Äpfel


(Glockenäpfel – früher der ganz normale Apfel für den Frühling, heute eine seltene Sorte. Quelle: Wikipedia)

Ich gehöre ja nicht zu den Leute ständig behaupten, früher sei alles besser gewesen. Aber gestern, am 21. Oktober, sah ich beim Einkaufen im Coop Glockenäpfel. Da ereiferte ich mich ein bisschen. „Früher“, belehrte ich Herrn T., „Früher waren Glockenäpfel Lageräpfel. Sie waren die letzten Äpfel, die in den Handel kamen, meistens erst im Frühling.“ Herr T. ist ein guter Koch, aber solche Dinge sind ihm egal.

Mir nicht. Für mich sind Glockenäpfel etwas ganz Besonderes, die besten Äpfel. Immer wenn ich Glockenäpfel sehe, erinnere ich mich an einen Maitag im Frühling meines Lebens – ich muss wohl gegen 16 gewesen sein, also wohl anno 1981. Ich trieb mich unten am Fluss herum, dort, wo die verlorenen Jugendlichen der Stadt sich trafen – die Landfreaks und die Vorstadtfreaks, die Drogenkonsumenten vom Kiffer bis zum Junky, die jungen Grünen und Linken, die Veloaktivisten und die Wehrtdienstverweigerer.

Es war ein strahlender Tag, und ich war glücklich – ich hatte eine einsame Pubertät hinter mir gelassen und endlich Freunde gefunden, hier unten am Fluss. Als die einen gingen, bevor die anderen kamen, verliess ich kurz meinen Platz an der Quaimauer. Ich war immer hungrig, weil auf Dauerdiät. Ich kaufte am nahen Obststand einen riesigen Glockenapfel und biss hinein. Die Frucht schmeckte, als käme er direkt aus dem Paradies, nicht zu süss, nicht zu sauer und genau richtig im Saft.

Ich verlor an diesem Tag nicht meine Unschuld und wurde von nirgendwo vertrieben. Der Moment wird mir immer als strahlend in Erinnerung bleiben. Immer, wenn ich Glockenäpfel esse, muss ich daran denken. Aber man muss dieses Frühlingsgefühl nicht aufs ganze Jahr ausdehnen, finde ich. Da bin ich Traditionalistin.

Dennoch griff ich nach der Packung Äpfel im Obstgestell. Da entdeckte ich das kleine Label auf der Plastikfolie: Pro Specie rara. Ein Label, unter dem alte, selten gewordene Landwirtschaftsprodukte verkauft werden. Sofort ereiferte ich mich nochmals. Glockenäpfel gehören also nicht mehr einfach zu Alltag. Sie sind selten geworden, werden vielleicht sogar aussterben. Wo geht bloss die Welt hin?

Es gab mir so zu denken, dass ich heute eine kleine Internet-Recherche über diese raren Äpfel anstellte. Tatsächlich spielen sie im Internet-Zeitalter keine marginale Rolle, der Wikipedia-Eintrag ist karg, und auch sonst findet sich wenig Aufschlussreiches. Ausser in einem Beitrag von pro specie rara (hier: Die Organisation vermeldet, dass sie auch bei den raren Apfelsorten wegen des späten Aprilfrosts in diesem Jahr erhebliche Ernteausfälle hinnehmen musste – die Goldparmänen, die Berner Rosen und der Sauergrauech, sie gaben nur 40 Prozent des üblichen Ernteertrages her. Die Lageräpfelsorten, auch die Glockenäpfel hielten den kalten Nächte besser aus. Vielleicht liegen sie deshalb schon in den Gestellen.

Ich frage mich nur: Wenn wir sie jetzt schon essen – was haben wir dann im Frühling? Nun, die Zeiten haben sich geändert. Wir werden wohl nicht hungern müssen.

