Der Mann, der ein Frauenleben führte

Kein Roman hat mich in letzter Zeit mehr beschäftigt als dieser hier. Der englische Starautor Ian McEwan schildert darin die Biografie des Babyboomers Roland Baines. Die Geschichte fordert mich als Post-Babyboomerin und Hobby-Genderforscherin geradezu heraus. Denn Roland führt in mehreren Hinsichten das Leben einer Frau – jedenfalls nach Babyboomer-Massstäben. Es ist beinahe, als würde McEwan sagen: „So, jetzt nehmen wir mal einen männlichen Charakter und stülpen ihm ein paar weibliche Erfahrungen über.“ So wird Roland mit 14 im Internat von einer Klavierlehrerin sexuell missbraucht – eine Erfahrung, die seine Biografie entscheidend prägen wird. Nun passiert zwar sexueller Missbrauch in den Teenagerjahren tatsächlich ab und zu bei Jungs – sehr viel häufiger ist er aber bei Mädchen (und bei Knaben sind die Täter häufig Männer).

Später dann, als Roland 38 ist und einen Sohn im Babyalter hat, wird er von seiner Frau verlassen. Fortan ist er alleinerziehender Vater. Eine Situation, die unzählige Babyboomer-Frauen kennen, Männer sehr viel seltener.

Dass er nun allein für ein Kind sorgen muss, haut einen weiteren Knick in seine ohnehin zögerlich einsetzende Karriere als Dichter. Überhaupt findet Roland beruflich nie so richtig den Tritt. „Er ist ein Fantast, Mutti, er kann sich auf nichts konzentrieren. Er hat Probleme in seiner Vergangenheit, über die er nicht einmal nachdenkt. Er kann nichts erreichen“, wird die Frau einmal sagen, die ihn als alleinerziehenden Vater zurückgelassen hat. Auch die meisten Kritiker sind sich einig, dass Roland gescheitert ist. Hätten sie das auch so gesehen, wenn die Hauptfigur in dieser Geschichte nicht ein Mann, sondern eine Frau gewesen wäre? Wenn sie Orlanda geheissen hätte und nicht von einer Frau, sondern von einem Mann missbraucht und später allein erziehende Mutter geworden wäre?

Überhaupt: Dieses Spiel mit der Geschlechterfrage überzeugt mich nicht. Zum Beispiel erlebt Roland das erste Mal mit seiner Klavierlehrerin als sexuelles Erweckungserlebnis, hinter dem alles andere verschwindet: „Ihre Rollen, Lehrerin und Schüler, die Ordnung und Selbstgefälligkeit der Schule, Stundenpläne, Fahrräder, Autos, Kleider, sogar Worte – nur dazu da, alle von dem hier abzuhalten.“ Das ist in meinen Augen eine reine Männerphantasie, stark beeinflusst von McEwan’s Sigmund Freud-Lektüre. Meine eigene, zum Glück recht harmlose Erfahrung mit sexuellem Missbrauch im Teenageralter, war nicht einmal ansatzweise eine sexuelle Erweckung, sondern erfüllte mich nur mit Scham und Ekel.

Vielleicht ist das Urteil der Literaturkritikerin Bernadette Conrad das einzig richtige: Sie schreibt, der Roman funktioniere am besten als Chronik eines Zeitgenossen. „Lässt man sich tiefer auf die Krisen ein, gerade des sexuellen Missbrauchs, die Rolands Leben geprägt haben, dann vermisst man die gründliche Auseinandersetzung.“ (Die ganze Kritik gibt’s hier).

Und doch hat die Lektüre mich dazu getrieben, mich vertieft mit dem Erlebnis auseinanderzusetzen, das ich selbst vor bald 44 Jahren hatte. Und sie hat mich mit der Frage konfrontiert: Was bedeutet es, beruflich vielleicht nicht jene Marke zu setzen, die man hätte setzen können? Ist das wirklich ein Scheitern? Und wie hängt es tatsächlich mit misslichen und vielleicht sehr geschlechtsspezifischen Erfahrungen in der Kindheit und Jugend zusammen? Und, nein, ich bin nicht damit einverstanden, dass man es als Scheitern einstuft, wenn sich jemand um sein Kind kümmert und daher vielleicht ein bisschen weniger weit nach oben kommt auf der Karriereleiter.

Wer hat die bessere Zukunftsvision?

