Schwerhörig: Die verblüffende Schärfe verständlicher Sprache

Wie fühlt es sich an, in normalen Gesprächen gesprochene Sprache schlecht zu verstehen? Und warum fragen wir Schwerhörigen oft nicht nach, wenn wir im Gespräch nicht mitkommen? Ich habe mich schon oft gefragt, wie ich Euch das erklären könnte. Dann stiess ich bei Walter Benjamin auf folgendes französische Gedicht und merkte: Das ist ein Beispiel, an dem ich es vielleicht bildhaft zeigen kann.

Car il me plaist pour toy faire ici ramer
Mes propres avirons dessus ma propre mer,
Et de voler au Ciel par une voye estrange,
Te chantant de la Mort la non-dite louange.“

Pierre Ronsard: Hymne de la Mort
A Louys des Masures

Ich beherrsche die französische Sprache wahrscheinlich etwa auf dem Niveau B2, der Text gibt mir ähnlich viele Rätsel auf wie manche deutschsprachige Gesprächsfetzen, die ich am Alltag so mitbekomme. Ich scheitere schon im ersten Vers: Was heisst „ramer“? In guter Schwerhörigen-Manier versuche ich, die Bedeutung des Wortes aus dem Kontext zu erschliessen: Hier wird ein „Du“ angesprochen, es herrscht eine gewisse Intimität – zugleich haben wir aber die blaue Weite eines Meeres und des Himmels. Und „plaist“ muss eine alte Form von „plaît“ sein, „es gefällt“, das Gedicht könnte also mehrere hundert Jahre alt sein. Erst denke ich: Das ist jetzt etwas wolkig, aber es muss genügen, sonst komme ich in diesem dicken Band nie vorwärts.

Doch dann hole ich das Handy und lasse mir „ramer“ übersetzen. Es heisst „rudern“, und „mes propres avirons“ sind „meine eigenen Ruder“. Dass ich das jetzt verstehe, lässt mich die Situation ganz neu und mit verblüffender Schärfe sehen. Das passiert mir oft bei Gesprächen, in denen ich die Laune der Sprechenden und der Hörenden errate und vage das Thema – und dann geradezu erschrecke, wenn mit später klar wird, was jemand tatsächlich gesagt hat. Sprachverständnis ist durch nichts zu ersetzen.

Nehmen wir jetzt an, ich würde mit fünf Personen an einem Tisch sitzen, die Französisch akustisch und semantisch gut verstehen. Sie alle würden diesen Text vorgelesen bekommen. Klar, danach würden sie sofort zu diskutieren beginnen. Wenn ich jetzt mitdiskutieren und somit volle Inklusion will und frage, was „ramer“ heisst und was „mes propres avirons“ sind, dann müssten sie das Gespräch komplett neu organisieren, ganz allein für meine Wenigkeit. Vielleicht rudere ich dann doch lieber alleine.

Denn wenn ich nicht nachfrage, haben sie unter sich bereits angefangen, weitere Rätsel im Text zu lösen, zum Beispiel: In welchem Jahrhundert lebte Pierre Ronsard? Wer war Louis des Masures? Vielleicht bekomme ich davon dann auch Gesprächsfetzen mit und habe wenigstens zum Teil etwas vom Gespräch.

Zitiert aus dem Passagenwerk von Walter Benjamin, S. 301

Schwerhörig: Mit dem Mikrofon in den Buchclub?

Soll ich als hochgradig Schwerhörige meinen Kolleginnen und Kollegen im Buchclub immer wieder sagen, dass ich schlecht höre? „Unbedingt, und nicht nur das“, findet meine Kollegin, Frau Wolf, selbst hochgradig schwerhörig. Sie ist ebenfalls in einem Buchclub und nimmt an alle Sitzungen ein Mikrofon mit. Stets achtet sie darauf, dass es im offiziellen Teil der Sitzung konsequent bei jeder Wortmeldung weitergereicht wird und alle Sprechenden es benutzen.

