Ohrenverschlechterung

Zwei Jahre lang war mein Gehör links stabil. Man kann Ziele haben, wenn man links stabil gut hört – auch wenn das Hörgerät die meiste Arbeit beim gut Hören macht. Man kann fast ein richtiges Leben führen. Aber jetzt ist das linke Ohr nicht mehr stabil. Neulich abends zogen wir uns den neuen Literaturclub auf dem Schweizer Fernsehen rein. Milo Rau gurrte wie eine Taube, Elke Heidenreich verrückte mit ihrer Stimme Möbel. Am nächsten Morgen im Bus hörte ich Eiszapfen hundertmal verstärkt auf Blechdächer klirren. Ich besuche meinen Vater im Talgrund. Wenn die Lifttür sich öffnet, macht sie ein Würgegeräusch.

Ich nehme meine Ziele und klopfe sie auf ihre Gültigkeit ab, das Klopfen klingt filzig.

Schwerhörig: Sieben Regeln für Gespräche in der Kaffee-Ecke

Ihr erinnert Euch: Ich begann meine Serie über Gespräche in der Kaffee-Ecke mit einem Zitat von Franz Kafka. Dieser beklagte, dass die Freiheit des einzelnen gestört werde „durch das nicht notwendige menschliche Beisammensein, aus dem der grösste Teil unseres Lebens besteht.“ Wie aber unterscheiden wir, ob ein Beisammensein notwendig oder nicht notwendig ist? Sind Kaffee-Ecken-Gespräche notwendig oder nicht?

Ich glaube, sie sind es. Nicht immer, aber oft. Denn ich kann auch als Schwerhörige nicht von den Menschen wegdriften, mit denen ich das Grossraumbüro teile. Es reicht heute nicht mehr, dass ich einfach allen „hoi!“ zuflöte, wie ich das in den letzten Jahren oft getan habe. Wir sind heute soweit, dass wir sogar über die Wirklichkeit verhandeln müssen, in der wir leben (siehe weiblich gelesene Menschen und Stechmücken). Sonst wissen wir nicht, was läuft, handeln unangemessen, prallen unnötig heftig aufeinander. Dann werden wir unfrei, indem wir unsere Kräfte verschwenden.

Nun ist für uns Schwerhörige fast jede Plauderei anstrengender als für andere. Daher meiden wir oft Alltagskonversationen. Und ob wir in der Kaffee-Ecke gleich eine notwendige oder eine nicht-notwendige Begegnung haben werden, lässt sich schwer vorhersagen. Deshalb habe ich für mich jetzt folgende Regeln aufgestellt:

1) Es herrscht ungewöhnlicher Lärm in der Cafeteria: Da reicht in der Regel Hallosagen.
2) Ich habe eine Person vor mir, mit der ich schon freundliche, anregende Gespräche gehabt habe. Dann suche ich den Austausch. Falls nicht die Regel 1) zur Anwendung kommen muss.
3) Ich habe eine Person vor mir, mit der ich schon bedeutsame, aber kontroverse Auseinandersetzungen gehabt habe. Dann erst mal fragen, wie es ihr geht und abwarten, was passiert.
4) Ich kenne die Person in der Kaffee-Ecke nicht: Dann stelle ich mich vor und sage, dass ich schwerhörig bin. Ich sage ihr auch, dass sie mich beim Sprechen bitte anschauen und deutlich artikulieren soll.
5) Ich bin mit den Gedanken ganz woanders oder habe eh wenig Zeit: Hallosagen muss reichen.
6) Mit der Person, die vor mir steht, bin ich in den letzten Jahren nie in ein bedeutsames Gespräch gekommen: Da reicht wohl Hallosagen.
7) Wenn möglich: spontan bleiben.

Das klingt jetzt banal. Aber, Freund*innen, ich frage mich gerade, ob das nicht so schon ein Rezept für ein Burn-out ist!

