„Lieber blind oder taub?“ Die schlagfertige Antwort

Jede Schwerhörige kennt folgende Stelle in einer Konversation. Nachdem sie sich als Schwerhörige geoutet hat, kommt sofort: „Ach, nein sowas! Aber stell Dir vor: Du könntest blind sein! Das wäre ja noch viel schlimmer.“ Ich nicke dann meist nachsichtig und wechsle das Thema. Oft geht es ja nur um Small Talk. Outet man sich da als Schwerhörige, muss die Hörende unversehens darüber nachdenken, ob sie jetzt Mitleid aufbringen sollte. Das ist eine Zumutung, die augenblicklich abgewehrt gehört. Dabei geht gerne vergessen, dass die Schwerhörige in der Regel gar kein Mitleid will – sondern nur Nachsicht dafür, dass sie im Gespräch vielleicht nicht sofort alles versteht.

An Weihnachten hatte ich die Gelegenheit, bei einer Verwandten eine schlagfertige Antwort auf das Taubheits/Blindheits-Konversationshäppchen auszuprobieren – sie stammt  von Peter Lienhard, einer Schweizer Kapazität in der Forschung über Sinnesbehinderungen. In seinem Buch „Ertaubung als Lebenskrise“ (1992) setzt er sich genau mit dieser Frage auseinander, die, so schreibt er, schon Kinder stellen würden.

Wenn es diese Entscheidungsmöglichkeit gäbe, wäre sie absurd, fügt er korrekt hinzu. Aber er beantwortet die Frage dann doch: Wer sie hätte, täte gut daran, als Kind die Blindheit und als Erwachsene die Taubheit zu wählen. Denn die Lautsprache sei für ein Kind ein enorm wichtiges Vehikel der Kognition – könne es sie nur mit Mühe lernen, bringe das grosse Nachteile. Wer erst als Erwachsene ertaubt, beherrscht die Lautsprache meist weiterhin. Während Blindheit die Orientierung auf sehr einschränkende Weise erschwere.

Für manche Menschen mit Seh- und Hörbehinderung liest sich das jetzt vielleicht abwertend – gerne öffne ich meine Kommentarspalte zu diesem Thema. Aber der Verwandten warf ich den fett gedruckten Satz vor, mitsamt Begründung. Ich erzielte die erhoffte Wirkung (jedenfalls teilweise): Sie lächelte respektvoll und wechselte das Thema.

 

 

 

Glückliche Unruhe im Ohr

„Unrueh“ ist ein Film, in dem Russisch, Französisch und Berndeutsch gesprochen wird.

Mein Freund, der Pedestrian, lockte mich neulich ins Kino. Der Film hiess Unrueh und spielt im Uhrenfabrikstädtchen Saint-Imier im wilden Berner Jura.

Ich hatte nur eine ängstliche Frage dazu: „Ist er untertitelt?“ Der Pedestrian versicherte: „Ja. Mindestens an den Stellen, an denen russisch oder französisch gesprochen wird.“ Das beruhigte mich nicht einmal annähernd. Denn die meisten Stellen in oft mehrsprachigen Deutschschweizer Filmen sind ja Deutsch gesprochen und somit nicht untertitelt. In letzter Zeit hörte ich oft zu schlecht, um dann folgen zu können. Aber ich wusste, dass Herr T. sich für den Film interessieren würde. Er dreht sich im die anarchistische Bewegung, die es in Saint-Imier im 19. Jahrhundert gab – über diese hat er bereits begeistert geschrieben (hier sein Blogbeitrag). „Unrueh“ bezeichnet das Teilchen, das Uhren am Laufen hält. Aber wohl auch das, was gerade bei der Arbeiterschaft in der Uhrenfabrik damals gärte.

Schon in der ersten Szene merkte ich, dass mit meinen Ohren etwas ganz Unglaubliches passiert sein muss: Ich konnte hören, dass die drei Frauen im Bild russisch sprachen. Ich höre also tatsächlich wieder besser. Merklich besser. Während der Pandemie hatte ich mein Gehör so rasant verloren, dass ich oft nur noch Lärm mitbekam, wenn jemand mich nicht sehr gezielt und in ruhiger Umgebung ansprach. Und das mit voll aufgedrehtem Hörgerät.