Lebensbilanz


Johann Wolfgang von Goethe. Der Dichterfürst lässt Frau Frogg über schöpferische Kräfte nachdenken. (Quelle: Wikipedia)

„Ich! Da ich mir alles binn, da ich alles nur durch mich kenne! So ruft ieder, der sich fühlt, und macht grosse Schritte durch dieses Leben, eine Bereitung für den unendlichen Weeg drüben. Freylich ieder nach seinem Maas. Macht der eine mit dem stärcksten Wandertrab sich auf, so hat der andre siebenmeilen Stiefel an, überschreitet ihn, und zwey Schritte des letzten bezeichnen die Tagreise des ersten.“*

Goethe schrieb diese weisen Worte über ungleich verteilte schöpferische Kräfte in einer Rede über Shakespeare. Ich entdecke sie, als ich durch’s Bücher-Brocky stöbere. Sofort lege ich es auf den Stapel Bücher, den ich kaufen werde. Man kann im Bücher-Brocki die konservierte Weisheit der Welt für ein paar Fränkli kaufen. Ich schmökere hier und da und denke: „Und ich? Wie steht es mit mir und meinem Wandertrieb?“ Nicht mehr so gut, stelle ich fest. Mir selbst überlassen, habe ich keine Siebenmeilensteifel, nie gehabt. Mir selber überlassen, neige ich zu träumerischen Spaziergängen oder dazu, mir unerreichbare Ziele zu setzen. Ich komme irgendwie nie recht vom Fleck. Als junges Ding, an der Uni, habe ich mich damit vertröstet, dass ich noch endlos viel Zeit haben werde. Wandertempo bekam ich erst, als ich gegen Ende der zwanziger meinen Lebensunterhalt bestreiten musste. Und jetzt? 52 Jahre bin ich alt und in der komfortablen Lage, (im Moment) keine existenziellen Sorgen zu haben. Jetzt tappe ich wieder durchs Leben, träume, sehe kein rechtes Ziel – oder wenn, dann fehlen mir die richtigen Schuhe, um es zu erreichen. Was soll’s, denke ich und schmökere weiter.

„Hugo Loetscher zieht Bilanz“, lese ich ich im Klappentext einer Autobiografie des grossen Schweizers, „Die Stoffe und Themen seines Lebens und seines Werks entfaltet er zu einer weltumspannenden Autogeographie, der Entwicklungsgeschichte eines globalen Bewusstseins.“** Auch dieses Buch werde ich kaufen. Wenn jemand wie Loetscher Bilanz ziehen kann, dann imponiert mir das. Eigentlich habe ich eine grosse Sehnsucht danach, selber Bilanz ziehen zu dürfen. Man kann nicht so tun, als wäre man mit Siebenmeilenstiefeln unterwegs gewesen, wenn man in Wahrheit höchstens eine oder zwei Steigungen zurückgelegt hat.

Aber dann kaufe ich noch den Roman „Small World“ von Martin Suter, mit dem Klappentext: „Erst sind es Kleinigkeiten. Konrad Lang, Mitte Sechzig, stellt aus Versehen seine Brieftasche in den Kühlschrank. Bald vergisst der den Namen der Frau, die er heiraten will.“*** Konrad Lang hat Alzheimer. Dieses katastrophale Vergessen, es beschäftigt mich im Moment. Weil ich feststelle, dass mein Gedächtnis nachgelassen hat. Nichts Krankhaftes wohl, aber doch ein bisschen beunruhigend.

Sollte ich vielleicht doch Bilanz ziehen, bevor es auch dafür zu spät ist?

*Johann Wolfgang Goethe: „Schriften zur Kunst und Literatur“, 1999, Stuttgart, Reclam Universal-Bibliothek 7710
** Hugo Loetscher: „War meine Zeit meine Zeit“, 2009, Zürich, Dogenes Verlags-AG
*** Martin Suter: „Small World“, 1999, Diogenes Taschenbuch

Spendensammler

Am Anfang der Hertensteinstrasse stehen die Spendensammler der NGOs. Ihr wisst schon: WWF, Amnesty International, pro natura und wie sie alle heissen. Der Platz ist ideal, um Leute anzusprechen: Wer von Osten her in die Altstadt will, muss hier vorbei, und das sind täglich helle Scharen. Ich passiere die Stelle mindestens zweimal wöchentlich.