Ich weiss nicht recht“, sage ich. „Ich verstehe rund 40 Prozent von dem, was gesagt wird. Oft reicht das. Und viele Frauen kommen nach einem anstrengenden Arbeitstag in den Buchclub, und nachdem sie ihre Kinder versorgt haben. Die wollen einfach ein bisschen Spass haben und nicht auch noch auf Leute wie mich Rücksicht nehmen müssen! Ja, wenn es eine berufliche Weiterbildung wäre, würde ich auf bestmögliche Teilhabe pochen. Aber im Buchclub?!“ Frau Wolf denkt nach und fragt: „Wie viele Teilnehmde sind es?“ Ich: „So 15 bis 20.“ Sogar Frau Wolf räumt ein, dass es da sehr viel Zeit brauchen würde, für jede Wortmeldung das Mikrofon herumzureichen.

Schweizerdeutsch 32: Ein jugendlicher Tunichtgut

Är esch em Tüüfel ab em Charre gheit

Standarddeutsch: Er ist dem Teufel von der Karre gefallen

Heisst: Er ist ein Tunichtigut. Meist verwenden wir es für unberechenbare, im Extremfall kleinkriminelle Jugendliche; in der Regel aber liebevoll oder mit einem „chli“ – ein wenig – abgeschwächt.

Quelle: zvab.com

Aus dem Manesse-Bändchen mit Schweizer Erzählungen will mein Vater ganz entschieden eine Geschichte von Ludwig Hohl vorgelesen bekommen: „Drei alte Weiber in einem Bergdorf“. Vater sitzt im Rollstuhl und lauscht dieser Schilderung dreier wirklich gruseliger Greisinnen. Verstehe einer meinen Vater! Er könnte einen Klassiker haben, Jeremias Gotthelf oder Gottfried Keller, aber nein, Ludwig Hohl muss es sein. Dabei wissen wir beide nicht einmal recht, wer Ludwig Hohl war. Ich zücke das Handy, konsultiere Wikipedia (hier) und lese vor: „Hatte zeitlebens ein schwieriges Verhältnis zu den Eltern, … besuchte die Kantonsschule Frauenfeld, die er wegen des angeblich schlechten Einflusses auf seine Mitschüler vorzeitig verlassen musste. Als er in Zürich auch an der Handelsschule Minerva gescheitert war, verliess er sein Elternhaus und kehrte nie mehr zurück, … liess sich noch lange von den Eltern finanziell unterstützen.“ Ich schaue auf und schmunzle meinen Vater an: „Dä esch mäini chli em Tüüfel abem Charre gheit.“ Hohl wurde einer der bedeutendsten Schweizer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Leben in der Trump-Ära: Bücher aus den USA

Wegen des Zoll-Wahnsinns von Donald Trump sollten wir jetzt keine Waren aus den USA mehr kaufen, heisst es. Bislang erschien mir das einfach. Ich wollte nie einen Harley Davidson, beim Whisky bevorzugen wir – wenn überhaupt – Marken aus den schottischen Highlands und Levi’s Jeans haben eh noch nie zu meinen Kurven gepasst. Vielleicht bestelle ich sogar Netflix ab, dachte ich, und X sollte ich mir sowieso endlich abgewöhnen.

Aber jetzt lese ich, „James“, den überwältigenden Roman des US-Autors Percival Everett. Er erzählt die Geschichte von Huckleberry Finn’s Mississippi-Reise aus der Sicht seines Schwarzen Begleiters Jim – pardon, James. Dieser ist ein entflohener Sklave und schildert eindrücklich, wie er und seine Leidensgenossen schon als Kinder lernen, sich auch sprachlich kleinmachen, um zu überleben. Sklaverei ist gewiss die entsetzlichste Form von Ungleichheit. Aber was Jim da erzählt, ist teils auch auf andere Machtverhältnisse anwendbar. Und: Der Roman ist auf bitterböse Art lustig.