Dann musste ich mir im Oktober einen Backenzahn ziehen lassen, um den herum ich eine beträchtliche Zahnfleisch-Entzündung hatte. „Entzündungsherde im Körper fördern den Krebs“, begründete die Zahnärztin das Vorhaben. Sofort hatte ich nach dem wenig erbaulichen Eingriff ein Gefühl nachlassenden Drucks im Ohr – und wenige Tage danach besserte sich dann der Zustand meines Gehörs geradezu dramatisch. Seither geniesse ich jedes Dezibel. Man kann nie wissen, wie lange das Glück dauert.

Fragt mich also nicht nach der Handlung des Films. Ich versenkte mich geradezu verliebt in die Dialoge. Die Protagonisten sprechen ungezwungen ein weiches, helvetisches Französisch und ein zärtlich klingendes Berndeutsch miteinander, so ist das wohl an der Sprachgrenze. Dazwischen kommen Russen ins Spiel.

Einen der ersten Dialoge auf dem Gelände der Uhrenfabrik werde ich wohl nie vergessen. Eben haben Männer einen Teil des Fabrikgeländes gesperrt, wegen Fotoaufnahmen, glaube ich. Die ankommenden Arbeiterinnen werden angewiesen, einen Umweg zum Fabrikgebäude zu nehmen. Da sagt Josephine, eine der jungen Frauen: „Aber wenn ich aussen herum gehe, dann verliere ich vier Minuten.“ Sofort lassen die Herren sie ungehindert passieren. Hat man je eine punktgenauere Abhandlung über das Verhältnis von Zeit, Herrschaft und Selbstbehauptung im Kapitalismus gehört?

 

Göttlicher Babelfisch

Wenn der Babelfisch uns ins Ohr flutscht, verstehen wir sogar Vogonisch (Quelle: aliens.fandom.com)
Ich habe gerade das dringende Bedürfnis, mich ein wenig zu vergnügen. Deshalb habe ein Buch zu lesen begonnen, auf dessen erheiternde Wirkung ich mich in jungen Jahren verlassen konnte: Douglas Adams‘ „Per Anhalter durch die Galaxis“. Ich war nicht sicher, ob es bei Frau Frogg Ü50 noch funktioniert, aber siehe da: Auf Seite 52 brach ich in derart schallendes Gelächter aus, dass Herr T. verwundert aufsah.

Für alle, die die Story nicht kennen: Sie erzählt die Geschichte des ahnungslosen Erdenbewohners Arthur Dent, der eines Donnerstagsmorgens von einem intergalaktischen Freund auf eine aberwitzige Reise durchs All entführt wird. So um die Seite 50 haben die beiden ihre erste Mitfahrgelegenheit in einem riesigen Raumschiff gekapert. Doch Arthur versteht von der Lautsprecher-Durchsage des Kapitäns nur ein sehr beunruhigendes: „Heul heul gurgel heul gurgel heul.“ Meinen schwerhörigen Leserinnen und Lesern wird dieses Problem bekannt vorkommen. Arthur Dent ist jedoch nicht schwerhörig, sondern er versteht kein Vogonisch, und Vogonisch ist die Sprache des Raumschiffkapitäns.

Aber nun bekommt Arthur von seinem Freund einen kleinen, gelben Fisch ins Ohr gesteckt, einen so genannten Babelfisch. Und sogleich verwandelt sich das Gegurgel in seinem Ohr in annähernd normales Deutsch. Auch dieses Phänomen kennen wir Schwerhörigen. Wir erleben es zum Beispiel, wenn wir passende Hörgeräte anziehen. Dieses plötzlich wieder klare Hören kann ein geradezu überschäumendes Glücksgefühl auslösen.

Der Babelfisch aber ist, so lesen wir auf Seite 52, kein Gerät, sondern ein Lebewesen: ein für Galaxis-Reisende derart „unfassbar nützliches“ Produkt der Evolution, dass „einige Denker ihn als schlüssigen und endgültigen Beweis der NICHT-Existenz Gottes sehen.“ (S. 52)

Das Argument geht ungefähr so: „Gott sagt: Ich weigere mich zu beweisen, dass ich existiere. Denn ist dieser Beweis einmal erbracht, braucht es den Glauben nicht mehr, und ohne Glauben bin ich nichts.“ Aber, so antwortet der Mensch: „Der Babelfisch ist ein todsicheres Zeichen, nicht wahr? Er kann sich nicht durch Zufall entwickelt haben. Er beweist, dass Du existierst, und daher existierst Du eben gemäss Deinem eigenen Argument nicht. QED.“ An dieser Stelle setzte mein Gelächter ein, weil mich die Passage an die mittelalterlichen Gottesbeweise erinnerte, die wir in den Philosophiestunden am Gymnasium lernten. Erwartet man so etwas in einem Science Fiction-Roman?

