Bevor ich staubsauge, schalte ich jetzt immer die Hörgeräte aus. Wenn sie laufen, ist mir der Staubsauger zu laut. Sind sie abgestellt, höre ich ihn gar nicht, und das ist tiptop so. Während gehörlos kochen gewöhnungsbedürftig ist, ist gehörlos staubsaugen einfach. Ich schaltete am Samstag also das Hörgerät aus und den Staubsauger ein. Dann fiel mir ein: Ich habe ihn noch nicht eingesteckt. Also gut, Stecker in die Dose.
Aber läuft das Gerät jetzt? Nicht sicher. Eigentlich müsste es laufen und eigentlich müsste ich an der Halterung zwischen Rohr und Schlauch die durchschiessende Luft spüren. Aber nix. Ein paar Sekunden lang war ich unschlüssig. Das Hörgerät ein- und dann wieder ausschalten dauert lange 20 Sekunden. Dann fiel mir ein: Ich könnte ja mal die Hand unter die Düse halten. Ich meine: Wenn man dort den Wind nicht spürt, der ins Rohr saust, dann ist entweder die Hand oder das Gerät tot. Gesagt getan, und es brachte sofort eindeutige Resultate. Der Staubsauger lief noch nicht.
Nur dank einiger Gewissheiten hangeln wir uns mit Gelassenheit durch den Alltag. „Nein, Brustkrebs bekomme ich nicht!“, war für mich so eine Gewissheit. Ich hatte dann doch Brustkrebs, gelte jetzt aber als krebsfrei. Eine andere: „Ich höre zwar sehr schlecht, aber meine Augen sind tiptop!“ Dann kamen die Scharen von Mücken, Würmern und Staubflusen im linken Augenwinkel, ein ganzes Wochenende lang. Und schwarze und helle Blitzchen. Am Montag Panikbesuch beim Opthalmologen. Jetzt weiss ich: Die Schatten sind für mein Alter normal. Wenn es wieder blitzt, muss ich vielleicht nochmals zum Arzt. Aber wie eine Gewissheit fühlt sich das nicht an.
Im Lateinunterricht lernten wir: Mors certa est. Hora incerta. Der Tod ist uns gewiss. Aber nicht seine Stunde. „Ein Gemeinplatz“, dachte ich als Gymnasiastin. Aber jetzt sehe ich das anders. Jetzt frage ich mich, wie man lebt, wenn man sich von der Ungewissheit durch den Alltag leiten lässt.
Zwei Jahre lang war mein Gehör links stabil. Man kann Ziele haben, wenn man links stabil gut hört – auch wenn das Hörgerät die meiste Arbeit beim gut Hören macht. Man kann fast ein richtiges Leben führen. Aber jetzt ist das linke Ohr nicht mehr stabil. Neulich abends zogen wir uns den neuen Literaturclub auf dem Schweizer Fernsehen rein. Milo Rau gurrte wie eine Taube, Elke Heidenreich verrückte mit ihrer Stimme Möbel. Am nächsten Morgen im Bus hörte ich Eiszapfen hundertmal verstärkt auf Blechdächer klirren. Ich besuche meinen Vater im Talgrund. Wenn die Lifttür sich öffnet, macht sie ein Würgegeräusch.
Ich nehme meine Ziele und klopfe sie auf ihre Gültigkeit ab, das Klopfen klingt filzig.
Ihr erinnert Euch: Ich begann meine Serie über Gespräche in der Kaffee-Ecke mit einem Zitat von Franz Kafka. Dieser beklagte, dass die Freiheit des einzelnen gestört werde „durch das nicht notwendige menschliche Beisammensein, aus dem der grösste Teil unseres Lebens besteht.“ Wie aber unterscheiden wir, ob ein Beisammensein notwendig oder nicht notwendig ist? Sind Kaffee-Ecken-Gespräche notwendig oder nicht?
Ich glaube, sie sind es. Nicht immer, aber oft. Denn ich kann auch als Schwerhörige nicht von den Menschen wegdriften, mit denen ich das Grossraumbüro teile. Es reicht heute nicht mehr, dass ich einfach allen „hoi!“ zuflöte, wie ich das in den letzten Jahren oft getan habe. Wir sind heute soweit, dass wir sogar über die Wirklichkeit verhandeln müssen, in der wir leben (siehe weiblich gelesene Menschen und Stechmücken). Sonst wissen wir nicht, was läuft, handeln unangemessen, prallen unnötig heftig aufeinander. Dann werden wir unfrei, indem wir unsere Kräfte verschwenden.