Am Montag waren die von Amnesty International dort. Ich versuchte, unbeachtet an ihnen vorbeizukommen. Ich meine, nichts gegen Amnesty International, ich finde es heldenhaft was diese Leute tun. Ich spende an sich auch gerne Geld, allerrdings eher an Behindertenorganisationen (das liegt mir nahe) und an das Internationale Rote Kreuz, für die syrischen Flüchtlinge. Ich mag mir im Moment nicht so recht überlegen, ob in meinem Spenden-Etat noch eine Mitgliedschaft bei Amnesty drinliegt. Eben hat es aufgehört zu regnen, ich habe meinen Schirm zugemacht, er tropft mir noch in der Hand.

Aber es gibt kein Entwischen. Ein junger Hipster spricht mich an. Er zeigt auf meinen Regenschirm und labert etwas in seinen blonden Bart. Ich habe keine Chance, ihn zu verstehen. Ich stelle mich vor ihm auf und sage: „Wie bitte? Ich habe Sie leider nicht verstanden, ich bin schwerhörig, und zwar ziemlich.“

Ich erwarte, dass er sich jetzt geduldig wiederholen wird. Aber er sagt nur: „Ok, vielen Dank und schönen Tag noch. Auf Wiedersehen.“ Auch ich wünsche ihm einen schönen Tag und gehe weiter, zuerst erleichtert, dann zunehmend befremdet.

Warum hat er wohl nicht weiter gequatscht? Warum hat er nicht auf Teufel komm raus versucht, mir Geld abzuschwätzen, wie er das bei jedem anderen getan hätte? Weil er selber verblüfft war? Weil er gedacht hat, das sei die dümmste faule Ausrede, die ihm heute vorgekommen sei? Oder denkt er: „Ach so, naja, Schwerhörige sind ja behindert und haben wohl sowieso kein Geld.“?

Beinahe wäre ich umgekehrt, zu ihm zurückgegangen und hätte ihm meine Hörgeräte gezeigt. Ich fühle mich beinahe … naja … diskriminiert.

Hair

Neulich habe ich „Hair“ wieder mal gesehen. Etwas angejahrte Kinofreaks erinnern sich: Das war dieser US-Streifen, der um das Jahr 1980 in die europäischen Kinos kam. Er zelebrierte das Hippie-Leben und die Widerstand gegen den Vietnam-Krieg.


Rebellisch: Treat Williams als Hippie John Berger

Hier geht’s zum Trailer.

Ich muss damals um die 15 oder 16 gewesen sein, und für uns junge Kleinstadtfreaks war der Film ein absolutes Must. Damals war ich ja noch ein schwärmerischer Teenager. Aber auch schon eine junge Frau, die ein gewisses Unbehagen über die herrschenden Verhältnisse spürte.

Als ich ihn jetzt wieder sah, habe ich zuerst mich ein wenig fremdgeschämt für die junge Frau Frogg. Denn im Grunde lebten wir damals schon nicht mehr in der grossen Zeit des Flower Power. Die kommende kulturelle Leitfigur war auch bei uns nicht der Hippie, sondern der Yuppie – ein junger Mensch, für den ein Leben in Freiheit vor allem bedeutet, dass er Geld mit beiden Händen zum Fenster hinauswerfen kann. Wir Kleinstadtfreaks aber träumten immer noch davon, mit Konventionen zu brechen und im Jeansgilet auf den Tischen der Bourgeoisie zu Rockmusik zu tanzen.

Nun gut, für meine männlichen Kollegen hatte die Rebellion immerhin noch einen sehr realen Hintergrund. Für sie galt es, die Fesseln des helvetischen Militarismus abzuwerfen. Es war Kalter Krieg und allgemeine Wehrpflicht – und viele wollten nicht ins Militär. Einfach, weil sie keinen Sinn darin sahen. Sie konnten Identifikationsfiguren gebrauchen – es war damals noch nicht so leicht wegzukommen. Viele mussten ins Gefängnis oder sich für psychisch labil erklären lassen. Was damals noch viel beschämender war als heute.