Ich lachte aber auch, weil ich zweifelsfrei feststellte, dass man die ganze Sache auch genau umgekehrt sehen kann: Soweit wir wissen, gibt es in der ganzen Galaxis keinen Babelfisch für Schwerhörige. Für uns hält das Universum also keine „unfassbar nützliche“ Lösung unserer Probleme bereit, nur mehr oder weniger taugliche Hörgeräte. Aber dafür gibt es möglicherweise einen Gott.

Zitate aus Douglas Adamas: „The Hitch Hiker’s Guide to the Galaxy – a Trilogy in Four Parts“, London, William Heinemann Ltd., 1979 (Übersetzung der Zitate von Babelfröschin Frogg). Hier geht’s zu einem YouTube-Ausschnitt der Verfilmung von 2005 mit Martin Freeman als Arthur Dent.

Ein beglückendes Erlebnis

Das Klimaspuren-T-Shirt von der grossen Wanderung 2021, das am Wochenende viele trugen.
Gestern habe ich habe ich darüber berichtet, wie ich beinahe Einsiedlerin geworden wäre. Ich muss jedoch unbedingt hinzufügen, dass die Klimagespräche in Flüeli-Ranft (wegen denen ich überhaupt dort oben war) für mich schliesslich eine überraschend glückliche Wendung nahmen. Es ist ja so: Die Gespräche waren ein grosses Stelldichein der Klimapsuren-WandererInnen von 2021. Das T-Shirt zu diesem Marsch zeigt lauter kleine Punkte, die man durchaus als Fussspuren interpretieren kann. Dass einige von ihnen am vergangenen Wochenende durch meinen unwegsamen Gehörgang und damit auch direkt zu meinem Herzen führten, erfüllt mich mit grosses Dankbarkeit.

Der erste, der mich erreichte, war Walter, ein älterer Herr, beim Mittagessen. Er wusste bereits, dass ich in einem vollen Speisesaal nur schwer ansprechbar bin. Trotzdem sagte er nach dem ersten Gang mit einem väterlich-pfiffigen Lächeln: „So, nun gib mir mal Deinen Salatteller mit, damit …“, den Rest verstand ich nicht. Doch mir klar, dass er die Ablage für gebrauchtes Geschirr gefunden haben musste, nach der ich vergeblich Ausschau gehalten hatte. Mein Ärmel hing deshalb beinahe in das zur Seite gestellte Geschirrstück mit Sauce. Walter trug unsere Salatteller weg, und als er zurückkam fasste ich ich Zutrauen zu ihm und seinem Bündnerdialekt. Uns gelang dann tatsächlich eine kleine Konversation, er hat sich bestimmt ganz schön angestrengt. Er berichtete von einer eigenhändig lancierten Petition zu Handen des Churer Gemeinderates, mit der er erfolglos versucht hatte, den Bau einer neuen Strasse zu verhindern. Man beschied ihm, die breite Öffentlichkeit sei bei dieser Sache gar nicht mitspracheberechtigt. So plauderten wir ein wenig über politische Rechte und die Demokratie. Und über das Paralleluniversum, in dem Klimakämpfer leben.

Referent Dominik Siegrist fragte extra bei mir nach, ob er sein Referat zum Thema „Fallen uns die Berge auf den Kopf?“ besser mit oder ohne Mikrofon halten solle. „Ohne“, sagte ich, „einfach deutlich sprechen reicht.“ Und wirklich: Ich habe fast alles verstanden, ausserdem war da eine hilfreiche Power Point-Präsentation. Klimaschutz plus Inklusion, nennt man das wohl.

Später, beim Essen, kamen Annette und Harry vorbei, die ich schon ein paar Jährchen kenne, und wir plauderten ein bisschen unter freiem Himmel, unter anderem übers Zügeln.

Dazu, dass all dies überhaupt möglich war, hat Herr T. viel beigetragen. Ich unterschätze seinen Einsatz manchmal ein bisschen, und wenn ich unleidlich werde, ist er immer der Betroffene. Aber dafür, dass da oben schliesslich doch einiges möglich war, war es sicher der Wegbereiter.