Nun ist für uns Schwerhörige fast jede Plauderei anstrengender als für andere. Daher meiden wir oft Alltagskonversationen. Und ob wir in der Kaffee-Ecke gleich eine notwendige oder eine nicht-notwendige Begegnung haben werden, lässt sich schwer vorhersagen. Deshalb habe ich für mich jetzt folgende Regeln aufgestellt:
1) Es herrscht ungewöhnlicher Lärm in der Cafeteria: Da reicht in der Regel Hallosagen.
2) Ich habe eine Person vor mir, mit der ich schon freundliche, anregende Gespräche gehabt habe. Dann suche ich den Austausch. Falls nicht die Regel 1) zur Anwendung kommen muss.
3) Ich habe eine Person vor mir, mit der ich schon bedeutsame, aber kontroverse Auseinandersetzungen gehabt habe. Dann erst mal fragen, wie es ihr geht und abwarten, was passiert.
4) Ich kenne die Person in der Kaffee-Ecke nicht: Dann stelle ich mich vor und sage, dass ich schwerhörig bin. Ich sage ihr auch, dass sie mich beim Sprechen bitte anschauen und deutlich artikulieren soll.
5) Ich bin mit den Gedanken ganz woanders oder habe eh wenig Zeit: Hallosagen muss reichen.
6) Mit der Person, die vor mir steht, bin ich in den letzten Jahren nie in ein bedeutsames Gespräch gekommen: Da reicht wohl Hallosagen.
7) Wenn möglich: spontan bleiben.
Das klingt jetzt banal. Aber, Freund*innen, ich frage mich gerade, ob das nicht so schon ein Rezept für ein Burn-out ist!
Die Freiheit des einzelnen werde nur gestört „durch das nicht notwendige menschliche Beisammensein, aus dem der grösste Teil unseres Lebens besteht.“ Dies schrieb Franz Kafka 1913 an seine Verlobte Felice Bauer. Das Zitat fällt mir immer ein, wenn ich an die Kaffee-Ecke in unserem Grossraumbüro denke. Zum Glück ist sie klein, es herrscht dort kein Kaffee-und-Gipfeli-Gruppenzwang wie in anderen Büros, sondern ein planloses Kommen und Gehen. Aber immer, wenn ich dort jemandem begegne, frage ich mich: Ist das jetzt nur ein notwendiges menschliches Beisammensein oder möglicherweise mehr? Mit anderen Worten: Ist es angezeigt, dass ich mit dieser Person ein paar Worte wechsle? Oder reicht es, wenn ich grüsse, meinen Espresso hinunterkippe und wieder gehe?
Als hochgradig Schwerhörige habe ich das menschliche Beisammensein im Büro auf das Allernötigste reduziert. Kafka wäre glücklich in meiner Haut. Oder vielleicht auch nicht – es ist ja schwer, sich Franz Kafka glücklich vorzustellen. Ich bin es nicht. Als ich noch gut hörte, war ich eine unermüdliche Plaudertasche und arbeitete auch in einem Team. Dann verlor ich mein Gehör und wurde eine Ein-Frau-Abteilung. Vor der Pandemie pflegte ich noch den Kontakt mit den Leuten im Büro nebenan, zum Beispiel mit Kaja. Nach der Pandemie wurde unsere Bürolandschaft umgepflügt, ich kam in eine neue Ecke, dann kam der Krebs und danach hatte ich für längere Zeit einfach nicht mehr den Mumm, von vorne anzufangen und die Neuen kennenzulernen.
Die Kaffee-Ecke wäre eine Chance, Bekanntschaften zu schliessen. Aber wenn die neue Bekanntschaft in spe beim Nuscheln die surrende Kaffeemaschine anschaut, habe ich schon verloren. Und doch konnte ich beim stummen Kaffeetrinken nicht aufhören, mir die Frage zu stellen: Verpasse ich gerade ein Beisammensein, das eigentlich notwendig wäre? Oder einen Moment der Verbindung oder gar Verbündung? Verkannte Kafka nicht die Tatsache, dass uns das scheinbar unnötige Zusammensein mit Menschen eben auch einen Boden verschafft, auf dem wir uns bewegen können? Ich begann, obsessiv über meine Begegnungen in der Kaffee-Ecke nachzudenken. Ich könnte aus meinen Studien eine ganze, neue Rubrik machen. Aber ich erzähle in nächster Zeit einfach mal das, was ich für bedeutsam, ja, gar für lustig halte.
