Was mein Gottenbub über Nemo denkt

Gesangstalent Nemo wird die Schweiz am Eurovision Song Contest vertreten (Quelle: srf.ch)

Am Osterspaziergang mit einem Gottenbub, neu 19, frage ich ihn über seine Haltung zur Genderfrage aus. Tim ist Jungpolitiker, parteilos, mit einem Hang zu den Grünen. Er ist ein ausgezeichneter Diskussionspartner.

Die Genderdebatte beginnt er jedoch mit einer ungemütlichen Schelte ausgerechnet derjenigen Zeitung, bei der ich seit 23 Jahren meinen Lebensunterhalt verdiene. Ihn hat unsere Berichterstattung über Nemo gestört, jene nonbinäre Person, die die Schweiz am Eurovision Song Contest am 7. Mai vertreten wird. In unserem Bericht wurde diese Person offenbar schon im ersten Abschnitt mit „er“ bezeichnet. „Wo doch klar ist, dass Nemo keine Pronomen will! Das ist doch respektlos gegenüber Nemo.*“

Unsere Berichterstattung zum European Song Contest hatte ich nicht einmal gelesen. Musik zu ignorieren ist eine meiner Überlebensstrategien als Schwerhörige (für Euch geht’s hier zum Song)! Mein erster, innerer Seufzer ist: Ach, da haben meine Kolleginnen und Kollegen ein reaktionäres Statement gemacht, womöglich unfreiwillig! Aber ich gebe dem Reflex nach, sie in Schutz zu nehmen und erinnere Tim an die Regeln des guten Stils: Dreimal im selben Abschnitt denselben Eigennamen zu wiederholen, ist unschön. Viele unserer Leserinnen und Leser würden es lachhaft oder anbiedernd finden. Wir behalten bei der Zeitung ausserdem kritische Distanz zu den Leuten, über die wir berichten.

Aber das kann Tim nicht akzeptieren. Er sagt: „Da schimpft Ihr immer, dass die jungen Leute keine Zeitung mehr lesen! Und dann tut Ihr etwas, was wir jungen Leserinnen und Leser überhaupt nicht cool finden.“

Mir bleibt da nur noch der Verweis auf unser Redaktions-Reglement für den Umgang mit dem Geschlecht in der Sprache. Dieses wurde ungefähr 2017 renoviert, vor dem Auftauchen nonbinärer Personen an der Öffentlichkeit. „So ein Reglement zu ändern, braucht seine Zeit“, versichere ich ihm. Seltsamerweise versteht Tim, dass es solche Reglemente braucht und auch Zeit, sie zu verändern. Ich verspreche ihm dann immerhin, seine Reklamation an meinen Chef weiterzuleiten. Als Input für künftige Reglements-Änderungen.

Später stellte ich fest, dass die Musikredaktionen landesweit seither schon eine gewisse Geschicklichkeit im Umgang mit den wegzulassenden Pronomen entwickelt haben. Üblich ist zum Beispiel geworden, Nemo „das Gesangstalent aus Biel“ zu nennen. Und in einem späteren Bericht eines unserer Autoren über Nemo habe ich einen Abschnitt gefunden, in dem sich der Kollege offiziell dazu bekennt, Nemos Non-Binarität zu akzeptieren. Im folgenden Abschnitt mit 36 Wörtern kommt das Wort Nemo sechsmal vor.

*Ich bin nicht mehr ganz sicher, wie Tim das formuliert hat. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass er selbst ein männliches Pronomen verwendet hat. Einfach, weil es auf Schweizerdeutsch noch viel schwieriger ist, Sätze ohne solche zu machen. Da steht sogar vor Eigennamen eines, wie in: „De Tim hed gseid… . D’Frau Frogg hed gseid…“