Aus der angelsächsischen Popkultur kennen wir diese merkwürdigen Entweder-Oder-Fragen: Cat Person oder Dog Person? Beatles oder Stones? Ich kann solche Fragen nie eindeutig beantworten. Ich weder eine Hunde- noch eine Katzenperson, aber ich liebe meine Zimmerpflanzen. Und was die Musik betrifft, fand ich mal: Die Beatles sind etwas für die obere Körperhälfte, die Stones eher für die untere – warum also nicht beides? Richtig kompliziert wird’s indes bei der Frage: Wer hat die bessere Dystopie geschrieben? Aldous Huxley oder George Orwell? Die beiden Autoren werden immer wieder verglichen, denn es sind ja beide Engländer – und beide haben vor bald 100 Jahren grosse Romane über den Zustand der Welt in einer damals unheimlich erscheinenden Zukunft verfasst. In einer Zeit, die vielleicht jetzt unsere sein könnte.

Ich habe kürzlich beide wieder mal gelesen, Orwell und Huxley, und ich muss sagen: Was den politischen Riecher betrifft, bin ich eindeutig im Orwell-Team. Im Moment vergeht kein Tag, an dem ich nicht an seinen Roman „1984“ denke. Orwell beschreibt darin, wie sich die drei Machtblöcke USA, Russland und China in wechselnden Bündnissen gegenseitig bekriegen. Das klingt geradezu unheimlich aktuell. Ausserdem kann man bei Orwell viel über die Lüge in der Politik lernen. Er beschreibt Phänomene, die wir seit Donald Trump’s Präsidentschaft sehr gut kennen. Etwa dieses seltsame Flimmern im Kopf, wenn man das, was man für wahr hält und die Lüge des einstigen US-Präsidenten vergleicht. Und dann die Möglichkeiten der totalen Überwachung und was daraus werden könnte! Schauderhaft.

Viele Leute im Huxley-Team finden, der grosse Zukunftsroman „Brave New World“ aus dem Jahre 1932 porträtiere genau den ungehemmten Hedonismus unserer Zeit: Alle haben ständig Sex mit ständig wechselnden Partnern, Partys ohne Ende und alle nehmen eine Droge, die legal, unschädlich und erst noch gratis ist. Alle sind unerhört sensationslüstern. Alle shoppen ständig, damit alle anderen Arbeit haben.

Aber dieses Urteil dünkt mich oberflächlich, denn hier hat es sich auch schon mit den Gemeinsamkeiten. Die Menschen in Huxley’s Welt leben unter komplett anderen Voraussetzungen als wir. Damit ihr Wohlstand und ihr ungehemmter Hedonismus überhaupt möglich sind, wachsen sie nicht im Mutterleib heran, sondern werden vom Staat im Labor nach Bedarf gezüchtet.  Sie werden für ein Leben in einem strikten Klassensystem mit medizinischen Eingriffen vorprogrammiert. Alle müssen also schon als Embryonen schwerwiegende Verletzungen ihrer Grundrechte hinnehmen – sie werden geklont, an ihnen wird herumgedoktert, als Kinder werden sie alle im gleichen Schlafsaal gleich indoktriniert, denn keines von ihnen wird je eine Familie haben. Also wird sich auch niemand je Sorgen über Kinder oder kranke Angehörige machen müssen. Und den wenigsten  wird je ein individueller Gedanke durch den Kopf gehen. All das ist von wohlmeinenden Staatsvätern so eingerichtet, (Staatsmütter gibt es keine. Denn nur Männer werden so konditioniert, dass sie den nötigen Grips haben, einen Staat zu lenken).

Um es etwas polemisch zu sagen: Bei uns ist die Welt doch genau umgekehrt: Unsere Grundrechte sind einigermassen intakt und wir sind Individuen oder fühlen uns wenigstens als solche. Dafür haben wir ständig Geld- und Familiensorgen, fürchten um unseren Job und unseren gesellschaftlichen Status und den unserer Kinder. Unsere Drogen sind nicht besonders wirksam, gefährlich oder illegal. Und unser Hedonismus ist vielleicht einfach Ablenkung.

Und dennoch: Der Roman ist brilliant und packt und sorgt für Diskussionsstoff. Vielleicht muss man die beiden Autoren gar nicht gegeneinander ausspielen – vielleicht hat Orwell mehr über das schlimmstmögliche politische System nachgedacht und Huxley mehr über das Wesen und die Möglichkeiten des Menschen überhaupt. Aber das geht definitiv weiter als die angelsächsische Popkultur so allgemein.

Alteisen und künstliche Intelligenz

Einmal im Jahr noch sehe ich Veronika, weil ihr Sohn Tim mein Patensohn ist. Ich begegne ihr jeweils, wenn ich ihm am ersten Weihnachtstag sein Geschenk überbringe. Er wird bald 18. Sie arbeitet mit 57 an ihrer Doktorarbeit und redete mir an unserem halbstündigen Treffen die Ohren voll über künstliche Intelligenz.