Ein Mann mit Anorexie und Burn-out

Niklaus von Flüe (Quelle: Keystone / Tages-Anzeiger).
Auf Flüeli-Ranft, einem winzigen Dorf in den Innerschweizer Bergen, lebte unser Nationalheiliger. Er hiess Niklaus von Flüe. Auf keinen Fall sollte man ihn mit St. Nikolaus mit dem roten Mantel verwechseln. Dieser lebte in Myra, einer Stadt in der heutigen Türkei und war ein wohltätiger und vermutlich auch geselliger Mann. Der schweizerische Bruder Klaus jedoch war Einsiedler, Mystiker und Politberater. Ein Mann des Friedens, ja, aber auch ein asketischer und in vielerlei Hinsicht gequälter Mensch. Manche sagen heute, er sei anorektisch gewesen und habe ein Burn-out durchgemacht.

Wenn man heute „Flüeli-Ranft“ sagt, dann kommen automatisch zwei Reaktionen, und beide lösen bei mir einen Abwehrschauer aus. Zum einen haben unsere Nationalisten den Nationalheiligen vereinnahmt und werfen bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein „Machet den zun nit zuo wit“ in die Runde. „Macht den Zaun nicht zu weit“, heisst das und soll bedeuten, dass die Schweiz neutral bleiben und stets nur den eigenen Nabel beschauen soll, jetzt und in alle Ewigkeit! Wenn man diese Forderung mit dem Zitat eines Heiligen aus dem 15. Jahrhundert untermalen kann, muss man ja auch gar keine Argumente mehr mitliefern, das ist das Praktische daran. Dieses Gelaber macht mich gallig, und vielleicht finde ich es deshalb deplatziert, wenn mir mal wieder jemand sagt, dort oben könne man „schöne spirituelle Erlebnisse haben und wunderbar meditieren“. Heutige Katholiken sagen zwar, Niklaus von Flüe habe das mit dem Zaun gar nie selbst gesagt – und wenn eventuell doch, dann habe er es ganz anders gemeint (hier mehr dazu). Aber wie auch immer: Ich kann nicht nach Flüeli-Ranft gehen, niemand kann nach Flüeli-Ranft gehen, ohne über das Erbe von Bruder Klaus zu grübeln.

Wobei wir gar nicht wegen des Nationalheiligen nach Flüeli-Ranft gingen, sondern eine Tagung von Herrn T.s Klimaspuren-Freunden besuchten. Dass sie dort oben stattfand, hat ebenfalls mit dem Heiligen zu tun: Grüne Katholiken haben sich statt des Geredes über den Zaun die Bewahrung der Schöpfung auf die Fahne geschrieben und im Ranft-Zentrum einen Tagungsort der Nachhaltigkeit geschaffen.

Schildchen beim Zugangsweg zum Ranft.
An dieses Treffen zu gehen war für mich eine schwierige Mission. Zwar geht es mir insgesamt erstaunlich gut, und der dreitägige Ausflug bediente meine grosse Sehnsucht nach einer kleinen Reise. Aber ich höre zurzeit so schlecht, dass ich in einem vollen Speisesaal keiner, wirklich keiner Konversation gewachsen bin. Die ersten zwei oder drei Mahlzeiten waren eine einzige Hochnotpeinlichkeit. Diese Angst, dass jemand das Wort an mich richten könnte! Diese Verunsicherung darüber, dass ich mit meinem dunkelblauen Turban zwar auffiel, aber eigentlich nicht da war. So griff ich zu einer ähnlichen Strategie wie schon in Salecina: Ich blieb nur kurz zum Essen, dann flüchtete ich. Diesmal aber nicht nach Hause, sondern hinunter ins enge Tal, zum Einsiedler, dem ich mich auf einmal sehr verwandt fühlte. Das Schild am Zugangsweg kam mir vor wie ein boshafter, kleiner Kalauer, extra für mich gemacht.

Die Pilgerkirche zuunterst war komplett überlaufen, so suchte ich auch von dort das Weite – auch der Eremit hätte es so gemacht. Auf einem lange Spaziergang fand ich meinen eigenen Weg, meine eigenen Gedanken, mein eigenes, vergessenes Kirchlein auf der anderen Talseite. Und am Abend sass ich auf dem Balkon unseres Hotelzimmers, blickte über die Landschaft und – nein, ich meditierte nicht, das wäre übertrieben. Aber ich war einfach glücklich, in dieser überirdisch schönen Landschaft aufgehoben zu sein.