Zurzeit glänze ich hier leider mit Abwesenheit. Ich habe mich Hals über Kopf in ein neues Blog-Projekt mit einer guten Freundin gestürzt, das mich begeistert und fordert. Sobald wir dort genügend Stoff haben, um seriös an die Öffentlichkeit zu treten, werde ich hier den Link posten.
Heute möchte ich nur kurz vom grossen und für mich sehr geglückten Spätsommerfest in unserem Quartier berichten. Ich unterhielt mich dort fast den ganzen Abend lang mit drei sehr charmanten Herren: Zu meiner Rechten sass der Doppelbuddha, zu meiner Linken Toni vom oberen Stock. Und vis à vis mein Ehemann, Herr T. Ich will es nicht leugnen: Ich genoss die Aufmerksamkeit. Ich verstand zwar nur etwa 30 Prozent der Konversation, das ist bei mir bei Festen immer so. Merkwürdigerweise störte es diesmal überhaupt nicht. Ich musste nur die Stichworte packen, die ich zwischendurch verstand, ab und zu selbst eine Anekdote erzählen und sie sonst heiter lächelnd in die Runde geben. Es ging alles ganz wie von selbst.
Eine Bekannte von mir hat als @ohrkaputt auf Instagram einen höchst sehenswerten Feed. Die Protagonistin saust dort mit Mann, Kind und Schwerhörigkeit auf fröhlichen Cartoons durch ihren Alltag. Neulich thematisierte @ohrkaputt etwa das Paradox, dass Schwerhörige oft sehr lärmempfindlich sind. Das Material ist ansprechend verknappt – da ist ein Profi am Werk. Dringend nötige und wirksame Aufklärung, auch für Hörende.
Dann blicke ich jeweils stirnrunzelnd auf meinen eigenen Blog. Vielleicht sollte ich mehr über Schwerhörigkeit schreiben, denke ich. Ich meine: Meine Posts zu diesem Thema gehören zu den meistgelesenen. Freud’scher Verhörer etwa kommt auf sagenhafte 397 Klicks. Und doch sträube ich mich, aus zwei Gründen. Erstens will ich hier gar nichts Professionelles tun. Ich will hier kussbereit bleiben. Ich will wie die vom Liebeszauber berauschte Feenkönigin Titania dem erstbesten Thema verfallen, das mir an einem Morgen so begegnet. Und dann will ich, Königin und gewissenlose Womansplainerin, unverkürzt darüber schwadronieren.
Zweitens, und wichtiger: Ich habe irgendwann festgestellt, dass so eine Menière-Erkrankung zwar beengend ist. Dass es aber hilft, wenn man nicht die ganze Zeit um sie kreist. Ich habe beschlossen: Ich will zeigen, dass ich einen Horizont habe, der über meine Behinderung hinausgeht. Dass es möglich ist, schwerhörig zu sein und zum Beispiel über Politik nachzudenken. Oder über Bücher.
Das ist nicht so wirksam. Aber wichtig ist es eben auch. @ohrkaputt solltet Ihr Euch trotzdem anschauen.
Der Frühling ist hierzulande auch die Zeit der Generalversammlungen. Als hochgradig Schwerhörige meide ich solche Treffen. Ich verstehe trotz guter Hörgeräte meist sowieso nicht, was gesagt wird. Ausnahme ist die Jahresversammlung unserer Wohnbaugenossenschaft. Da gehe ich immer hin, auch, weil sie exzellent vertont ist. Ich verstehe jeweils fast alles, aber manchmal verhöre ich mich.
Etwa, als unser Vizepräsident eine langjährige Vorständin verabschiedete. „12 Jahre lang hat sie uns ihr wackliges Knowhow zur Verfügung gestellt.“
Wackliges Knowhow? Das kann er nicht gesagt haben! Die Frau vorne hatte ein sympathisches Lächeln und einen eisgrauen, kompetenten Haarschnitt. Bestimmt meinte er „ihr fachliches Knowhow“, entschied ich.