Bedeutsame Gespräche in der Kaffee-Ecke

Franz Kafka, Quelle: Wikipedia.

Die Freiheit des einzelnen werde nur gestört „durch das nicht notwendige menschliche Beisammensein, aus dem der grösste Teil unseres Lebens besteht.“ Dies schrieb Franz Kafka 1913 an seine Verlobte Felice Bauer. Das Zitat fällt mir immer ein, wenn ich an die Kaffee-Ecke in unserem Grossraumbüro denke. Zum Glück ist sie klein, es herrscht dort kein Kaffee-und-Gipfeli-Gruppenzwang wie in anderen Büros, sondern ein planloses Kommen und Gehen. Aber immer, wenn ich dort jemandem begegne, frage ich mich: Ist das jetzt nur ein notwendiges menschliches Beisammensein oder möglicherweise mehr? Mit anderen Worten: Ist es angezeigt, dass ich mit dieser Person ein paar Worte wechsle? Oder reicht es, wenn ich grüsse, meinen Espresso hinunterkippe und wieder gehe?

Als hochgradig Schwerhörige habe ich das menschliche Beisammensein im Büro auf das Allernötigste reduziert. Kafka wäre glücklich in meiner Haut. Oder vielleicht auch nicht – es ist ja schwer, sich Franz Kafka glücklich vorzustellen. Ich bin es nicht. Als ich noch gut hörte, war ich eine unermüdliche Plaudertasche und arbeitete auch in einem Team. Dann verlor ich mein Gehör und wurde eine Ein-Frau-Abteilung. Vor der Pandemie pflegte ich noch den Kontakt mit den Leuten im Büro nebenan, zum Beispiel mit Kaja. Nach der Pandemie wurde unsere Bürolandschaft umgepflügt, ich kam in eine neue Ecke, dann kam der Krebs und danach hatte ich für längere Zeit einfach nicht mehr den Mumm, von vorne anzufangen und die Neuen kennenzulernen.

Die Kaffee-Ecke wäre eine Chance, Bekanntschaften zu schliessen. Aber wenn die neue Bekanntschaft in spe beim Nuscheln die surrende Kaffeemaschine anschaut, habe ich schon verloren. Und doch konnte ich beim stummen Kaffeetrinken nicht aufhören, mir die Frage zu stellen: Verpasse ich gerade ein Beisammensein, das eigentlich notwendig wäre? Oder einen Moment der Verbindung oder gar Verbündung? Verkannte Kafka nicht die Tatsache, dass uns das scheinbar unnötige Zusammensein mit Menschen eben auch einen Boden verschafft, auf dem wir uns bewegen können? Ich begann, obsessiv über meine Begegnungen in der Kaffee-Ecke nachzudenken. Ich könnte aus meinen Studien eine ganze, neue Rubrik machen. Aber ich erzähle in nächster Zeit einfach mal das, was ich für bedeutsam, ja, gar für lustig halte.

 

Glücksstündchen am Quartierfest

Zurzeit glänze ich hier leider mit Abwesenheit. Ich habe mich Hals über Kopf in ein neues Blog-Projekt mit einer guten Freundin gestürzt, das mich begeistert und fordert. Sobald wir dort genügend Stoff haben, um seriös an die Öffentlichkeit zu treten, werde ich hier den Link posten.

Heute möchte ich nur kurz vom grossen und für mich sehr geglückten Spätsommerfest in unserem Quartier berichten. Ich unterhielt mich dort fast den ganzen Abend lang mit drei sehr charmanten Herren: Zu meiner Rechten sass der Doppelbuddha, zu meiner Linken Toni vom oberen Stock. Und vis à vis mein Ehemann, Herr T. Ich will es nicht leugnen: Ich genoss die Aufmerksamkeit. Ich verstand zwar nur etwa 30 Prozent der Konversation, das ist bei mir bei Festen immer so. Merkwürdigerweise störte es diesmal überhaupt nicht. Ich musste nur die Stichworte packen, die ich zwischendurch verstand, ab und zu selbst eine Anekdote erzählen und sie sonst heiter lächelnd in die Runde geben. Es ging alles ganz wie von selbst.