Und dann, am nächsten Tag, beim Mittagessen, gab es eine überraschende, beglückende Wendung in dieser Geschichte.

Blick vom Ranft-Zentrum über die Hügel zum Sarnersee.

Aperol Spritz intravenös

Chemotherapie sieht irgendwie ganz entspannt aus: Man sitzt in einem Lehnstuhl und von oben werden einem verschiedene Flüssigkeiten aus Beuteln in die Venen geträufelt. Ich bekomme Epirubicin und Cyclophosphamid und, nein, ich habe beide Medikamente nicht gegoogelt. Ich google nur das Nötigste, das ist eine Art Selbstschutz vor zu viel Krankheit. Eine der Flüssigkeiten ist orange. „Die Farbe von Aperol Spritz“, sagte Herr T., der neben mir auf der Fensterbank sitzt und zuschaut. Aperol Spritz trinken wir jeweils freitags, ein fröhliches Ritual zum Wochenabschluss. Im Moment geht das nicht, im besten Fall genehmigen wir uns ein Cüpli.

Herr T. hilft, wo er kann, meist ohne zu motzen. Er kommt mit mir mit ins Spital, wenn es nötig ist – fast immer. Er hilft mir, die Ärztinnen und Ärzte zu verstehen. Aber ich beginne mich zu fragen, ob ein Mann eine Frau lieben kann, die ihren Aperol Spritz schon am Mittwoch und intravenös verabreicht bekommt.

Ich bin viel zu Hause und arbeite im Homeoffice. Meinem Chef, der mir das verdammte Schneckenhaus aufgesetzt hat, bin ich jetzt dankbar. Es läuft recht gut hier. Bei der Arbeit muss ich meine Kräfte vorsichtig einteilen. Meist fühle ich mich tiptop, aber manchmal kommt die Müdigkeit wie eine Wand. Wenn schwierige Kunden sich melden oder ein mühsamer Vorgesetzter, wird mir kurz übel. Der grösste Teil meiner Energie geht in die Büroarbeit, deshalb schreibe ich hier so wenig. Noch habe ich meine Haare, es fallen mir nur auffallend viele Augenbrauen aus. Am Nachmittag kommen oft Freunde vorbei, und wir haben Spass.

Narkose

Die Ärzte von „Grey’s Anatomy“ beim Operieren. (Quelle: Monster.com)

Seit Jahren sehe ich am Montagabend treu Grey’s Anatomy und habe daher vage Vorstellungen von der Chirurgie. Nie hätte ich mir vorgestellt, dass ich einmal in die Rolle der Patientin auf dem Operationstisch geraten könnte. Die Serie wird aus der Sicht der Ärztinnen und Ärzte erzählt, Patienten haben lediglich Nebenrollen. Werden sie operiert, sieht man meist nur das Loch in ihrem Leib.

Als es dann doch soweit kam, stellte sich heraus: Am meisten fürchtete ich mich vor der Narkose. Die Vorstellung, ohne Bewusstsein dazuliegen, während sich eine Hand mit Skalpell auf meinen Körper senkt, … nein, bitte nicht! Und dann auch noch ohne Hörgeräte! Jeder Person, die mit mir sprach, schärfte ich ein: „Sobald ich aufwache, muss ich meine Hörgeräte wieder haben. Ich höre sonst rein gar nichts.“ Jede erklärte mir in sanftem Ton, wie man mir nach der Operation meine Hörgeräte wieder verschaffen werde. Es klang jedes Mal etwas anders, was mich nicht unbedingt beruhigte. Ich dachte über einen Auswege nach. Erst am zweitletzten Abend vor dem grossen Tag sah ich so etwas wie ein Licht, das mir den Weg wies. Nicht: „Augen zu und durch.“ Sondern: „Folge dem Licht geradeaus, es zeigt Dir den einzigen Weg.“

So bereitete ich mich auf die Prozedur vor wie auf einen kleinen Tod. Am Vorabend packte ich, rasierte meine Körperhaare und legte die Armbanduhr und meine Ringe ab. Bei Tagesanbruch waren wir im Spital, wo ich auf einer fahrbaren Liege meine Kleider aus- und Spitalwäsche anziehen musste. Die Pflegerin zeigte mir eine rote Tüte, die über den Bett hing: „In diese Tüte legen wir Ihre Hörgeräte, sobald Sie ohne Bewusstsein sind. Wenn Sie wieder zu sich kommen, können Sie sie wieder anziehen.“

