Kein Roman hat mich in letzter Zeit mehr beschäftigt als dieser hier. Der englische Starautor Ian McEwan schildert darin die Biografie des Babyboomers Roland Baines. Die Geschichte fordert mich als Post-Babyboomerin und Hobby-Genderforscherin geradezu heraus. Denn Roland führt in mehreren Hinsichten das Leben einer Frau – jedenfalls nach Babyboomer-Massstäben. Es ist beinahe, als würde McEwan sagen: „So, jetzt nehmen wir mal einen männlichen Charakter und stülpen ihm ein paar weibliche Erfahrungen über.“ So wird Roland mit 14 im Internat von einer Klavierlehrerin sexuell missbraucht – eine Erfahrung, die seine Biografie entscheidend prägen wird. Nun passiert zwar sexueller Missbrauch in den Teenagerjahren tatsächlich ab und zu bei Jungs – sehr viel häufiger ist er aber bei Mädchen (und bei Knaben sind die Täter häufig Männer).
Später dann, als Roland 38 ist und einen Sohn im Babyalter hat, wird er von seiner Frau verlassen. Fortan ist er alleinerziehender Vater. Eine Situation, die unzählige Babyboomer-Frauen kennen, Männer sehr viel seltener.
Dass er nun allein für ein Kind sorgen muss, haut einen weiteren Knick in seine ohnehin zögerlich einsetzende Karriere als Dichter. Überhaupt findet Roland beruflich nie so richtig den Tritt. „Er ist ein Fantast, Mutti, er kann sich auf nichts konzentrieren. Er hat Probleme in seiner Vergangenheit, über die er nicht einmal nachdenkt. Er kann nichts erreichen“, wird die Frau einmal sagen, die ihn als alleinerziehenden Vater zurückgelassen hat. Auch die meisten Kritiker sind sich einig, dass Roland gescheitert ist. Hätten sie das auch so gesehen, wenn die Hauptfigur in dieser Geschichte nicht ein Mann, sondern eine Frau gewesen wäre? Wenn sie Orlanda geheissen hätte und nicht von einer Frau, sondern von einem Mann missbraucht und später allein erziehende Mutter geworden wäre?
Überhaupt: Dieses Spiel mit der Geschlechterfrage überzeugt mich nicht. Zum Beispiel erlebt Roland das erste Mal mit seiner Klavierlehrerin als sexuelles Erweckungserlebnis, hinter dem alles andere verschwindet: „Ihre Rollen, Lehrerin und Schüler, die Ordnung und Selbstgefälligkeit der Schule, Stundenpläne, Fahrräder, Autos, Kleider, sogar Worte – nur dazu da, alle von dem hier abzuhalten.“ Das ist in meinen Augen eine reine Männerphantasie, stark beeinflusst von McEwan’s Sigmund Freud-Lektüre. Meine eigene, zum Glück recht harmlose Erfahrung mit sexuellem Missbrauch im Teenageralter, war nicht einmal ansatzweise eine sexuelle Erweckung, sondern erfüllte mich nur mit Scham und Ekel.
Vielleicht ist das Urteil der Literaturkritikerin Bernadette Conrad das einzig richtige: Sie schreibt, der Roman funktioniere am besten als Chronik eines Zeitgenossen. „Lässt man sich tiefer auf die Krisen ein, gerade des sexuellen Missbrauchs, die Rolands Leben geprägt haben, dann vermisst man die gründliche Auseinandersetzung.“ (Die ganze Kritik gibt’s hier).
Und doch hat die Lektüre mich dazu getrieben, mich vertieft mit dem Erlebnis auseinanderzusetzen, das ich selbst vor bald 44 Jahren hatte. Und sie hat mich mit der Frage konfrontiert: Was bedeutet es, beruflich vielleicht nicht jene Marke zu setzen, die man hätte setzen können? Ist das wirklich ein Scheitern? Und wie hängt es tatsächlich mit misslichen und vielleicht sehr geschlechtsspezifischen Erfahrungen in der Kindheit und Jugend zusammen? Und, nein, ich bin nicht damit einverstanden, dass man es als Scheitern einstuft, wenn sich jemand um sein Kind kümmert und daher vielleicht ein bisschen weniger weit nach oben kommt auf der Karriereleiter.
Danke sehr fuer diese Interpretation. Ich war davon fasziniert, dass Sie auf die Frage seines ‚Scheiterns‘ eingegangen sind. Das war in meiner Buchgruppe heftig diskutiert. Einige waren davon ueberzeugt, dass er in seinem Berufswahl, Liebesleben, allem sogar, gescheitert ist, ich dagegen sah das nicht so schwarz/ weiss, sondern eher, dass er mit dem, was ihm in Leben passiert ist, doch zurecht gekommen ist- er hat letztendlich sein Leben verdient, genoss Freundschaften und am Ende doch eine intime Beziehung und hatte eine positive und verstaendnisvolle Beziehung zu seinem Sohn. Was kann man noch von dem Leben erwarten? !
Vielen Dank für Deinen Kommentar, Mandy. Ich sehe das ziemlich genau wie Du – aber ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass das in meinem Buchclub genau die gleichen Stimmen geben wird. Doch der Schluss des Buches ist sehr versöhnlich, und ich denke, dass wir dieses Gefühl der Versöhnlichkeit auch mitnehmen dürfen. Am Schluss zählt vielleicht nichts als die Kraft, die wir den nächsten Generationen mitgeben können. Ich bin immer überzeugt gewesen, dass wenn ein Mensch scheitert (was immer das heissen mag), sehr viele Dinge vorangehen, die aus Scham nicht gesagt werden. Auch in diesem Buch werden sie nur in einigen, wenigen Sätzen berührt. Warum findet Roland niemanden, der ihn auf zukunftsträchtigere Weise aus der Missbrauchssituation ausbrechen lässt als durch den Abbruch der Schule? Was löst ein solcher Missbrauch bei einem Menschen wirklich aus? Roland hat ja ein sehr schwaches Selbstwertgefühl, ein Gefühl der Unmännlichkeit, nicht erst durch den Missbrauch. Aber ein solches Erlebnis vertieft sicherlich ein Gefühl von Wertlosigkeit.