Selten fühle ich mich jeweils so sehr zum alten Eisen versetzt wie bei diesen jährlichen, kurzen Treffen mit Veronika. Ich meine: Seit Jahr und Tag versehe ich, auch 57, ein- und denselben Job. In meinen Lebensumständen die Stelle wechseln zu wollen, wäre – vorsichtig ausgedrückt – bekloppt. Daneben spaziere, fotografiere und meditiere ich, ohne grössere Ambitionen. Einfach, weil es mich glücklich macht. Jaja, künstliche Intelligenz habe ich auch schon ausprobiert. Ich bin ja auch noch Hobby-Schriftstellerin.

Aber wenn Veronika zu mir spricht, dann fühle ich mich abgehängt wie ein rostender Bahnwaggon auf einem Abstellgleis – ein Memento des Industriezeitalters inmitten herumsausender Bytes und Bits. Und wer „Memento“ denkt, denkt auch gleich „memento mori“ – vergiss nicht, dass Du sterben wirst. Ob sich meine früheren Freundinnen an ihre Hinfälligkeit erinnern, wenn sie mich sehen?

Zum Glück fand ich wenig später ersten Trost bei meinem Lieblingskolumnisten Daniel Binswanger in der „Republik“. Sein Text vom 7. Januar, Die Ökologie des Verschwendens, ist ein einziger Aufruf dazu, den zweckfreien Genuss wieder zu erlernen. Denn nur wenn wir uns der kapitalistischen Logik des ständigen persönlichen und materiellen Maximaleinsatzes entzögen, könnten wir die Welt vor dem Klimakollaps retten, so seine These: „Um Ressourcen zu sparen, müssen wir wieder lernen, zu verschwenden: unsere Zeit. Wir müssen die Welt so annehmen, wie sie ist. Bei ihr verweilen. Um sie zu betrachten und zu feiern.“ Das ist ja ungefähr das, was ich tue. Und es hat also durchaus einen Sinn. Es ist eigentlich sogar das einzig richtige.

Ich wollte mir aber beweisen, dass ich dennoch auf der Höhe der Zeit stehe und befragte künstliche Intelligenz zum Thema, genauer, GPT-3, hier zu finden. Ich frage: „Gehören Menschen ab 57 zum alten Eisen, wenn sie seit Jahren den gleichen Job haben?“

GPT-3 antwortet spitz: „Nein, das denken nur diejenigen, die selbst alt und eingeschlafen sind.“

„Lieber blind oder taub?“ Die schlagfertige Antwort

Jede Schwerhörige kennt folgende Stelle in einer Konversation. Nachdem sie sich als Schwerhörige geoutet hat, kommt sofort: „Ach, nein sowas! Aber stell Dir vor: Du könntest blind sein! Das wäre ja noch viel schlimmer.“ Ich nicke dann meist nachsichtig und wechsle das Thema. Oft geht es ja nur um Small Talk. Outet man sich da als Schwerhörige, muss die Hörende unversehens darüber nachdenken, ob sie jetzt Mitleid aufbringen sollte. Das ist eine Zumutung, die augenblicklich abgewehrt gehört. Dabei geht gerne vergessen, dass die Schwerhörige in der Regel gar kein Mitleid will – sondern nur Nachsicht dafür, dass sie im Gespräch vielleicht nicht sofort alles versteht.

An Weihnachten hatte ich die Gelegenheit, bei einer Verwandten eine schlagfertige Antwort auf das Taubheits/Blindheits-Konversationshäppchen auszuprobieren – sie stammt  von Peter Lienhard, einer Schweizer Kapazität in der Forschung über Sinnesbehinderungen. In seinem Buch „Ertaubung als Lebenskrise“ (1992) setzt er sich genau mit dieser Frage auseinander, die, so schreibt er, schon Kinder stellen würden.

Wenn es diese Entscheidungsmöglichkeit gäbe, wäre sie absurd, fügt er korrekt hinzu. Aber er beantwortet die Frage dann doch: Wer sie hätte, täte gut daran, als Kind die Blindheit und als Erwachsene die Taubheit zu wählen. Denn die Lautsprache sei für ein Kind ein enorm wichtiges Vehikel der Kognition – könne es sie nur mit Mühe lernen, bringe das grosse Nachteile. Wer erst als Erwachsene ertaubt, beherrscht die Lautsprache meist weiterhin. Während Blindheit die Orientierung auf sehr einschränkende Weise erschwere.

Für manche Menschen mit Seh- und Hörbehinderung liest sich das jetzt vielleicht abwertend – gerne öffne ich meine Kommentarspalte zu diesem Thema. Aber der Verwandten warf ich den fett gedruckten Satz vor, mitsamt Begründung. Ich erzielte die erhoffte Wirkung (jedenfalls teilweise): Sie lächelte respektvoll und wechselte das Thema.

