas-Verbrechen. Natürlich streiten wir darüber, auf welcher Seite wir stehen. Aber wir erleben auch (leider), wie man gegen schlechte Nachrichten unempfindlich wird, wenn sie nicht gleich aus dem Nachbardorf kommen. Die Lage in der Ukraine? Im Moment eher nebensächlich. Und am letzten Wochenende verfolgten wir geradezu euphorisch ein Gott sei Dank stinklangweiliges Ritual: Parlamentswahlen in der Schweiz. Die Stimmung in den Fernsehstudios war ¨überschwänglich, dabei waren die Wähleranteilverschiebungen minim (und fielen leider zugunsten der Rechtsbürgerlichen SVP aus). Das Hochgefühl mag – zugegeben – auch damit zusammenhängen, dass Wahlen, deren Resultate niemand in Zweifel zieht, auch in so genannt demokratischen Staaten keine Selbstverständlichkeit mehr sind. (Edit: Kurz nachdem ich das hier geschrieben hatte, kam heraus, dass man auch den Schweizer Wahlen nicht mehr trauen kann: Das Bundesamt für Statistik  hatte sich um ein paar Promillepünktchen verrechnet. Kurze Entrüstung in den Medien, mehr nicht).

Haben wir deshalb aufgehört, über Bäume zu reden? Oder über das Wetter? Nein, im Moment dürfen wir zum Glück wieder freundlich sein zu unseren Bekannten. Zugegeben: Während der Pandemie war das manchmal anders. Aber das vergessen wir jetzt lieber.“

Das Doppelleben meines Deutschlehrers

Mein Deutschlehrer am Gymnasium war ein grauer Funktionär. Während jeder Deutschstunde sagte er irgendwann: „Nehmen Sie Ihre Hefte zur Hand.“ Dann diktierte er uns durch die Geschichte der deutschsprachigen Literatur von Walther von der Vogelweide bis ungefähr Uwe Johnson. Er diktierte uns durch Metrik und Rhetorik. Wir schrieben, und an den Prüfungen mussten wir das alles nur detailgetreu wiederholen können, dann war’s gut. Er hatte etwas Gütiges im Gesicht, aber er vermittelte staubtrockenes Wissen, keine Neugier und nie Begeisterung. 1985 machten wir die Matura, er wurde pensioniert. Er hiess Linus Spuler. Das ist sein Klarname, und wenn ihm jemand hier ein ehrerbietigeres Denkmal setzen möchte, so ist er oder sie in den Kommentarspalten sehr willkommen. Es hat sich ohnehin gezeigt, dass mein Bild von ihm nicht annähernd vollständig war.

Ich ging an die Uni, studierte trotzdem Germanistik (im Nebenfach) und dachte selten an ihn. Bis an einem Morgen in der vergangenen Woche. Ich lag kränkelnd im Bett und las „Der Parzival des Wolfram von Eschenbach“ von Dieter Kühn. Ein Buch, das das Mittelalter sehr anschaulich macht, auch für Nicht-Germanisten. Obwohl Kühn gelegentlich akademische Quellen zitiert. Auf S. 148 etwa eine Arbeit von „Judy Mendels und Linus Spuler“. Linus Spuler! Ich stiess einen Überraschungsruf aus. War es möglich, dass ich in einem Werk der deutschen Literatur aus den neunziger Jahren eben meinem Lehrer aus der Schweizer Provinz begegnet war?! Es kann doch im 20. Jahrhundert nicht mehrere Germanisten mit diesem Namen gegeben haben! Hatte mein Gymi-Lehrer einst kühne akademische Träume gehabt und gar eine kongeniale Forschungsgemeinschaft mit einer Frau namens Judy Mendels?!

Ich begann, meinen 2014 mit 93 Jahren verstorbenen Deutschlehrer im Internet zu stalken, und siehe da: Er war’s. Er hat zwischen 1959 und 1965 mehrere Artikel mit Mendels veröffentlicht, unter anderem über einen Hof in Thüringen, an dem Wolfram sein Talent entfalten konnte. Aber auch über Rainer Maria Rilke. Judy Mendels lehrte damals an einer Hochschule in Buffalo, NY, USA. Er war in Luzern. Lernten die beiden sich an einer Fachtagung kennen? Verliebten sie sich? Reisten sie zusammen nach Thüringen? Ach Gott, nein, wahrscheinlich nicht! Thüringen lag damals in der DDR und dort kann ich ihn mir nicht vorstellen. Die letzte Publikation der beiden erschien 1965 und trägt den häuslichen Titel: „Sour Apples – Cooked Sweet“, eine deutsche Grammatik für Anfänger. Erschienen im Eigenverlag in Luzern. Aha, Ende des Thüringer Abenteuers, fabulierte ich. Da haben sie sich wohl zusammen niedergelassen und waren fortan mit ihrem Nachwuchs beschäftigt.

Aber je länger ich forschte, desto unwahrscheinlicher wurde diese These. Denn Mendels schien auch nach 1965 in Buffalo gewesen zu sein. Erst nach längerer Recherche fand ich ihre Biografie auf einer niederländischen Website. Mendels wurde 1906 in Zaandam geboren, war also 15 Jahre älter als Spuler. Während ich das mit Hilfe von ChatGPT übersetzte, rauschte das 20. Jahrhundert an mir vorüber. Mendels war Jüdin, überlebte den Holocaust in den Niederlanden, als Pflegemutter von Waisen im Durchgangslager Westerbork. Sie emigrierte erst 1947 in die USA. An ihrer Uni war sie eine der ersten weiblichen Lehrkräfte. Eine resolute, engagierte, wohl oft auch strenge Frau. Sie kam erst 1972 nach Luzern, mit ihrer Pflegetochter, die eine renommierte Musikerin geworden war.

Was nicht erklärt, wie sie mit Linus Spuler verbunden war. Aber einerlei. Ihn sah ich in seinen letzten Arbeitsjahren in den Pausen oft bewegungslos am grossen Nordwestfenster stehen, allein. Er blickte hinaus in den Herbst oder Frühling oder Winter. Träumte er? Wartete er auf die Pensionierung? Ging er im Kopf seine nächste Stunde durch? Hatte er noch Kontakt mit Judy Mendels? Kann es sein, dass wir ahnungslosen Teenager ihn mehr gelangweilt haben als er uns?