Schwerhörig: Fernsehen ohne Untertitel

Neulich kam eine dreiteilige Serie über die Geschichte Israels auf 3sat. Ich wollte den Dok unbedingt sehen. 3sat ist für Schwerhörige aber leider schlecht geeignet. Oft fehlen auf dem Sender bei den allerbesten Beiträgen die Untertitel. Auch bei der Serie über Israel. Man schaltet sich dann erwartungsfroh zu und gibt nach ein paar Minuten auf. «Vergiss es», sagt man zum Ehemann. «Das ist sinnlos.» Diesmal sagte Herr T.: «Doch, ich will das sehen.» Ich: «Dann musst du mir das aber Satz für Satz übersetzen.» Und das tat der unsagbar geduldige Herr Kulturflaneur dann auch, wofür ich ihm sehr dankbar bin.

Er nahm die Fernbedienung in die Hand und stoppte den Film stets nach einer kurzen Textpassage, die er dann wiederholte. Manchmal zuckte des Kulturflaneurs Finger zur Fernbedienung und ich stoppte ihn mit: «Das habe ich verstanden.» Manchmal war der Finger nicht mehr zu stoppen und ich bekam den Text zweimal. Klar, dass sich die Filmlänge so mindestens verdoppelte.

Der Dok arbeitet mit der These, dass es sich beim Krieg in Israel um einen unlösbaren Konflikt handelt. Leider bestätigen die Jahrzehnte seit 1948 diese Sichtweise. So zogen drei Folgen lang Bilder voller Blut, Zorn und Unversöhnlichkeit an uns vorbei. Mit der Zeit sieht vieles surreal aus. Irgendwo links im Bild taucht bei Verhandlungsszenen wieder und wieder wie auf Sperrholz gemalt ein dunkelblauer Anzug auf, darüber ein lächelndes Gesicht: der US-Präsident. Immer wieder kommt dieser Anzug, mit einem immer neuen Kopf zuoberst. Als wäre dort ein Loch, in das der jeweils amtierende amerikanische Präsident sein Gesicht halten und sich als Friedensstifter inszenieren kann: Nixon, Carter, Clinton, Obama. Auch wenn es sonst nichts gibt, was ich an Donald Trump mag: Ich hoffe, dass er sein Gesicht nicht vergeblich in dieses Loch gehalten hat.

Wir teilten Übung auf drei Abende auf. Jeden Abend war ich danach vollkommen erschöpft. Natürlich ist das angesichts des Leids an anderen Orten auf der Welt bedeutungslos. Und doch muss ich es wieder mal sagen: Auch hochgradig Schwerhörige wollen sich eine Meinung bilden! Also, bitte, Fernsehleute: Gebt uns brauchbare Untertitel!

Schwerhörig: Das Göttliche an der Musik

In seinem Buch «Tremor» schreibt der afroamerikanische Autor Teju Cole über Musik aus Mali. Er streicht dabei die besondere Bedeutung von Ali Farka Touré hervor. Hier ein Müsterchen von Tourés Album «Niafunké» auf Youtube. Die CD fischte ich ungefähr 1997 aus einer Grabbelkiste. Damals hörte ich noch gut und viel Musik. Ich kannte weder den Musiker noch die Musik, aber dann hörte ich hinein und in diesem heiteren, tanzbaren Sound das Vibrieren der Erde und das Summen eines wehmütigen, leuchtenden Gottes. Für Cole’s Protagonisten wird Musik aus Mali eine Art Schutzschild und innere Heimat. «Jedes Mal, wenn er diese Klänge hört, ist er wieder in Mali, obwohl er gar nie in Mali gewesen ist. Er ist wieder an seinem Platz im Gewebe der Zeit und mit seinen Ahnen in Kontakt. Wie kann das sein, wo doch seine Ahnen gar nicht aus Mali sind?» (S. 71) Ich kann nachvollziehen, was er meint, obwohl ich ziemlich sicher auch keine Ahnen in Mali habe. Ich hörte das Album oft und geradezu betört. Aber wegen meiner zunehmenden Schwerhörigkeit ging das dann irgendwann nicht mehr, jetzt scheppert der Sound ganz unerträglich in meinen Hörgeräten. Viele Schwerhörige lieben Musik, bei mir ist diesbezüglich nichts zu machen.

Cole schreibt: «Gesang begann im Ritual mit dem Zweck, die Grenze zwischen geheiligter Zeit und gewöhnlicher Zeit zu ziehen. Er stärkte das Netz menschlicher Beziehungen, die Verbindung zwischen einer Gemeinschaft von Menschen und dem Universum» (S. 69). Ich fühle mich immer etwas kläglich, wenn ich solche Dinge lese. Ich kann ja nicht einmal mehr bei Weihnachtsliedern mitsingen. Ich bin kein besonders religiöser Mensch, doch ich erinnere mich an die Macht der Musik über Raum und Zeit, ihr tiefes Geheimnis. Bin ich aus der Sphäre des Göttlichen ausgegrenzt?