 

 

 

Vier Lieblingsbücher des Jahres 2022

In normalen Jahren kreise ich mit meinen Lesegewohnheiten um die westlichen Obsessionen von Selbstwerdung, Rasse, Gender und Klasse.  Doch 2022 war kein normales Jahr. 2022 fühlten sich diese Themen plötzlich seltsam irrelevant an, irgendwie lauwarm. Auf Twitter tat ich etwas, was ich mir nie im Leben hätte vorstellen können: Ich folgte Strategie-Experten. Auch bei der Wahl meiner Bücher liess ich mich vom Krieg in der Ukraine leiten.

Ich gehöre zwar nicht zu jenen, für die Romane aus der Ukraine plötzlich zur Mode wurden – spätestens ab Oktober wollte ich aber wenigstens etwas fundierter verstehen, was dort vor sich geht. Und so beginnt meine Bestenliste mit einem 395 Seiten starken Geschichtsbuch. Ich stehe auf Seite 259 und beisse mir daran zuweilen fast die Zähne aus. Aber es ist extrem lohnende Lektüre. Weil es den eisernen Vorhang aufreisst, der vielen von uns noch immer den Blick auf Osteuropa verstellt. Weil es schlüssig zeigt, dass die Bestrebungen der Ukrainer nach Unabhängigkeit bis mindestens ins 17. Jahrhundert zurückreichen. Weil es zwar staubtrocken ist, zuweilen aber auch deftige Geschichten erzählt, manchmal lustig, oft grausam. Zum Beispiel, wie die Heilige Olga von Kiew um 945 ihre Widersacher in der Sauna zu Tode schmoren liess.

Vor Oktober war ich dieses Jahr weitgehend mit meinem Krebs beschäftigt. Um die verstörende Diagnose irgendwie einzuordnen, bohrte mich wie besessen durch die Klassiker der Krankheit – von Dostojewski über Thomas Mann bis Audre Lorde. Was mir aber auf ganz besondere Weise half, war „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf. Die Geschichte von zwei Jugendlichen, die mit einem alten Lada ausbüxen, hat direkt nichts mit Krebs zu tun. Ihre Entstehungsgeschichte indes schon. Autor Wolfgang Herrndorf vollendete es, nachdem er die Diagnose Hirntumor erhalten hatte. „Ich werde noch ein Buch schreiben“, sagte er sich, „egal wie lange ich noch habe.“ Nachzulesen in seinem Krebsjournal „Arbeit und Struktur“ (Seite 107), auch ein bemerkenswertes Buch. „Tschick“ wird oft an Schulen gelesen, und die zum Lesen Verdonnerten finden es dann gekünstelt. Ich fand es melancholisch und heiter und sehr liebenswürdig. Beim Lesen habe ich einmal abends so laut gelacht, dass Herr T. erschrocken ins Zimmer kam und fragte, ob alles in Ordnung sei.

Es waren meine Buchclub-Freundinnen, die meine Aufmerksamkeit wieder gen Westen richteten und mich auf mein absolutes Lieblingsbuch 2022 stossen liessen. „Shuggie Bain“ ist so vieles aufs Mal, dass ich gar nicht weiss, wo ich anfangen soll – unglaublich traurig, unglaublich lustig, unglaublich eklig, brutal und weise. Die perfekte Lektüre gegen Selbstmitleid – denn wer glaubt, sein Leben sei krass schwierig, wird es sich beim Lesen dieser Geschichte vielleicht nochmals überlegen. Der Protagonist, klein Shuggie, wächst in den 1980er-Jahren in den Arbeitervierteln von Glasgow auf, seine Mutter ist Alkoholikerin und er selbst entspricht so gar nicht den brutalen Männlichkeitsvorstellungen, die unter seinen Schulkameraden vorherrschen. Autor Stuart weiss, wovon er spricht – die Geschichte, obwohl fiktiv, hat starke autobiografische Züge. Wer kann, sollte es auf Englisch lesen – die Dialoge, die in schottischem Dialekt gesprochen sind, klingen wie  dreckigster Rock ’n‘ Roll.

Ein riesiges Schloss mit unzähligen Zimmern. Der erste Stock wird regelmässig von den Gezeiten überflutet. Mitten drin ein sympathischer Ich-Erzähler, der dort ganz allein und total verloren ist und doch alles mit liebender Neugier und analytischem Verstand erforscht. Und der geheimnisvolle Andere, der gelegentlich auftaucht und vielleicht ein Helfer ist, vielleicht aber auch eine tödliche Bedrohung – „Piranesi“ ist ein rätselhaftes Buch, auch ein tröstliches, halb literarischer Fantasy-Roman, halb Thriller. Es dreht sich um die Frage, was uns in extremer Isolation zurechtkommen lässt – eine Frage, die mich ein Leben lang beschäftigt hat, mit zunehmender Schwerhörigkeit wieder mehr und anders als noch in meinen jungen Jahren.