Über Schwerhörigkeit bloggen

Eine Bekannte von mir hat als @ohrkaputt auf Instagram einen höchst sehenswerten Feed. Die Protagonistin saust dort mit Mann, Kind und Schwerhörigkeit auf fröhlichen Cartoons durch ihren Alltag. Neulich thematisierte @ohrkaputt etwa das Paradox, dass Schwerhörige oft sehr lärmempfindlich sind. Das Material ist ansprechend verknappt – da ist ein Profi am Werk. Dringend nötige und wirksame Aufklärung, auch für Hörende.

Dann blicke ich jeweils stirnrunzelnd auf meinen eigenen Blog. Vielleicht sollte ich mehr über Schwerhörigkeit schreiben, denke ich. Ich meine: Meine Posts zu diesem Thema gehören zu den meistgelesenen. Freud’scher Verhörer etwa kommt auf sagenhafte 397 Klicks. Und doch sträube ich mich, aus zwei Gründen. Erstens will ich hier gar nichts Professionelles tun. Ich will hier kussbereit bleiben. Ich will wie die vom Liebeszauber berauschte Feenkönigin Titania dem erstbesten Thema verfallen, das mir an einem Morgen so begegnet. Und dann will ich, Königin und gewissenlose Womansplainerin, unverkürzt darüber schwadronieren.

Zweitens, und wichtiger: Ich habe irgendwann festgestellt, dass so eine Menière-Erkrankung zwar beengend ist. Dass es aber hilft, wenn man nicht die ganze Zeit um sie kreist. Ich habe beschlossen: Ich will zeigen, dass ich einen Horizont habe, der über meine Behinderung hinausgeht. Dass es möglich ist, schwerhörig zu sein und zum Beispiel über Politik nachzudenken. Oder über Bücher.

Das ist nicht so wirksam. Aber wichtig ist es eben auch. @ohrkaputt solltet Ihr Euch trotzdem anschauen.

 

Neue Freud’sche Verhörer

Der Frühling ist hierzulande auch die Zeit der Generalversammlungen. Als hochgradig Schwerhörige meide ich solche Treffen. Ich verstehe trotz guter Hörgeräte meist sowieso nicht, was gesagt wird. Ausnahme ist die Jahresversammlung unserer Wohnbaugenossenschaft. Da gehe ich immer hin, auch, weil sie exzellent vertont ist. Ich verstehe jeweils fast alles, aber manchmal verhöre ich mich.

Etwa, als unser Vizepräsident eine langjährige Vorständin verabschiedete. „12 Jahre lang hat sie uns ihr wackliges Knowhow zur Verfügung gestellt.“

Wackliges Knowhow? Das kann er nicht gesagt haben! Die Frau vorne hatte ein sympathisches Lächeln und einen eisgrauen, kompetenten Haarschnitt. Bestimmt meinte er „ihr fachliches Knowhow“, entschied ich.

Ja, und dann feiert unsere Wohnbaugenossenschaft auch noch ihr hundertjähriges Bestehen. Der Präsident sagte daher zum Schluss: „Heute findet auch unser Überlebensfest statt, zu dem ich Sie herzlich einlade.“

Überlebensfest? Eine Genossenschaft mit fast 2200 Wohnungen und nach Präsentation einer erfreulichen Jahresbilanz? Nein, er muss das Jubiläumsfest gemeint haben.

Ältere Freud’sche Verhörer gibt’s hier und hier.

 

Zwischenspiel: Kammermusik und Schwerhörigkeit

Nur noch selten empöre ich mich
gegen mein schwaches Gehör,
meine Fehlhörigkeit.
Meist fehlt mir dazu die Zeit.