Ja, und dann feiert unsere Wohnbaugenossenschaft auch noch ihr hundertjähriges Bestehen. Der Präsident sagte daher zum Schluss: „Heute findet auch unser Überlebensfest statt, zu dem ich Sie herzlich einlade.“
Überlebensfest? Eine Genossenschaft mit fast 2200 Wohnungen und nach Präsentation einer erfreulichen Jahresbilanz? Nein, er muss das Jubiläumsfest gemeint haben.
Nur noch selten empöre ich mich
gegen mein schwaches Gehör,
meine Fehlhörigkeit.
Meist fehlt mir dazu die Zeit.
Aber neulich, Kammermusik!
Mein erstes Konzert, seit Jahren.
Hei, wie die Geigen quietschen und gellen,
wie sie maulen, greinen und bellen.
Dann schaltete ich
die Hörhilfen aus.
Ich sah den Mann am Cello,
er spielte pizzicato.
Weich trafen Töne meine Ohren,
wie der Schritt einer Fee, die in Ugg Boots
auf dem Mond spaziert.
The Sound of Metal ist ein feinfühliger Film über einen Menschen, der sein Gehör verliert. Ruben Stone (Riz Ahmed) ist Drummer und gerade auf Tour, als er Gespräche plötzlich nur noch als fernes Glucksen hört. Wie befremdlich das für Betroffene tatsächlich klingt, ist im Film sehr gut dargestellt. (Jedenfalls, soweit ich das beurteilen konnte – ich bin selbst hochgradig schwerhörig und bekomme auch bei der besten Vertonung nie ganz mit, wie ein Film tönt). Der Film wechselt ab zwischen der in Filmen normalen Vertonung und der Darstellung von Rubens Hörerlebnis, auch als bei Ruben dann alles weg ist. Stille.
Was in einem Menschen in einem solchen Moment vor sich geht, ist überwältigend, aber schwierig sichtbar zu machen. Ich selbst habe nach den ersten, schweren Hörstürzen in meinem guten Ohr wochenlang Tränenströme vergossen, aber das hätte kaum bildschirmtauglich ausgesehen. Ruben hat einen oder zwei Wutanfälle und guckt sonst meist mit riesigen Augen verwirrt bis panisch um sich. Das sieht glaubwürdig aus. Seine Partnerin und Bandkollegin Lou (Olivia Cooke) muss ihm erst mal helfen, seine dringendsten Probleme zu lösen. Dann kommt er in eine Institution auf dem Land, wo er in einem Crash-Kurs in Gebärdensprache lernt und mit seinem neuen Ich ins Reine kommen kann. Aber er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, in sein altes Leben zurückzukehren.
Das Werk ist mehrfach preisgekrönt. Ich glaube daher, dass es auch Menschen etwas gibt, die sich herzlich wenig für Gehörprobleme interessieren. Erstens ist die Musik am Anfang abgefahren (soweit ich das beurteilen kann). Zweitens ist es ein Film über etwas, was jedem Menschen passieren kann: dass er etwas verliert, was ihm Leib und Seele zusammenhält. Drittens ist die Geschichte aus Rubens Perspektive erzählt, und eins ist Ruben nie: ein armer Behinderter, einer von den anderen, einer, zu dem man auf Distanz gehen muss. In seiner neuen Umgebung findet er sich schnell zurecht. Er hat einen Plan, und er findet Mittel und Wege, ihn ins Werk zu setzen.
Dennoch habe ich Fragen an den Film. Erstens wird bei Rubens Eintritt in die Institution klar, dass er vier Jahr zuvor heroinsüchtig gewesen ist. Warum ist das relevant? Weil das Heroin mit ein Grund für die Ertaubung sein könnte? Weil der Film einen Protagonisten braucht, der schon vorher in einer prekären Verfassung war? Suchtprobleme als Folge von Schwerhörigkeit sind nichts Ungewöhnliches. Aber so wie sie hier daherkommen, als unerklärte, alte Geschichte, überzeugen sie mich dramaturgisch nicht. Zweitens frage ich mich, warum der Film genau an der Stelle endet, wo er eigentlich anfangen sollte: Als Ruben merkt, dass der Weg zurück in die Welt der Hörenden auch mit bester Technologie sehr schwierig wird.