Sind das hier Lesetipps? Oder ist es diesmal einfach ein in Bücher gepackter, persönlicher Jahresrückblick? Beides, denke ich. Und verabschiede mich erst mal bis zum nächsten Jahr. Rutscht gut, Freundinnen und Freunde! Und bis 2023.

Dostojewski und der Mann mit dem Messer

Verhinderter Heiland. Der Protagonist von „Der Idiot“-

Man kann einen guten Roman auf 1000 Arten lesen, und „Der Idiot“ von Dostojewski ist ein guter Roman. Aber ich muss jetzt Farbe bekennen. Ich muss sagen, dass ich die Lesart der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko berechtigt finde (ich habe sie hier kurz zusammengefasst). Diese Geschichte weckt in der Tat Verständnis für mindestens einen sehr grausamen Menschen – und die westliche Literaturkritik hat dies meines Wissens geflissentlich übersehen. Die Rede ist – Achtung, alles Folgende ist ein ausführlicher Spoiler! – vom Messerstecher Rogoschin.

Rogoschin begegnet dem Romanhelden, Fürst Myschkin, gleich auf dem ersten Seiten, im Nachtzug nach St. Petersburg. Schon hier erscheint Rogoschin als an sich unsympathischer Mensch, dessen Lippen sich „fortwährend zu einem dreisten, spöttischen, sogar boshaften Lächeln“ verformten (S. 6.). Sein Gesicht erwecke den Anschein einer „peinvollen Leidenschaftlichkeit“. Er nähert sich Myschkin in „ungenierter, geringschätziger“ (S. 7) Weise und nicht ohne Schadenfreude darüber, dass der junge Fürst für die russische Novemberkälte nicht warm genug gekleidet ist.

Während der Erzähler die Physiognomie Rogoschins genau studiert hat, übersieht der Romanheld Myschkin die Warnsignale im Gesicht des Fremden – vielleicht wider besseres Wissen. Er antwortet mit geradezu naiver Offenheit auf all seine Fragen und fühlt sich sogar zu ihm hingezogen.

Hier muss ich ein paar Worte zu Fürst Myschkin sagen. Mit ihm habe Dostojewski einen „ganz und gar positiven Charakter“ mit einer „absolut schönen Natur“ gestalten wollen, einen wahren Christen, steht hier. Man kann Myschkin als eine Art verhinderten Heiland sehen. Und natürlich legt es der Roman darauf an, dass wir auf seiner Seite stehen. In der Tat will der Fürst immer alle vor sich selbst retten. Dabei nimmt er, obwohl er Epileptiker ist, wenig Rücksicht auf seine eigene Verletzlichkeit.

Es ist Rogoschin, der ihn schliesslich in den Abgrund zerrt. Ich muss gestehen, dass Rogoschin mir in seiner übergrossen Impulsivität fast schon als Klischee-Russe herübergekommen ist. Beispiel: Er verliebt sich unsterblich in eine Frau, die er nur ein einziges Mal auf der Strasse gesehen hat. Sogleich bestiehlt er seinen Vater, um dieser Frau, Nastasja Filippowna, ein luxuriöses Geschenk zu machen. In der deutschsprachigen Rezeption ist  von den „unkontrollierbaren, bösen Geistern“ Rogoschins die Rede. Man kann ihn auch einfach als Kriminellen sehen.

Auch Myschkin liebt Nastasja Filippowna. Es entsteht eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung. Am Ende lässt die Frau Myschkin am Traualtar hängen und flüchtet zu Rogoschin. Dieser ersticht sie, wahrscheinlich aus Eifersucht. Und was macht Myschkin? Geht er zur Polizei, um den Mörder an der Gerichtsbarkeit auszuliefern? Ich bin nicht sicher, ob es eine funktionierende Polizei in Russland Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt gab. Jedenfalls tut Myschkin etwas ganz anderes: Er legt sich zum nun fiebernden Mörder und streicht ihm eine ganze Nacht lang begütigend übers Haar, während im Nebenzimmer die Leiche liegt. Ist das wirklich Güte? Ist es nicht vielmehr Komplizität mit einem Verbrecher?

Was von Dostojewski zu Putin führt

Oksana Sabuschko, die „streitbare“ Intellektuelle, die meine Dostojewksi-Lektüre veränderte.

Ihr erinnert Euch: Mein Freund, Slawist Chäppeli, sagte während eines Spaziergangs, Dostojewki solle man jetzt nicht mehr lesen. Das war eine in zurückhaltendem Ton gemachte Äusserung, und später widerrief er sie auch schriftlich: „Ich möchte nur klarstellen: Nie würde ich sagen, dass man heute den Roman nicht mehr lesen könne oder solle.“ Gleichzeitig schickte er mir zwei Links, um zu erklären, wie er überhaupt auf diese Aussage gekommen sei.