Ich erzählte das alles einer guten Freundin, die vor nicht allzu langer Zeit den herben Verlust ihres Geschmackssinnes hinnehmen musste. Essen in Gesellschaft ist ihr praktisch unmöglich geworden. «Es gibt so viele andere Arten, dem Göttlichen zu begegnen», antwortete sie. Und sie hat recht, das merke ich immer deutlicher. Aber darüber muss ich nächstes Mal schreiben.

Teju Cole: „Tremor“, London, Faber & Faber Paperback, 2024, Übersetzungen aus dem Englischen von mir.

Schwerhörig: Läuft die Abwaschmaschine?

Vor vielen Jahren habe ich das Grummeln einer laufenden Abwaschmaschine einmal auf die Liste der unentbehrlichen Geräusche gesetzt (der Blog-Beitrag existiert leider nicht mehr). Die Maschine, die bei meinen Eltern wegen des günstigen Nachtstromtarifs immer spät am Abend lief, bereitete mir einst ein Gefühl von Geborgenheit. Seit wir selbst eine in der Wohnung haben, fühlt sich ihr Brummen in der Küche an wie erledigte Hausarbeit und Ordnung.

Nun bin ich hochgradig schwerhörig. Ich höre in Küchen zwar immer irgendwelche Summ-, Grummel- und Schmurgelgeräusche. Aber ich bin oft nicht sicher, woher sie kommen. Brummt der Kühlschrank? Gurgelt das Wasseraufbereitungsgerät? Ist da irgendeine Lüftung am Werk. Oder läuft doch die Abwaschmaschine? In der Cafeteria ist diese Frage relevant, denn dort müssen wir unsere gebrauchten Tassen selbst in die Maschine räumen. Wenn sie voll ist, stellt jemand sie an. Ob sie gerade arbeitet, weiss man mit einem gesunden Gehör sofort. Ich brachte es jeweils in Erfahrung, indem ich einfach mal die Tür der Abwaschmaschine aufriss. Wenn dann innen heisses Wasser herumspritzte – ja, dann lief sie.

Aber man lernt dazu, und letzte Woche habe ich Wissen erworben, das unter Umständen auch Hörenden nützlich sein könnte: Wenn eine Abwaschmaschine läuft, erhitzt das Wasser auch die Tür. Bei vielen Modellen kann man aussen mit der Hand erspüren, ob sie läuft. Wenn sie warm ist, ist es gut möglich. Wenn sie dazu noch leicht vibriert, ja, dann läuft sie.

 

Schweizerdeutsch 50: Gegen den Widerstand der Materie kämpfen

chnorze (V)

Seit Montag haben wir im Geschäft neue Laptops und lauter neue Programme. Für uns alle fallen sämtliche Gewissheiten weg, die man bei der täglichen Arbeit so hat. Liefern müssen wir trotzdem. Ich zum Beispiel kam am Morgen ins Büro und startete den neuen Laptop. Kein Internet. Ich chnorzte mit den Tasten, rief um Hilfe, jemand kam und chnorzte mit Tasten und Kabeln. Dann hatte ich Internet und schickte dem Chef eine Nachricht, ich sei nun bereit. Er wollte mir telefonisch das Nötigste zeigen. Telefonisch! Mein Bluetooth-Hilfsmittel zum Telefonieren war aber noch nicht gekoppelt! Ich chnorzte mit Knöpfen und der Maus, dann chnorzte jemand mit mir. Dann konnte ich endlich den Chef anrufen. Aber wie mache ich jetzt meinen Bildschirm für ihn sichtbar? Irgendwann ging auch das und so chnorzten mein Chef und ich an meinen ersten Arbeitsschritten. Ich chnorzte dann den ganzen Tag, am Dienstag auch und auch gestern.

Gestern Nachmittag klagte mir eine junge Kollegin in einer Message, dass sie den Zugang zu einem bestimmten Programm immer noch nicht habe. Ich antwortete: «Sei geduldig. Wir chnorzen alle.»

So hat das Verb «chnorze» seine Bedeutung geändert. Früher chnorzten wir bei der Handarbeit, etwa wenn der Faden nicht durchs Nadelöhr und die Nadel nicht durch den dicken Saum ging. Oder wir chnorzten im Garten, wenn im Herbst die Wurzel der grossen Tomatenstaude partout nicht aus dem Boden gerissen werden will. «S’Gchnorz» war sichtbar und machte mitunter auch die Hände schwielig. Jetzt chnorzen wir virtuell, dabei haben wir uns vielleicht erhofft, dass wir nie wieder «müend chnorze».