Aber neulich, Kammermusik!
Mein erstes Konzert, seit Jahren.
Hei, wie die Geigen quietschen und gellen,
wie sie maulen, greinen und bellen.

Dann schaltete ich
die Hörhilfen aus.
Ich sah den Mann am Cello,
er spielte pizzicato.
Weich trafen Töne meine Ohren,
wie der Schritt einer Fee, die in Ugg Boots
auf dem Mond spaziert.

The Sound of Metal

Ruben ist eben ertaubt und hilflos – aber nur am Anfang. Da muss seine Freundin Lou noch für ihn telefonieren. (Quelle: guardian.co.uk)

The Sound of Metal ist ein feinfühliger Film über einen Menschen, der sein Gehör verliert. Ruben Stone (Riz Ahmed)  ist Drummer und gerade auf Tour, als er Gespräche plötzlich nur noch als fernes Glucksen hört. Wie befremdlich das für Betroffene tatsächlich klingt, ist im Film sehr gut dargestellt. (Jedenfalls, soweit ich das beurteilen konnte – ich bin selbst hochgradig schwerhörig und bekomme auch bei der besten Vertonung nie ganz mit, wie ein Film tönt). Der Film wechselt ab zwischen der in Filmen normalen Vertonung und der Darstellung von Rubens Hörerlebnis, auch als bei Ruben dann alles weg ist. Stille.

Was in einem Menschen in einem solchen Moment vor sich geht, ist überwältigend, aber schwierig sichtbar zu machen. Ich selbst habe nach den ersten, schweren Hörstürzen in meinem guten Ohr wochenlang Tränenströme vergossen, aber das hätte kaum bildschirmtauglich ausgesehen. Ruben hat einen oder zwei Wutanfälle und guckt sonst meist mit riesigen Augen verwirrt bis panisch um sich. Das sieht glaubwürdig aus. Seine Partnerin und Bandkollegin Lou (Olivia Cooke) muss ihm erst mal helfen, seine dringendsten Probleme zu lösen. Dann kommt er in eine Institution auf dem Land, wo er in einem Crash-Kurs in Gebärdensprache lernt und mit seinem neuen Ich ins Reine kommen kann. Aber er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, in sein altes Leben zurückzukehren.

Das Werk ist mehrfach preisgekrönt. Ich glaube daher, dass es auch Menschen etwas gibt, die sich herzlich wenig für Gehörprobleme interessieren. Erstens ist die Musik am Anfang abgefahren (soweit ich das beurteilen kann). Zweitens ist es ein Film über etwas, was jedem Menschen passieren kann: dass er etwas verliert, was ihm Leib und Seele zusammenhält. Drittens ist die Geschichte  aus Rubens Perspektive erzählt, und eins ist Ruben nie: ein armer Behinderter, einer von den anderen, einer, zu dem man auf Distanz gehen muss. In seiner neuen Umgebung findet er sich schnell zurecht. Er hat einen Plan, und er findet Mittel und Wege, ihn ins Werk zu setzen.

Dennoch habe ich Fragen an den Film. Erstens wird bei Rubens Eintritt in die Institution klar, dass er vier Jahr zuvor heroinsüchtig gewesen ist. Warum ist das relevant? Weil das Heroin mit ein Grund für die Ertaubung sein könnte? Weil der Film einen Protagonisten braucht, der schon vorher in einer prekären Verfassung war? Suchtprobleme als Folge von Schwerhörigkeit sind nichts Ungewöhnliches. Aber so wie sie hier daherkommen, als unerklärte, alte Geschichte, überzeugen sie mich dramaturgisch nicht. Zweitens frage ich mich, warum der Film genau an der Stelle endet, wo er eigentlich anfangen sollte: Als Ruben merkt, dass der Weg zurück in die Welt der Hörenden auch mit bester Technologie sehr schwierig wird.

