In vier Tagen habe ich das Vorwort zu Judith Butler’s Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ zweieinhalbmal gelesen. Schon diese acht Seiten haben meine Hirnsynapsen zum Glühen gebracht, und das ist ein Kompliment. Nichts liebe ich mehr, als wenn meine Hirnsynapsen glühen. Antworten auf meine Frage vom letzten Beitrag habe ich indes noch keine gefunden. „Ja oder Nein“, „Frau oder Mann“, „ist oder ist nicht“ – solche Gegensätze klar zu benennen, ist nicht die Absicht von Judith Butler. Wir kennen sie ja angeblich alle. Butler will solche Gegensätze untersuchen, unterwandern, zum Einsturz bringen, kurz, dekonstruieren. Das ist ihr Job, und sie will damit nicht weniger als „das herrschende Gesetz“ ins Wanken bringen. Schon auf der ersten Seite studiert Butler den begehrlichen Blick des Mannes auf die Frau: Wie der Mann Unbehagen empfindet, wenn die Frau plötzlich zurückblickt. Weil die Frau ja Objekt dieses Begehrens ist. Wie erschrickt er da, wenn sie plötzlich zu erkennen gibt, dass sie selbst Subjekt sein könnte! Butler hat das bei Jean-Paul Sartre so gelesen. Sie selbst ist ja lesbisch.
Ich stelle mir beim Lesen vor, wie Butler das sich ständig wiederholende, heterosexuelle Liebesritual des 20. Jahrhunderts befremdet und amüsiert aus der Distanz beobachtet. Ich erinnere mich gut an dieses Ritual: Meine Mutter hatte mir beigebracht, mein eigenes Begehren für einen Mann erst dann zu erkennen zu geben, wenn sicher ist, dass er keinen Rückzieher machen wird. Mit 14 fand ich das unmenschlich. Ich musste aber lernen, damit zurechtzukommen. Alles andere wäre ein schwerer Verstoss gegen die Gesetze der Weiblichkeit gewesen. Begehrliche Blicke meinerseits hatten verstohlen zu bleiben; und niemals, wirklich niemals spricht eine Frau gegenüber einem Mann zuerst ihr Begehren aus. Ich zucke heute noch zusammen, wenn junge Frauen im Film einem Mann ganz frank und frei ihre Liebe gestehen. Geht das heute?! Und sucht der Mann dann nicht schnellstens das Weite?! Und wenn frau das heute ungestraft macht: Ist es auch ein Verdienst von Judith Butler?
Großartiger Text von dir, natürlich bin auch ich so sozialisiert und aufgewachsen.
Das muss ich unbedingt lesen.
Danke!
Danke Dir, das freut mich! Ich kann Butler jedoch nicht vorbehaltlos zur Lektüre empfehlen, wenn es um unsere Hetero-Sozialisation geht. Was ich hier erzählt habe, um die graue Theorie etwas mit Farbe zu füllen, stammt aus meinem eigenen Erfahrungsschatz, abgeleitet aus dem, was sie kurz erwähnt. Sie selber interessiert sich verständlicherweise mehr für nicht heterosexuelle Menschen. Und für Gender-Identität (puh!). Soweit ich mich erinnere, ist „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir einer der besten Texte zum Thema weibliche Sozialisation.
Und neulich habe ich „Vom Winde verweht“ wieder gesehen, er kam auf arte. Es war eine Erleuchtung: Dort lässt sich sehr genau beobachten, wie Mütter ihre Töchter für’s Patriarchat sozialisieren. Der Film aus den fünfziger Jahren hat zu Recht zum Einstieg eine Rassismus-Warnung. Aber ein Disclaimer („Achtung, hervorragende Anleitung, wie man junge Frauen NICHT erziehen sollte“) wäre auch ganz angebracht.