Als Mädchen bekam ich das nur aus zweiter Hand mit und war froh, fein raus zu sein.

Was mich dann aber wirklich mit der jungen Frau Frogg und den Hippies im Film versöhnte, war ihre anarchische Haltung zum Geld. Meistens haben sie keines, und das ist auch ok so. Gut, meine Filmhelden standen nicht darüber, mal ihre Eltern um grössere Summen anzupumpen oder ein Auto auf nicht ganz legale Weise mitgehen zu lassen. Aber dem Geld nachzujagen, damit zu protzen und es auszugeben, ist nicht ihr primäres Ziel. Eigentlich edel.

Eigentlich wünschte ich mir, der Yuppie hätte den Hippie als kulturelle Leitfigur damals nicht so gänzlich verdrängt.

News vom bedrohten Paradies

Unser Haus gehört einer Organisation mit dem lapidaren Namen Wohnbaugenossenschaft Luzern. Man erwartet von einer Wohnbaugenossenschaft in der Schweiz zahlbare Wohnungen und wenigstens den Ansatz einer sozialen Ader.

Doch uns Mietern schwante Böses, als wir an einem kalten Samstagmorgen anfang September zur Information im nahen Kirchgemeindesaal eintrudelten. Seit mehreren Jahren kursieren Gerüchte: Ein Dutzend würden abgerissen, alle Mieter müssten ausziehen. Auf dem Internet findet man hier schon seit geraumer Zeit die Baupläne der Architekten. Jetzt wollten die Damen und Herren von der Wohnbaugenossenschaft endlich die Katze aus dem Sack lassen.

Beim Eingang sahen wir schon ein Modell der neuen Überbauung. Wir standen davor und lächelten und sagten: „Schön ist es geworden.“ Wir meinten es zynisch. 238 günstige Wohnungen in Stadtnähe werden verschwinden. Unsere Wohnungen.

Aber es war dann doch ganz nicht so schlimm wie befürchtet. Erstens werden die Bauarbeiten frühestens im Sommer 2019 beginnen. Frühestens. Es gibt vorher noch zwei Planauflagen. Zweitens will die Baugenossenschaft gestaffelt vorgehen – nicht alle Häuser verschwinden gleichzeitig. Man hat uns drittens in die Hand versprochen: Wer im Quartier bleiben will, der bekommt eine Wohnung in der neuen Siedlung. Viertens werden diese Wohnungen einigermassen preisgünstig sein. Einigermassen: Eine neue Zweizimmerwohnung wird 1400 Franken monatlich kosten, eine neue Vierzimmerwohnung 2000 Franken. So viel muss man halt heute hinblättern, wenn man in einer neuen Wohnung in der Stadt leben will. Mindestens. Aber immerhin: Die Leute von der Genossenschaft haben sogar versprochen, dass sie, wenn nötig, beim Umzug im Quartier helfen werden.

An jenem Abend habe ich zum ersten Mal seit Wochen wieder ruhig geschlafen.

Bedrohtes Paradies

Im Mietshaus im Vordergrund wohnen wir. Es ist unser kleines Paradies. Wie lange noch, wissen wir im Moment nicht.

Im Herbst vor zwei Jahren sah unsere Nachbarin Katharina in den Gärten hinter unserem Haus einen Mann mit Plänen in der Hand. Sie fragte ihn: „Was machen Sie hier?“ Er breitete die Arme aus, wies auf Häuser und Gärten und sagte: „Das kommt alles weg! Das kommt alles weg.“ Wir schlossen daraus: Die Häuser hier sollen abgerissen werden.