Übrigens: Danke, Herr Hopkins

Walisisch für Schwerhörige

Ein Zug der Firma Transport for Wales brachte uns von Manchester nach Llandudno in Nordwales. Wir können dem Unternehmen nur Bestnoten geben. Das Rollmaterial war neu, die Info-Bildschirme funktionierten tiptop, Lautsprecher-Durchsagen waren häufig, korrekt und gut verständlich, naja, für uns nur die englischen. Dennoch: Es war eine Traumreise für Schwerhörige.

Alle Angaben waren strikt zweisprachig, kymrisch und englisch. Der walisische Ansager klang wie ein gut gelaunter Märchenerzähler. Herr T. verstand schon nach wenigen Haltestellen, was „the next station is…“ auf Walisisch heisst: „gorsaf nesaf“ oder „nesaiaf“ oder ähnlich. Ich habe ja in jungen Jahren Linguistik studiert und mich speziell für Phonologie interessiert. Früher hätte ich nach Kräften versucht, meine Zunge um die merkwürdigen Laute dieser Sprache zu schlingen und erste Phrasen zu verstehen oder sogar verwenden zu können. Aber mittlerweile ist mir das zu anstrengend.

Immerhin hatten wir uns auf dem ganzen Weg nach Wales laut darüber nachgedacht, wie man den Ortsnamen „Llandudno“ ausspricht. „Thlandadno? Liandadno?“ Mein Freund Eagle Eye sagte: „Hlandudno“. In unserem Reiseführer stand, das „Ll“ werde in etwa wie ein weiches „Chl“ ausgesprochen. Also „Chlandudno“. Der Märchenerzähler im Zug sagte aber eher „Schandudno“, oder so klang es jedenfalls für mich. Egal. Wir kamen irgendwann dort an.

„Spricht überhaupt noch jemand Walisisch?“ fragte ich mich. „Oder ist diese Zweisprachigkeit im Zug nur politisch gewollte Diversitätspflege?“ Mein Linguistikprofessor vertrat in den späten achtziger Jahren die These: Minderheiten-Sprachen in ökonomisch eher peripheren Gebieten sind zum Aussterben verurteilt. Zuerst werden alle zweisprachig, und das sei bei den Walisisch sprechenden bereits der Fall. Dann würde die Minderheitssprache allmählich aus dem Alltag verschwinden. Ich war ja schon während meines Studiums in den späten achtziger oder frühen neunziger Jahren in Wales gewesen. Hatte ich damals Welsh gehört? Nein, nicht dass ich wüsste.

An den ersten beiden Tagen hörten wir in Llandudno nur Englisch. Llandudno ist ein gepflegtes Seebad, im Juni mehrheitlich von älteren Feriengästen aus England bevölkert. Am dritten Tag brachen wir Richtung Caernarfon auf. An der Bushaltestelle kam Herr T. mit zwei Frauen um die sechzig ins Gespräch. Ob sie eben Walisisch gesprochen habe, frage er.

Die eine lächelte über so viel Ahnungslosigkeit und sagte in einem lustigen Englisch: „Klar! Wenn wir unter uns sind, sprechen wir selbstverständlich Walisisch.“ Später hat mir Herr T. dann und wann gesagt, Leute um uns herum würden Walisisch sprechen. Ich kann Leute um uns herum zwar reden hören, weiss aber meist nicht, in welcher Sprache. Ich glaubte die keltische Sprache daran zu erkennen, dass sie einen anderen Rhythmus hat als Englisch. Englisch ist eher synkopisch, Welsh hat mehr Triolen, behaupte ich jetzt einfach mal. Auch schien mir diese Sprache voll von „aia aia aia“-Wiederholungen zu sein. Aber eben, meine Eindrücke sind höchst unzuverlässig.