Der  erste führte zu einer Polemik der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko, „eine der streitbarsten Intellektuellen der Ukraine“, wie die NZZ schreibt, die den Essay auf Deutsch veröffentlicht hat. Er ist zuallererst eine Anklage gegen den Westen, der das Entstehen eines neuen Totalitarismus in Russland gut zwanzig Jahre lang sträflich übersehen habe. Dann schimpft sie auf jene westlichen Intellektuellen, die nun versuchen würden, das Böse zu verstehen, zu rationalisieren, sich in Putins Hirn hineinzudenken und so in Dialog mit dem Serienmörder zu treten. Das sei der Situation nicht im mindesten angemessen. Der Westen habe sich vom Kreml jahrzehntelang an der Nase herumführen lassen.

Aber was hat die russische Literatur, noch dazu jene des 19. Jahrhunderts, mit Putin zu tun? Sabuschkos Antwort: „Man“ habe die russische Literatur ja immer „für europäisch und humanistisch“ gehalten. Dabei habe sie 200 Jahre lang ein Weltbild genährt, „in dem man den Verbrecher nicht verurteilt, sondern bedauert und Mitleid mit ihm hat.“

Und dann kommt die Abrechnung mit Dostojewski, „mit seinem Kult der Emotion und der gleichzeitig offen zu Schau getragenen Verachtung der Vernunft.“ Dostojewski stehe ausserhalb der europäischen Literatur, das habe schon Milan Kundera gesehen, jener berühmte Tscheche, der das Wüten der Sowjets im eigenen Land erlebte. Aber im Westen habe man ihn niedergeschrien, als er das sagte. Sie schreibt sogar, die Invasion vom 24. Februar sei „reines Dostojewskitum“ gewesen, die Explosion „reiner destillierter Bösartigkeit, eines lange unterdrückten historischen Neids und Hasses, verstärkt durch das Gefühl absoluter Straflosigkeit.“

Die Entgegnung des russischen Exil-Schriftstellers Michail Shishkin im zweiten Link wirkt dagegen reichlich blass, ihr müsst sie selbst lesen.

Ich konnte diese Aussagen von Sabuschko zunächst überhaupt nicht akzeptieren, ich gestehe: Ich verstand kaum, was sie mir sagen wollte. Ich meine, ich verstand und verstehe den Hass der Ukrainer auf die Russen – aber noch schwankte ich an manchen Tagen selbst Richtung mildem Putin-Verstehertum. Wahrscheinlich, weil ich mich einfach zu sehr vor der Alternative fürchtete: dass Sabuschko recht haben könnte, zumindest mit ihrer Darstellung von Putins Russland. Wenn man den Mann verstünde, dachte ich, könnte man mit ihm verhandeln und gut ist. Aber an anderen Tagen sah ich klar, dass das nicht geht. Und ahnte, was das für uns alle bedeutet – und wie sehr uns der grinsende Teufel im Kreml zum Narren gehalten hat.

Die Ereignisse der vergangenen Woche haben Sabuschko, was die Politik betrifft, leider Gottes mehr als Recht gegeben. Das heisst: Ich fürchte mich jetzt immer noch, aber ich weiss wenigstens besser, wo ich dabei stehe. Und nach und nach veränderte das auch meine Lektüre von „Der Idiot“. Doch dazu dann später mehr.

 

 

Dostojewski lesen

Eines Sonntags im Juli  traf ich bei der nachbarschaftlichen Kehrichtsammelstelle den Doppelbuddha. Damals war ich noch kahl, hatte aber vergessen, mir einen Hut aufzusetzen. Ich hatte nur ein Käppi aus Strumpfstoff an, wie man es unter Perücken trägt.

„Meine Güte, hast Du Chemo?!“ rief der Doppelbuddha aus. Er tat dies derart spontan, dass ich sehr berührt war. Ich bejahte, wir redeten, und irgendwann sagte ich:  „Ach, weisst Du, das Gute daran ist: Man hat viel Zeit zum Lesen. Ich nehme mir gerade so richtig dicke Wälzer vor.“ Er sagte: „Na, dann könntest Du ja mal Dostojewski lesen. Ich leihe Dir ‚Der Idiot‘ aus, wenn Du willst.“ Weil er so nett gewesen war, sagte ich nach einigem Zögern: „Ok, sehr gerne! Wenn Du ihn vorbeibringst, dann komm doch gleich mit Frau Doppelbuddha zum Apero!“ So machten wir es und hatten einen sehr vergnüglichen Abend.