Na gut. Sie sind fast neunzig Jahre alt. Sie haben ihren Lebenszyklus wohl bald abgeschlossen, wie es in der Immobilienmakler-Sprache heisst. Das klingt so, als wäre ein Haus ein Lebewesen, das den Gesetzen der Natur unterworfen ist. Es verschweigt, dass es Menschen in Immobilienfirmen sind, die über die Lebensdauer von Häusern entscheiden.

Gut, unsere Häuser ächzen vor Alter. Die Treppenhäuser sehen sowjetisch aus. Die Wohnungen in den unteren Stockwerken sind gemacht für Kleinfamilien der dreissiger Jahre. Hier wohnen heute meist Singles, vor allem Frauen. Sie bleiben selten lange. Sobald sie einen Mann gefunden haben, ziehen sie mit ihm in etwas Grösseres. In einigen Wohnungen gibt hier auch Probleme mit Schimmel.

Gut, wir sind privilegiert: Wir wohnen im obersten Stockwerk in einer 1993 geschmackvoll eingebauten Dachwohnung. Vielleicht sollten wir Verständnis dafür haben, dass die Besitzer hier etwas Neues hinstellen wollen.

Aber hey, das hier ist Frogg Hall. Mein kleines Paradies. Es ist das Haus, in dem ich mit Herrn T. die bisher beste Zeit meines Lebens verbracht habe. 16 Jahre lang.

Als unsere Nachbarin den Mann mit den Plänen gesehen hatte, bekam ich Panik. Ich rief unsere Hausverwalterin an. Sie redete und redete. „Ach, bis Ihr Haus abgerissen wird, dauert das mindestens noch zehn Jahre“, beteuerte sie. Auf dem Internet fanden wir Pläne eines Architekturbüros für neue Häuser an unserer Strasse.

Vor einem halben Jahr wurde unsere Verwalterin pensioniert und von einer Grossverwaltung abgelöst.

Ich rief den neuen Verwalter an. Der sagte: „Ich sage Ihnen nichts über unsere Baupläne. Aber ich verspreche, dass Sie alle rechtzeitig informiert werden.“ Ich verkniff mir die Frage, was „rechtzeitig“ genau heisse.

Dann steckten Männer mit grünen Leuchtwesten Stöcke ins Kies auf dem Vorplatz. Sie sprayten rosarote Zahlen auf den Boden. Das war der Zeitpunkt, an dem ich unseren Estrich zu entrümpeln begann.

Vor zwei Wochen bekamen wir einen Brief von der Verwaltung. Darin steht, dass sie die Katze am nächsten Samstag aus dem Sack lassen. 2. September. Dann werden wir wissen, wann wir hier ausziehen müssen.

Seither entrümple ich wie eine Besessene meine Wohnung.

Sechzehn und ganz in Rot

Kürzlich wurde meine Nichte Marie-Christiane konfirmiert. Da stand sie, sechzehn Jahre alt, überragte mich in ihren Pumps fast um Haupteslänge, eine grazile junge Göttin im roten Kleid. Die schönste von allen. Ich sah sie noch vor mir, wie sie mit vier war, ein Kind das mit grossen Augen und ein paar Playmobil-Puppen Geschichten dahinfabulieren konnte, stundenlang (Hier habe ich davon erzählt). Tempi passati, sie wird jetzt erwachsen.

In der Kirche mussten die Konfirmanden über immaterielle Schätze sprechen, über die Dinge, von denen sie im Leben zehren. Sie nannten die Familie, Freunde, gar das Tennis. Meine Nicht sagte, die Erinnerung sei ihr Schatz. Kluges Kind, dachte ich. Wenn man jung ist, ist die Erinnerung etwas von Wertvollsten, was man hat. Sucht man Halt, steigt man in die Kammer der Erinnerunngen, zieht ein paar Stücke hervor, sieht sie schillern, drückt sie in seinen Händen und steigt gestärkt und seiner selbst gewiss wieder in den Alltag. So war das jedenfalls bei mir. Klar, es gibt düstere Ecken in dieser Truhe – aber man übersieht sie so leicht!

