Hörende schwärmen gerne von der Magie des Lippenlesens. Ich sage ihnen dann jeweils leicht ungehalten, ich könne gar nicht lippenlesen, lippenlesen sei eine Zumutung. Klar, Frühertaubte können es oft unglaublich gut. Aber für uns Spätertaubte fällt schon ins Gewicht, dass sich am Mund selbst nur etwa 30 Prozent der im Mund produzierten Laute ablesen (oder eher erraten) lassen. Klar, ich verstehe Leute besser, wenn ich ihren Mund sehe. Aber meiner Meinung nach hat das einfach damit zu tun, dass dann die Schallwellen aus diesem Mund auch ohne Umwege in meine Hörgeräte gelangen.
Nun musste ich diese Woche zu Dr. Aeschlimann, dem Endokrinologen, der in zehn Tagen meine Schilddrüse behandeln wird – eine harmlose Sache, hat man mir versichert. Damit ich schon mal weiss, was auf mich zukommt, simulierten wir kurz die OP-Situation. Das wird alles ohne Narkose vonstatten gehen. Ich werde mich auf einen Schragen legen müssen, und Herr Aeschlimann wird sich von hinten über meinen Kopf beugen. Ich lag also da und sah, wie sie sein Gesicht von oben in mein Gesichtsfeld schob, verkehrtherum, und er redete. Mit verkehrten Lippen! Was für ein verwirrender Anblick! Ich bekam Panik, diese Art von Panik, die ich in letzter Zeit bekomme, wenn ich das Gefühl habe, dass die Dinge auditiv aus dem Ruder laufen. Ich sagte spontan: „Zunderobsi* lippenlesen ist aber ziemlich schwierig.“
Dr. Aeschlimann ist ein umsichtiger Arzt. Er vergisst nur selten, dass ich nicht gut höre. Er sagte: „Ja, das ist mir eben auch durch den Kopf gegangen.“ Er wird dran denken, wenn ich da auf dem Schragen liege. Mich aber beschäftigt seither die Frage, ob ich tatsächlich intensiver Lippen lese als ich immer behaupte.
*schweizerdeutsch: verkehrtherum
Ich musste auch oft mit dem Klischee aufräumen, dass nicht alle schwerhörige Menschen Profis im Lippenabsehen sind. (Dazu gehöre ich auch.) Aber da stiess ich oft auf buchstäblich taube Ohren bei den Hörgesunden.
🙂 Also ist es auch für jemanden, der schon früh übt, nicht so einfach, nicht? Ich glaube, die Leute reden sich Behinderungen gerne schön, indem sie glauben, wir Menschen, die nicht gut hören, sehen oder gehen, könnten dafür auf magische Weise etwas anderes besser. Und es stimmt ja auch, dass wir gewisse Dinge ansatzweise kompensieren können, indem wir unsere anderen Fähigkeiten besser nutzen. Aber eben oft nur ansatzweise. Und die Welt ist und bleibt für Hörende gemacht, und Sehende, und Gehende.