Nein, auf Romane aus den USA will ich nicht verzichten, denke ich. Romanautorinnen und -autoren sind ja auch so selten Republikaner, denke ich. Wir müssen doch die Meinungsvielfalt ennet dem Atlantik aufrechterhalten helfen, denke ich. Ich will nach „James“ auch Mark Twain’s „Abenteuer von Huckleberry Finn“ wieder mal lesen. Dieses Buch werde ich mir aber doch in der Bibliothek besorgen. Und danach werden wir dann sehen, wie teuer uns die Förderung der US-Meinungsvielfalt zu stehen kommt.

Leben in der Trump-Ära: Im Buchclub

In der Englisch-Lesegruppe sass plötzlich eine Amerikanerin neben mir. Ich hatte sie zuvor noch nie gesehen. Dass sie Amerikanerin ist, hörte ich an ihrer Aussprache. Kaum hatte sie zum ersten Mal den Mund aufgemacht, rang ich gegen ein Gefühl, das ich zuvor noch nie gehabt hatte: hochschiessende Abneigung gegen einen Menschen, nur wegen seiner Nationalität.

Wir diskutierten lauwarm über ein Buch, das niemanden von uns so richtig angesprochen hatte. Plötzlich begann jemand, über eine Trump-Biografie zu sprechen, die er gerade liest. Laute des Unmuts wurden hörbar. Die Amerikanerin beeilte sich zu sagen: „Ich habe ihn nicht gewählt.“

Schweizerdeutsch 20: Zankereien

Zum Schtriite bruchts immer zwöi.

Auf Standarddeutsch: „Zum Streiten braucht’s immer zwei.“

Erläuterungen: Mein kleiner Bruder und ich waren als Kinder ein streitsüchtiges Gespann. Wenn wir schliesslich sogar über die Frage zankten, wer angefangen hatte, pflegte meine Mutter den obigen Satz zu sagen. Daran habe ich lange Jahre geglaubt und bei jedem Streit versucht, beide Seiten zu sehen. Heute frage ich mich oft schon im Kleinen: Stimmt der Satz wirklich? Oder ist der Angreifer einfach ein Rüpel, der reinhaut, weil er es eben kann?

Wenn es um die globale Gemengelage geht, dann kann ich im Moment  nur Herfried Münklers „Welt in Aufruhr“ empfehlen: Münkler ist sachlich. Er geht von der Position aus, dass kriegführende Staatsoberhäupter einen Plan haben und ihre eigenen Motive verstehen. Auch wenn mein Bruder, auf dessen politisches Urteil ich mich mittlerweile gerne stütze, sagt: „Donald Trump hat keinen Plan. Er hat keine Ahnung, was er tut.“

Schweizerdeutsch: Warum mache ich das hier überhaupt?

Ich bin keine Sprachpuristin. Ich habe kein Problem damit, dass sich Sprache verändert. Deshalb habe ich mich lange Zeit gefragt, warum ich plötzlich diesen Drang verspüre, verschwindende Vokabeln und Redensarten aus der Sprache meiner Eltern zu sammeln und in meinem Kopf noch einmal nachklingen zu  lassen.

Dann las ich „Eine Arbeiterin – Leben, Alter und Sterben“ des Franzosen Didier Eribon. Das Buch ist ein zugleich liebevoller und distanzierter Nachruf auf seine verstorbene Mutter, und er schreibt: „Ich werde nie wieder Gelegenheit haben, aus dem Mund meiner Mutter jene Wendungen zu hören, die sie so gern brauchte, ihren Tonfall, ihre (laute) Art zu reden, ihren Akzent, ihre regionalen Ausdrücke.“* Dazu muss man wissen, das Eribon in Reims in einer Arbeiterfamilie aufwuchs, dann nach Paris ging und als Soziologe und Journalist europaweit bekannt wurde. Er schuf eine grosse Distanz zwischen sich und seiner Herkunft. Nachdem seine Mutter gestorben war, vermisste er jedoch ihre Sprache so sehr, dass er sogar ein Dialektwörterbuch der Gegend von Reims kaufte – in der Hoffnung, beim Lesen dieses Buches „besser zu verstehen, wer seine Mutter gewesen war“, quasi in der Sprache ihren Körper, ihren Gestus, ihren Habitus noch einmal zu rekonstruieren.