Seit ich fünfzig bin, ist es anders. Man hat ja mittlerweile so viel von diesem Zeugs! Es scheint in einem riesigen Estrich zu liegen, der einmal entrümpelt gehört. Wenn ich dann da hochsteige, sehe ich zuerst einmal eine mächtige Unordnung. Dann finde ich durchaus noch zum Weinen schöne Stücke – vergangene Freundschaften, vergangene Reisen, bestandene und nicht bestandene Bewährungsproben, veröffentlichte und nie veröffentlichte Texte. Vergangen, alles vergangen. Ich kann dort oben nicht zu lange verweilen, sonst verliere ich mich.

Ich glaube, ich muss mir ab und zu in Erinnerung rufen, dass es auch jetzt noch Momente gibt, an die zu denken sich einmal lohnen wird. Meine Nichte im roten Kleid zum Beispiel.

Übers Spazieren

Wenn wir nichts mehr beweisen müssen, werden wir wie unsere Urahnen: Wir streifen durch die Wälder und suchen Pfade über die Wiesen. Wir werden Wildbeuter ohne Wild, Nomaden ohne Zelte. Wir lassen uns von unseren Launen von Ort zu Ort tragen. Es hat keinen Sinn und Zweck, aber es gehört zu den Dingen, für die unsere Körper gemacht sind. Wenn wir es tun, werden wir Teil der Welt, aus der wir gefallen sind.

Nie wieder schreiben

In den letzten Tagen habe ich meinen Estrich aufgeräumt. Ich entsorgte meine sämtlichen Schulhefte und Berge von Karton. Dann fand ich eine grosse Plastiktüte mit Fragmenten eines Romans. Das Manuskript ist gewiss 15 Zentimeter dick, lauter A4-Blätter, eng mit Schreibmaschine beschrieben, praktisch ohne Ränder. Die erotischen Verwirrungen eines Teenagers, kein Mensch wird das je lesen wollen. Nicht einmal ich wollte es mehr lesen.

So, wie ich dieses Manuskript verfasst habe, habe ich immer geschrieben. Anfallsweise. Stossweise. Reichlich. Ich habe auch reichlich gebloggt. „Wer ein geheimes Selbst hat, neigt oft zum Schreiben, um ihm Ausdruck zu verschaffen“, habe ich kürzlich in irgendeinem Hochglanzmagazin gelesen. Ich wollte nicht den ganzen Artikel dazu lesen, er schien mir trivial. Aber dieser eine Satz blieb mir hängen. Ich muss ein sehr opulentes geheimes Selbst gehabt haben.

Ich schreibe „gehabt“, denn in letzter Zeit ist mir nicht mehr so ums Schreiben. Es liegt daran, dass ich mittlerweile weiss: Wenn ich noch etwas Publizierbares auf die Reihe kriegen will, muss ich sehr hart arbeiten – wahrscheinlich härter als es meine Kräfte erlauben. Die Malaise rund ums Bloggen kennt ihr ja alle. Und mit dem Journalismus ist es bei mir auch vorbei.

So drücke ich mich ums Schreiben. Ich komme aus der Übung. Sogar meine Tagebücher bleiben leer. Ich tue statt dessen Dinge, die ich früher nie getan habe. Meinen Estrich aufräumen zum Beispiel. Das ist durchaus sinnvoll. Aber ich fühle mich dabei doch ein bisschen wie in einer Beschäftigungstherapie. Ich versuche mir vorzustellen, wer ich bin, wenn ich nicht mehr schreibe. Dann sehe ich eine ganz gewöhnliche Frau mittleren Alters vor mir. Es ist gewiss nichts Ehrenrühriges daran, eine ganz gewöhnliche Frau mittleren Alters zu sein. Und doch fühle ich mich dabei, als hätte man mir etwas amputiert. Wahrscheinlich mein geheimes Selbst.

Um ehrlich zu sein: Ich weiss nicht, wie ich weitermachen soll. Ich wünschte, jemand würde es mir sagen. Ich habe es nicht einmal fertig gebracht, mein altes Romanmanuskript zu entsorgen.