Dann musste ich, noch aus eigenen Kräften, von der fahrbaren Liege auf einen Operationstisch umsteigen. Genau diese Szene hatte ich am Vorabend in einer Folge „Grey’s Anatomy“ gesehen: Für einen schwer lungenkranken Mann war diese Handlung die letzte Geste der Zustimmung zu einer lebensgefährlichen Operation. In der Realität gibt es an diesem Punkt keinen Widerspruch mehr, es ist alles bereit. Ich liess mir eine Sauerstoffmaske überstülpen.

Als nächstes hörte ich eine Frau. Sie rief: „Frau Frogg! Frau Frogg! Sind sie wach?!“ Da wusste ich, dass die Narkose vorbei war. „Ja“, sagte ich, und dann: „Kann ich noch ein paar Minuten schlafen?“ Ich war so müde.

Dass ich da meine Hörgeräte schon wieder getragen hatte, merkte ich erst Stunden später.

Notfall-Drill mit Telefon

Der Phonak Compilot, mein Helfer beim Telefonieren.
Aus allseits bekannten Gründen bereite ich mich mental auf ein medizinisches Worst Case-Szenario vor, das da wäre: Eine mir sehr nahestehende Person liegt im Bett, ringt um Luft und kann nicht mehr selber telefonieren (ich wage es nicht, diese Person hier beim Namen zu nennen. In dieser Hinsicht bin ich wie die weniger heldenhaften Zauberer in Harry Potter. Das Böse versuche ich von mir fernzuhalten, indem ich es nicht gänzlich in Worte fasse). Ich bin allein mit dieser Person und muss also selbst die Ambulanz herbeitelefonieren.

Das Problem ist: Ich kann nur noch mit grösster Mühe und einem Hilfsmittel telefonieren. Das Hilfsmittel heisst Phonak Compilot II und überträgt den Schall vom Telefon via Bluetooth direkt auf meine Hörgeräte. Auch mit Hilfe dieses Streamers verstehe ich meist nicht so richtig, was man mir sagt. Aber ich höre es wenigstens, wenn auf der anderen Seite jemand spricht.

Mit Herrn T. exerziere ich durch, was ich im Notfall tun müsste. Im Moment bin ich, so glaube ich jedenfalls, durchaus im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte. Aber ich ahne, was Panik mit mir machen könnte. Deshalb braucht es jetzt diesen Drill. Ich fange an: „Ich muss den Streamer immer in Bereitschaft haben – das heisst: Ich muss regelmässig seinen Akku aufladen. Wenn es soweit ist, muss ich den Streamer umhängen, ihn einschalten und die Nummer 144 anrufen. Es ist 144, oder?“ Herr T. nickt. Ich habe die beunruhigende Tendenz, 144 mit 142 zu verwechseln. Im Falle eines Falles könnte eine solche Verwechslung unnötig Zeit kosten, ich werde es also täglich repetieren: Die richtige Telefonnummer für medizinische Notfälle ist 144.

Wenn die Person am anderen Ende sich meldet, muss ich sagen: „Guten Tag, ich habe hier einen medizinischen Notfall. Ich bin schwerhörig, bitte sprechen Sie langsam und deutlich.“ Die Person am anderen Ende wird etwas sagen, was ich bestenfalls verstehe, aber vielleicht auch nicht. Ich werde genau beschreiben, was mit der kranken Person los ist.

Herr T. nickt.

„Und dann werde ich sagen: ‚Ich glaube, Sie müssen eine Ambulanz schicken und ihn holen.'“

Herr T. nickt und wartet, ich weiss nicht auf was. Dann sagt er: „Du musst aber unbedingt Deine Adresse angeben und sagen, bei welchem Namen die Leute von der Ambulanz klingen müssen.“

Salecina – woran die Liebe scheiterte

Seit zwei Tagen überlege ich, wie ich meine verfrühte Abreise aus Salecina kurz und bündig erklären kann. Mir fehlt die Zeit, jede Einzelheit des ereignisreichen und für mich sehr ungewohnten Lebens dort oben aufzuzeichnen. Schliesslich habe ich gemerkt, dass es im Grunde einfach ist. Es lag zu einem sehr beträchtlichen Teil an meinem Ohrenleiden – am Paradox der Schwerhörigkeit.