Dann begann ich, den Roman zu lesen, 950 Seiten. Ein Stück Weltliteratur, dem – so hatte ich im Literaturstudium gelernt – mit grösster Hochachtung zu begegnen ist. Ich befürchtete gepflegte Langeweile, aber „Der Idiot“ elektrisierte mich am Anfang geradezu. Die zwei Fremden, die im Zug nach St. Petersburg Bekanntschaft schliessen!  Die mysteriöse Schönheit Nastasja Filippowna! Als Teenager von ihrem Adoptivvater sexuell missbraucht, wird sie von der Gesellschaft als gefallene Frau behandelt. Dass man ihren Stiefvater ins Gefängnis stecken sollte, kommt niemandem in den Sinn! Was für eine Welt!

Die zwei Männer aus dem Zug verfallen Nastasja Filippovna schnell mit Haut und Haaren: der reiche Kaufmannssohn Rogoschin sowie der als Idiot bezeichnete Protagonist des Romans, der junge Fürst Myschkin. Myschkin ist Epileptiker und gerade von einem jahrelangen Kuraufenthalt in den Schweizer Bergen zurückgekehrt. Er ist ein herzensguter, aber in gesellschaftlichen Dingen total unbeholfener Jüngling.

Es ist kein familientauglicher Gesellschaftsroman, wie wir sie sonst aus dem 19. Jahrhundert kennen. Myschkin denkt viel über Grausamkeit, Armut und Tod nach. Auch das packte mich. Ich hatte mich selbst mit Fragen zu beschäftigen, die man nicht so leicht familientauglich abhandeln kann.

Am 31. August ging ich mit meinem alten Freund, dem Slawisten und Zweifler Chäppeli, spazieren. Wir diskutierten zuerst ein bisschen über den Zustand der Welt, den Krieg und all das. Dann erzählte ich ihm freudig von meiner Dostojewski-Lektüre und fragte ihn, was er von dem Roman gehalten habe. Er zögerte, wie es seine Art ist und sagte dann: „Nun ja, Dostojewski sollte man ja jetzt auch nicht mehr lesen.“

Es war die Zeit, als alle Welt über „Der junge Winnetou“ und andere Arten kultureller Aneignung diskutierte, und ich dachte: „Oh nein, nicht noch mehr Zensur! Man kann doch einen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nicht für die Verbrechen des 21. schuldig sprechen!“ Aber Chäppelis Bemerkung sollte meinen Blick auf das Buch erheblich verändern.

 

Göttlicher Babelfisch

Wenn der Babelfisch uns ins Ohr flutscht, verstehen wir sogar Vogonisch (Quelle: aliens.fandom.com)
Ich habe gerade das dringende Bedürfnis, mich ein wenig zu vergnügen. Deshalb habe ein Buch zu lesen begonnen, auf dessen erheiternde Wirkung ich mich in jungen Jahren verlassen konnte: Douglas Adams‘ „Per Anhalter durch die Galaxis“. Ich war nicht sicher, ob es bei Frau Frogg Ü50 noch funktioniert, aber siehe da: Auf Seite 52 brach ich in derart schallendes Gelächter aus, dass Herr T. verwundert aufsah.

Für alle, die die Story nicht kennen: Sie erzählt die Geschichte des ahnungslosen Erdenbewohners Arthur Dent, der eines Donnerstagsmorgens von einem intergalaktischen Freund auf eine aberwitzige Reise durchs All entführt wird. So um die Seite 50 haben die beiden ihre erste Mitfahrgelegenheit in einem riesigen Raumschiff gekapert. Doch Arthur versteht von der Lautsprecher-Durchsage des Kapitäns nur ein sehr beunruhigendes: „Heul heul gurgel heul gurgel heul.“ Meinen schwerhörigen Leserinnen und Lesern wird dieses Problem bekannt vorkommen. Arthur Dent ist jedoch nicht schwerhörig, sondern er versteht kein Vogonisch, und Vogonisch ist die Sprache des Raumschiffkapitäns.

Aber nun bekommt Arthur von seinem Freund einen kleinen, gelben Fisch ins Ohr gesteckt, einen so genannten Babelfisch. Und sogleich verwandelt sich das Gegurgel in seinem Ohr in annähernd normales Deutsch. Auch dieses Phänomen kennen wir Schwerhörigen. Wir erleben es zum Beispiel, wenn wir passende Hörgeräte anziehen. Dieses plötzlich wieder klare Hören kann ein geradezu überschäumendes Glücksgefühl auslösen.