Der Mann, der ein Frauenleben führte

Kein Roman hat mich in letzter Zeit mehr beschäftigt als dieser hier. Der englische Starautor Ian McEwan schildert darin die Biografie des Babyboomers Roland Baines. Die Geschichte fordert mich als Post-Babyboomerin und Hobby-Genderforscherin geradezu heraus. Denn Roland führt in mehreren Hinsichten das Leben einer Frau – jedenfalls nach Babyboomer-Massstäben. Es ist beinahe, als würde McEwan sagen: „So, jetzt nehmen wir mal einen männlichen Charakter und stülpen ihm ein paar weibliche Erfahrungen über.“ So wird Roland mit 14 im Internat von einer Klavierlehrerin sexuell missbraucht – eine Erfahrung, die seine Biografie entscheidend prägen wird. Nun passiert zwar sexueller Missbrauch in den Teenagerjahren tatsächlich ab und zu bei Jungs – sehr viel häufiger ist er aber bei Mädchen (und bei Knaben sind die Täter häufig Männer).

Später dann, als Roland 38 ist und einen Sohn im Babyalter hat, wird er von seiner Frau verlassen. Fortan ist er alleinerziehender Vater. Eine Situation, die unzählige Babyboomer-Frauen kennen, Männer sehr viel seltener.

Dass er nun allein für ein Kind sorgen muss, haut einen weiteren Knick in seine ohnehin zögerlich einsetzende Karriere als Dichter. Überhaupt findet Roland beruflich nie so richtig den Tritt. „Er ist ein Fantast, Mutti, er kann sich auf nichts konzentrieren. Er hat Probleme in seiner Vergangenheit, über die er nicht einmal nachdenkt. Er kann nichts erreichen“, wird die Frau einmal sagen, die ihn als alleinerziehenden Vater zurückgelassen hat. Auch die meisten Kritiker sind sich einig, dass Roland gescheitert ist. Hätten sie das auch so gesehen, wenn die Hauptfigur in dieser Geschichte nicht ein Mann, sondern eine Frau gewesen wäre? Wenn sie Orlanda geheissen hätte und nicht von einer Frau, sondern von einem Mann missbraucht und später allein erziehende Mutter geworden wäre?

Überhaupt: Dieses Spiel mit der Geschlechterfrage überzeugt mich nicht. Zum Beispiel erlebt Roland das erste Mal mit seiner Klavierlehrerin als sexuelles Erweckungserlebnis, hinter dem alles andere verschwindet: „Ihre Rollen, Lehrerin und Schüler, die Ordnung und Selbstgefälligkeit der Schule, Stundenpläne, Fahrräder, Autos, Kleider, sogar Worte – nur dazu da, alle von dem hier abzuhalten.“ Das ist in meinen Augen eine reine Männerphantasie, stark beeinflusst von McEwan’s Sigmund Freud-Lektüre. Meine eigene, zum Glück recht harmlose Erfahrung mit sexuellem Missbrauch im Teenageralter, war nicht einmal ansatzweise eine sexuelle Erweckung, sondern erfüllte mich nur mit Scham und Ekel.

Vielleicht ist das Urteil der Literaturkritikerin Bernadette Conrad das einzig richtige: Sie schreibt, der Roman funktioniere am besten als Chronik eines Zeitgenossen. „Lässt man sich tiefer auf die Krisen ein, gerade des sexuellen Missbrauchs, die Rolands Leben geprägt haben, dann vermisst man die gründliche Auseinandersetzung.“ (Die ganze Kritik gibt’s hier).

Und doch hat die Lektüre mich dazu getrieben, mich vertieft mit dem Erlebnis auseinanderzusetzen, das ich selbst vor bald 44 Jahren hatte. Und sie hat mich mit der Frage konfrontiert: Was bedeutet es, beruflich vielleicht nicht jene Marke zu setzen, die man hätte setzen können? Ist das wirklich ein Scheitern? Und wie hängt es tatsächlich mit misslichen und vielleicht sehr geschlechtsspezifischen Erfahrungen in der Kindheit und Jugend zusammen? Und, nein, ich bin nicht damit einverstanden, dass man es als Scheitern einstuft, wenn sich jemand um sein Kind kümmert und daher vielleicht ein bisschen weniger weit nach oben kommt auf der Karriereleiter.