Und zwar aus folgendem Grund: Die schönsten Momente in Salecina sind die Mahlzeiten. Meistens essen die Gäste alle auf zwei grosse Tische verteilt in einem Raum mit einer gewölbten Decke. Man geniesst die Gelegenheit, mit Leuten zu plaudern, deren Bekanntschaft man sonst nie im Leben gemacht hätte. Die Gespräche waren immer angeregt und herzlich. Früher hätte ich diese Tischrunden geliebt. Die halbe Nacht lang hätte ich mit den neuen Bekannten die Wahlen in Deutschland erörtert, oder die Abenteuer der soeben absolvierten Wanderung. Für solche Abende hätte ich Salecina das dünne Bettzeug in den Zimmern verziehen. Ich hätte problemlos weggesteckt, dass ich hier ein WC mit schlimmstenfalls über zehn Leuten teilen musste, und sowieso, dass ich dieses WC auch noch selbst putzte*. Ich hätte sogar Spass daran gehabt, dass am zweiten Tag eine italienische Schulklasse einfuhr und für noch mehr Betrieb sorgte.

Aber in einem Raum, in dem mehr als zwei Leute gleichzeitig sprechen, bin ich verloren. Erst recht in einem Raum, in dem gleichzeitig auch noch alle mit ihren Essbestecken hantieren. Ich bekam von all diesen angeregten Gesprächen im Speisesaal immer nur Fragmente mit. Natürlich ergaben sich dann und wann trotzdem schöne Begegnungen. Doch insgesamt fühlte ich mich beim Warten auf diese intimeren Momente zunehmend gequält und erschöpft, und alles andere störte mich schliesslich auch.

Muss ich aus dieser Erfahrung die Kritik ableiten, dass Salecina sich zu wenig um die Inklusion von Menschen mit Behinderung kümmert? Nein, ich glaube nicht. Salecina bietet vielen Menschen Unterkunft, die sich sonst keine Ferien in den Bergen leisten könnten. Ich glaube, das ist ein Verdienst, das erst einmal von anderen Pflichten entbindet. Salecina ist ein kleiner Versuch der Utopie – einer, der schon seiner Lage wegen wohl nicht alle Träume verwirklichen kann. Aber ich diskutiere gerne darüber.

Und, trotz allem: Die drei Tage dort waren eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte.

* Dem Aspekt der Mitarbeit im Salecina werde ich nach Möglichkeit noch einen eigenen Beitrag widmen.

Alter Woody Allen-Film, ganz neu gesehen

Diane Keaton und Woody Allen in „Manhattan“ (nicht die Einstellung, über die ich hier schreibe).

Den hastigen Dialogen in Woody Allen-Filmen kann ich oft nicht mehr folgen. Oder vielleicht können es die Untertitel nicht, ich weiss es nicht genau. Als wir neulich abends „Manhattan“ (1979) sahen, blieb unten jedenfalls mal minutenlang eine Zeile über ein Restaurant hängen, während die Protagonisten im Film aufgeregt weiterbrabbelten.

Dafür sehe ich Bilder anders als früher, und so fiel mir in „Manhattan“ diese geradezu beunruhigend intime Einstellung auf. Sie dauert sicher zwei Minuten, eine Nahaufnahme von Diane Keaton, Woody Allen und Michael Murphy an einer Vernissage. In der Bildmitte sieht man das Gesicht der jungen Keaton wie eine strahlende Sonne, mit diesem Leuchten, das junge Leute haben, und das mich manchmal fast umhaut. Die beiden Männer links und rechts von ihr stehen etwas im Schatten. Die drei haben eines dieser Gespräche über Kunst, Philosophie oder die Unmöglichkeit einer Liebesbeziehung oder was immer. In einer heutigen TV-Produktion würde die Kamera jeweils auf die sprechende Person schwenken und so ihrer Aussage Gewicht geben. Aber das passiert hier nicht. Sie bleibt in derselben Position, und man sieht eigentlich nur Keaton. Das illustriert dann auch, wozu diese nervösen Dialoge eigentlich da sind: Da wollen alle bloss zeigen, was für Intelligenzbestien sie sind. Dabei zählt im Grunde nur das Begehren – das Begehren der Kerle natürlich, wir sind ja in einem Woody Allen-Film.

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