Eribon nervt teils, weil er ein solches Tamtam um seinen sozialen Aufstieg macht und um die Sprache, die in Paris die seine wurde. Ich wohne Luftlinie nur drei Kilometer von meinem Elternhaus entfernt und lebe in einem Milieu, das jenem meiner Eltern zum Teil ähnlich ist. Aber es sind halt vierzig Jahre vergangen, seit ich bei ihnen wohnte. Unsere Umgangssprache hat sich verändert. Und doch tue ich etwas sehr Ähnliches wie Eribon. Während mein Vater im Talgrund immer unbeweglicher wird, sitze ich da und sammle die Redensarten meiner Kindheit. Als könnte ich ihm damit noch einmal auf sein Töffli setzen.

Wenn ich sie für meinen Blog notiere, merke ich aber auch: Für für meine mehrheitlich nichtschweizerische Leserschaft ist halt doch eine erweiterte Vorgehensweise nötig. Aber darüber ein andermal mehr.

*Didier Eribon: „Eine Arbeiterin – Leben, Alter und Sterben“ : Suhrkamp, 2024

 

Im Namen aller Mütterchen in Beige

In den Jahren zwischen 50 und 59 fühlte ich mich beinahe sicher vor den  ungebetenen Tipps irgendwelcher Lifestyle-Päpstinnen. Aber kaum rückt der 60. Geburtstag näher, diskutieren wir plötzlich über Longevity oder über die Frage: Was heisst gut altern?

Neulich las mir Herr T. eine Passage des Buches „Altern“ von Elke Heidenreich vor, die ich selbst gnädig überlesen hatte. Die 81-jährige Autorin schreibt: „Ich sehe um mich herum Frauen, die anders altern als ich, und manchmal, wenn nach Lesungen eine Frau beim signieren zu mir sagt: ‚Wir sind derselbe Jahrgang‘, und ich sehe hoch, und da steht ein zerknittertes Mütterchen in beigen Omaklamotten, dann denke ich: Nee, jetzt, oder? Das bin nicht ich.“*

Sofort empörte sich mein Herz für alle „Mütterchen in beige“, obwohl ich selbst kein einziges beiges Kleidungsstück besitze. Ich wurde richtig laut und sagte schliesslich das, was ich zu Fragen des Kleidungsstils schon mein ganzes Leben lang sage: „Jede und jeder lebt nach bestem Wissen und Gewissen sein bestmögliches Leben!“ Mit 59 Jahren Lebenserfahrung würde ich einräumen, dass es gierige und zynische Menschen gibt. Aber die erkennt auch die Lifestyle-Päpstin nicht unbedingt an der Farbe der Bekleidung.

*Elke Heidenreich: „Altern“, Hanser Berlin, 2024, S. 62. Um eins klarzustellen: Ich möchte keiner Person die Lektüre vergällen, die das Buch vielleicht bald lesen wird. Es stehen auch einige sehr gute Dinge drin!

Gemeinsam lesen: Fünf Bücher des Jahres 2024

2024 fanden 52 Titel den Weg auf meine „gelesen“-Liste. Einige waren grossartig, andere habe ich schon fast wieder vergessen. Das Besondere an diesem Jahr: Ich habe diesmal mehr Bücher als sonst zusammen mit Freund*innen oder Verwandten gelesen. Um diese Lektüren ranken sich Geschichten, von denen ich hier zum Jahresausklang fünf erzählen möchte:

In unserer Nachbarschaft tobte 2024 das Bannalec-Fieber. Auf ihre letztjährige Bretagne-Reise angesprochen, lieh uns das Paar schräg übers Eck die „Bretonische Flut“ und einen weiteren Bannalec-Titel aus. Auch Herr und Frau Buddha planen gerade eine Tour bis hinaus nach Ouessant, und Frau Buddha, eine grosse Krimileserin, preschte deshalb in kürzester Zeit durch sämtliche Bannalec-Bände. Herr T. wiederum las die beiden Titel, die wir bekommen hatten (hier seine Impressionen). Ich fremdelte. Ich konnte einfach nicht ignorieren, dass sich im Wort „Bannalec“ das Wort „banal“ versteckt. Ich las dann doch diesen einen Roman des deutschen Bretagne-Verehrers und war angenehm überrascht: Er schildert das Licht, die betörenden Farben und die landschaftlichen Schönheiten der bretonischen Südküste so hingerissen, dass ich das alles selbst in der Erinnerung neu zu sehen begann.

Ein paarmal im Jahr besuche ich einen englischsprachigen Buchclub im steuergünstigen Nachbarkanton Zug. Es gibt in Zug mehr Expats als in Luzern und deshalb überhaupt genügend Leute, die an einem English Book Club interessiert sind.  T. C. Boyle’s Klimawandel-Gesellschaftsroman bekam von mir Bestnoten. Er ist hemmungslos spannend („Wen oder was wird die gruselige Pythonschlange aus dem ersten Kapitel fressen?!“). Und er zeigt, was wir alle tun angesichts des Klimawandels: Nichts. „Was sollen wir auch tun? Es liegt doch alles daran, dass wir einfach zu viele sind“, sagte eine der Teilnehmerinnen. Sie blieb unwidersprochen. Viele teilten ihre Meinung, ich fühlte mich zu schwerhörig, um mich mit ihr anzulegen.

Dieses Bändchen gehört auch heute noch zum Pflichtlesestoff für Germanistik-Studentinnen. „Komm, das lesen wir wieder mal!“ rief Paulina, als wir im Sommer darauf zu sprechen kamen. Wir haben beide eine Behinderung, deshalb können wir uns mit einem Taugenichts identifizieren. Wir wollten sogar eine ad hoc-Lesegruppe mit einem jungen Nachbarn Paulinas gründen. Aber der Junge schaffte es dann gar nicht durch das Büchlein. Ich zwar schon, aber ich wurde nicht warm damit, fand nur die Liedtexte schön, alle grossen Themen darin verschenkt, und sagte: „Das ist ja wie ein Musical! Viele Songs, aber sonst sehr oberflächlich.“ Paulina aber berichtete, Thomas Mann sei ganz begeistert gewesen über die Pflichtvergessenheit und die Ablehnung des Nützlichkeitskalküls durch Eichendorffs Protagonist. Ich muss wohl den Tatsachen ins Auge schauen, ich tauge nicht zur Germanistin.

Das bergige Land, aus dem mein Vater stammt, kann gruselig sein. Es gibt Sagen über Ungeheuer, die in den Tälern des Napfgebietes ihr Unwesen treiben. Darauf fusst dieser Krimi, mit dem er sich die ersten Monate vom tristen, neuen Dasein im Talgrund ablenkte. Das Buch wurde für die ganze Familie Pflichtlesestoff. Meine Mutter fand: „Ja, sehr unterhaltsam. Aber wenn die Luzerner Kriminalpolizei wirklich so ermittelt, wie das hier steht, dann gute Nacht!“ Mich hatte Autorin Mansour in der Tasche, als ich die Namen der drei alten Herren am Stammtisch der Beiz in Willisau las: Wermelinger, Hüsler und Aregger. „Der Lokalkolorit stimmt!“ freute ich mich. Nur mit dem Schluss war ich unzufrieden: Die psychologischen Probleme der Täterfigur nehme ich dem Buch nicht ab. Mein Vater jedoch w¨ünschte sich gleich Mansours Gesamtwerk zum Geburtstag, meist Krimis, die im Kanton Luzern spielen.