Kaum zurück aus den Ferien stöberte ich in meinen alten Tagebüchern und stiess unerwartet auf Notizen meiner ersten Reise nach Wales, 1990. Ich staunte nicht schlecht, als ich eine Liste von präzis geschilderten Situationen vorfand, in denen ich damals die kymrische Sprache gehört hatte (ich hörte noch normal). Sie enthielt sechs Punkte, einige auch für die Soziolinguistin bemerkenswerte, zum Beispiel diesen: „Ffestiniog, The Abbey Pub: Ein Mann um die 25 und mehrere Knaben zwischen 10 und 14 stehen am Pool-Tisch und sprechen Englisch. Dann kommen eine Frau und ein Mädchen dazu (die Frau um die 40, das Kind 12 oder 13), die beiden sprechen Welsh. Solange die Frauen am Tisch stehen, sprechen alle Welsh. Danach wechseln die Männer zurück auf Englisch.“

Ich habe keinerlei Erinnerungen an diesen Vorfall. Ich glaube, ich bin nicht nur schwerhörig, sondern auch dement.

„Lieber blind oder taub?“ Die schlagfertige Antwort

Jede Schwerhörige kennt das. Sobald sie sich in einer Konversation als schwerhörig outet, kommt vom Gegenüber: „Nein so etwas! Aber zum Glück bist Du nicht blind! Das wäre ja noch viel schlimmer.“ Obwohl ich dieses Gesprächshäppchen in den ersten Jahren meiner Schwerhörigkeit gefühlte 200 Mal zu kosten bekommen habe, habe ich mich jahrelang immer wieder daran verschluckt. Ich meine, was sind das für Menschen, die so etwas zu einer schwerhörigen Person sagen?! „Hast Du kein Herz oder keinen Kopf oder fehlt Dir beides?!“ möchte man sie fragen. Aber das wäre denn doch zu grob.

Am liebsten möchte ich Halbfremden ja gar nichts über meine Schwerhörigkeit sagen. Aber ich muss. Denn ich muss ihnen erklären, warum ich sie nicht auf Anhieb verstehe, vielleicht zwei- oder, oh Schreck, dreimal nachfragen muss. Mit der Zeit habe ich gelernt, dem blind/taub-Häppchen präventiv auszuweichen. Ich sage nun: „Weisst Du, ich höre nicht gut. Bitte sprich deutlich mit mir und schau mich an beim Sprechen.“ Dazu sind die Menschen auf Anhieb bereit, und das blind/taub-Häppchen kommt meist gar nicht erst an unseren Tisch.

Es gibt aber auch noch eine Vorgehensweise bei hartnäckigen Fällen. An Weihnachten probierte ich sie zum ersten Mal aus, bei Herrn T.’s Cousine Tiffany. Wir sehen sie immer an Weihnachten, und das blind/taub-Häppchen kommt regelmässig auf den Tisch.  Als es diesmal kam, lächelte ich kühl und sagte: „Weisst Du, wenn ich tatsächlich wählen könnte, dann würde ich als Kind die Blindheit wählen und als Erwachsene die Taubheit. Denn wer als Kind taub ist, lernt die Lautsprache nur mit sehr viel Mühe – und ohne Lautsprache ist es viel schwieriger, überhaupt etwas zu lernen. Wer als Erwachsene blind wird, hat dagegen grosse Nachteile bei der Orientierung im Raum, und das ist dann auch nicht lustig.“

Wenn Tiffany sprachlos ist, setzt sie ein süsses Lächeln auf und wechselt das Thema. Das tat sie an diesem Punkt. Gelernt habe ich diese Antwort bei Peter Lienhard, einer Schweizer Kapazität in der Forschung über Sinnesbehinderungen. In seinem Buch „Ertaubung als Lebenskrise“ (1992) setzt er sich genau mit dieser Frage auseinander, die, so schreibt er, schon Kinder stellen würden.

Für manche Menschen mit Seh- und Hörbehinderung liest sich das jetzt vielleicht abwertend – gerne öffne ich meine Kommentarspalte zu diesem Thema.