Der Babelfisch aber ist, so lesen wir auf Seite 52, kein Gerät, sondern ein Lebewesen: ein für Galaxis-Reisende derart „unfassbar nützliches“ Produkt der Evolution, dass „einige Denker ihn als schlüssigen und endgültigen Beweis der NICHT-Existenz Gottes sehen.“ (S. 52)

Das Argument geht ungefähr so: „Gott sagt: Ich weigere mich zu beweisen, dass ich existiere. Denn ist dieser Beweis einmal erbracht, braucht es den Glauben nicht mehr, und ohne Glauben bin ich nichts.“ Aber, so antwortet der Mensch: „Der Babelfisch ist ein todsicheres Zeichen, nicht wahr? Er kann sich nicht durch Zufall entwickelt haben. Er beweist, dass Du existierst, und daher existierst Du eben gemäss Deinem eigenen Argument nicht. QED.“ An dieser Stelle setzte mein Gelächter ein, weil mich die Passage an die mittelalterlichen Gottesbeweise erinnerte, die wir in den Philosophiestunden am Gymnasium lernten. Erwartet man so etwas in einem Science Fiction-Roman?

Ich lachte aber auch, weil ich zweifelsfrei feststellte, dass man die ganze Sache auch genau umgekehrt sehen kann: Soweit wir wissen, gibt es in der ganzen Galaxis keinen Babelfisch für Schwerhörige. Für uns hält das Universum also keine „unfassbar nützliche“ Lösung unserer Probleme bereit, nur mehr oder weniger taugliche Hörgeräte. Aber dafür gibt es möglicherweise einen Gott.

Zitate aus Douglas Adamas: „The Hitch Hiker’s Guide to the Galaxy – a Trilogy in Four Parts“, London, William Heinemann Ltd., 1979 (Übersetzung der Zitate von Babelfröschin Frogg). Hier geht’s zu einem YouTube-Ausschnitt der Verfilmung von 2005 mit Martin Freeman als Arthur Dent.

Wutanfall am Infusionsständer

Bei der zweiten Dosis Aperol Spritz intravenös gab ich versehentlich dem Infusionsständer einen Schubs, dass es klirrte. Ich bat den netten Pfleger um Entschuldigung. „Ach, solange sie das Ding nicht wütend von sich schleudern und alle Schläuche herausreissen, ist das doch kein Problem!“ sagt er. Ich schaue ihn ungläubig an. Warum sollte ich denn hier eine solche Show abziehen?! Ich meine, sie wollen einen doch heilen auf der Onkologie, nicht quälen. Auch wenn es annähernd auf dasselbe herauskommt, das vergisst man doch nicht!

„Ja, das staunen Sie, aber das ist alles schon vorgekommen“, sagt der Pfleger. Aha. Wir murmeln etwas über Krebs als lebensveränderndes Ereignis, und dass damit nicht jeder einfach so klarkomme. Später gehe ich nach Hause und vergesse das alles. Bis ich am dritten Tag danach wieder mal am Tiefpunkt ankomme. Ich meine, das ganze Salben, Spülen und Medikamenteschlucken zur Linderung der Nebenwirkungen ist ja allein ein 50-Prozent-Job. Dazu erträgt man seinen eigenen Geruch nicht mehr, diese Mischung aus Pharma, Schweiss und Todesangst. Und dann hat man Zeit, alles im Internet zu recherchieren, was einen so plagt. Wenn man gewisse Symptome in die Suchmaske eingibt, diagnostiziert Dr. Google dann auch mal eine Leberzirrhose. 20 Tage lang kämpft man sich aus diesem Loch heraus, sieht wieder Sonnenschein und grüne Wiesen – um am 21. Tag wieder einen Nachmittag am Infusionsständer zu verbringen. Plötzlich verstand ich, dass man darob ins Infusionsständerherumschleudern verfallen kann.

Was mich an jenem Tag gerettet hat? Ich fand einen Krimiklassiker im Büchergestell, Eric Ambler’s „Maske des Dimitrios“. Während der Held immer tiefer in den Bannkreis gewissenloser Verbrecher gerät, bleibt die Sprache des Buches stets über der Sache – knapp, pragmatisch und oft durchtränkt von einer wunderbaren Ironie. Zudem gibt es darin hübschen Lokalkolorit aus Istanbul, Izmir, Sofia und Paris. Ein bisschen wie wie ein alter James Bond, nur ohne das Geknalle. Die Leberzirrhose vertrieb Herr T. innert weniger Tage mit seiner ausgezeichneten Küche. Ich goss die Blumen auf unserem Balkon. Ich traf meine Freundinnen. Und wenig später arbeitete ich wieder, layoutete Seiten und parierte die Empfindlichkeiten merkwürdiger Kunden. Ich muss gestehen, dass ich etwas weniger Geduld mit diesen Empfindlichkeiten habe als sonst. Aber Seiten layouten ist etwas Wunderbares. Das Gesetz des Lebens ist stark in mir.

Jedenfalls bis nächsten Mittwoch. Dann kommt wieder so ein Nachmittag am Infusionsständer.

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