„Tim ist ein grosser Fan von Anna Rosenwasser“, verriet mir die Mutter meines Gottenbuben. Er folgt der 30-jährigen, queeren Aktivistin auch auf Instagram (@annarosenwasser). So schenkte ich ihm die Kolumnen-Sammlung der Zürcherin zum 19. Geburtstag. Ich wollte mit ihm über die SP-Politikerin diskutieren, denn diskutieren tun wir gern, auch kontrovers. Für mich wurde die Frau zur Provokation, als sie überraschend in den Nationalrat gewählt wurde und sich dann zierte, die Wahl anzunehmen. Tim steckte das Buch in eine erstaunlich grosse Innentasche seiner Jacke (in Sachen Modebewusstsein ist er mir um Lichtjahre voraus). Er las immerhin die Hälfte, diskutieren taten wir jedoch über viele andere Dinge. Mir (59) gefiel es, beim Lesen mitzubekommen, wie die Kolumnen im Buch zunächst noch etwas hölzern sind, wie die Autorin dann aber allmählich ihren ganz eigenen Ton findet.

 

 

Warum nur finden manche den Mississippi magisch?

Vor ein paar Jahren machte ich mit meiner Freundin Helga in Deutschland einen Ausflug nach Speyer. Sie zeigte mir den goldenen Hut im Museum, dann schlenderten wir zum Auto zurück. „Dort hinten liegt der Rhein“, sagte sie beiläufig. Ich sofort: „Oh, da will ich unbedingt hin!“ Sie sah mich befremdet an. „Da gibt es aber nicht viel zu sehen“, meinte sie. „Das ist einfach ein Fluss.“ Ich grinste: „Du bist kein sehr reisefreudiger Mensch, oder?“ Ich gab keine Ruhe, bis wir am Rhein standen und ich die Hand ins Wasser getaucht hatte. Mich beglückte die Vorstellung, vielleicht einen Tropfen am Finger zu haben, der 350 Kilometer flussaufwärts durch meine Heimatstadt Luzern geflossen war. Denn durch meine Heimatstadt fliesst die Reuss, und die wiederum mündet bei Brugg im Aargau in die Aare – und die wiederum etwas weiter nördlich in den Rhein.

Die Episode ging mir durch den Kopf, als ich „Iowa“ von Stefanie Sargnagel las. Die 38-jährige Autorin schildert darin ihren „Ausflug nach Amerika“ mit der Musikerin Christiane Rösinger im Jahre 2022. Zunächst sitzen die beiden in einem Unort namens Grinnell fest. Aber dann werden sie eines Autos habhaft, und plötzlich tun sich ungeahnte Möglichkeiten auf. Bei näherer Betrachtung klingen allerdings auch diese Möglichkeiten recht banal, halt das, was die Touristin so macht. Bis die Idee auftaucht, an den Mississippi zu fahren. „Mit einem Mal verklärt sich Christianes Blick“, schreibt Sargnagel (S. 137). „Etwas ist entfacht“ bei der Freundin. Stefanie erwidert trocken: „‚Ok, dann machen wir Mississippi, ist notiert.'“

Das tun sie dann auch. Sie erreichen den Strom bei Dubuque im Staate Iowa. Dort ist Christiane „glücklich und streckt ihre Nase in den Wind“. Stefanie dagegen findet alles hier „zubetoniert und deprimierend“ und hat auch noch Menstruationsschmerzen. Sie reisst sich dann aber zusammen und erzählt eine magische Anekdote über Christiane und den Fluss und die Pelikane am Fluss, die sie vielleicht gesehen haben und vielleicht auch nicht. Warum nur fühlen manche Menschen den Sog, den nur schon der Name eines Flusses haben kann und manche nicht?

Stefanie Sargnagel: „Iowa – ein Ausflug nach Amerika“, Rowohlt Verlag, 2. Auflage, 2024