Aber ohne Kampf gegen den Widerstand der Materie geht es wohl nicht, und deshalb haben wir hierzulande für das Verb «chnorze»  zahlreiche Synonyme, zum Beispiel: «morxe», «chnuuschte» und «figuretle».

 

 

Schwerhörig: Was würden Sie denn gern wieder hören?

Gerade lese ich den Roman «Flimmern im Ohr» von Barbara Schibli. Die Protagonistin, Priska, ist hochgradig schwerhörig und hat sich eine Innenohrprothese, ein so genanntes Cochlea-Implantant (CI) machen lassen. Sie will wieder Musik hören. Besonders Punk, denn die Mittvierzigerin will das Lebensgefühl ihrer jungen Jahre zurück. Aber nach den ersten Versuchen ist sie enttäuscht, und so versucht die Therapeutin, Priskas Blickfeld zu erweitern. «Was würden Sie denn gerne wieder hören können? Das muss nicht zwingend Musik sein», sagt sie. Es ist, als würde sie mich fragen. Ich bin auch hochgradig schwerhörig und werde bald ein CI bekommen.

Was für eine anstrengende Frage, denke ich. Ich meine, klar: Am liebsten würde ich zehn Meter von mir entfernt in einem Raum mit Parkettboden eine Stecknadel zu Boden fallen hören und hätte dann wieder dieses göttliche Raumgefühl, das man hat, wenn man so etwas hört. Und ich möchte natürlich den Parkett knarzen hören und zwar scharf und präzis. Ich möchte, dass Kammermusik nicht mehr wie Katzenmusik klingt, und ich möchte nach dem Kammermusik-Konzert mit jemandem plaudern und das Knarzen des Parketts und die Stimme meines Gegenübers auseinanderhalten können. Und vor allem möchte ich nach einem solchen Anlass nicht immer todmüde sein. Ich möchte in eine Bäckerei gehen und ein Brötchen kaufen können, ohne mich schon vor der Tür zu ängstigen, weil ja jedesmal etwas schiefgeht bei einem Verkaufsgespräch in der Bäckerei. Aber das sind vermessene Träume, das weiss ich.

Man hat mir früh zu verstehen gegeben, dass ich mir beim CI nicht allzu kühne Hoffnungen machen soll. Das CI macht aus einer fast gehörlosen Person eine schwerhörige Person, hat man mir gesagt. Musik? Schwierig. Und vielleicht würde die schiere Grossartigkeit von Musik mich sowieso komplett überwältigen. Ich glaube, es würde mir schon reichen, wenn nach einem Tag mit Brötchenkaufen und Gesprächen und Katzenmusik nicht immer so erschöpft wäre.

Schwerhörig: Die Frau im Rollstuhl

Ich bin auf dem Trottoir an einer verkehrsreichen Strasse unterwegs. Da höre ich diese dünne, gereizte Frauenstimme: «Hallo!» ruft sie. Vielleicht gilt das doch mir, denke ich – jetzt, wo die Stimme etwas lauter ist, fällt mir auf, dass ich sie vorher schon ein- oder zweimal gehört habe. Vor mir ist niemand, also vielleicht hinter mir. Ich habe wegen der Schwerhörigkeit ein miserables Richtungsgehör. Ich drehe mich um, aber auf Augenhöhe ist da niemand. Ich senke den Blick, und da ist sie: eine Frau im Rollstuhl, die mich überholen will.

«Oh, Entschuldigung!» sage ich freundlich und trete zur Seite. Sie rollt mit grimmiger Miene an mir vorbei. Ich kann den Gedanken hinter ihrer Stirn lesen: „Existieren wir Rollstuhlfahrerinnen denn nicht?! Ist diese blöde Kuh eigentlich taub?!» Ja, bin ich, und ihre Unfreundlichkeit stört mich zunächst. Ich erlebe eine solche Szene an dieser Strasse schon zum zweiten Mal, und wie beim ersten Mal verzichte ich dennoch darauf, meine Hörgeräte herauszureissen, sie ihr zu zeigen und zu brüllen: «Sie sind hier nicht die einzige mit einer Behinderung, Sie dämliche Ziege!» Obwohl ich Lust dazu hätte.

Aber im Grunde glaube ich auf dem Gesicht dieser Frau einen Ingrimm zu erkennen, den ich manchmal auch spüre. Mit den Jahren habe ich gelernt, mit meinen Beeinträchtigungen umzugehen. Ja, ich betrachte sie mittlerweile als das Normalste der Welt. Deshalb erwarte ich – oft irrtümlich – dass andere selbstverständlich auch mit meinen Einschränkungen umgehen können. Wenn sie es dann – aus was immer für Gründen – nicht tun, kommen sie mir manchmal vollkommen idiotisch vor.

 

Schwerhörig: Bahnhofdurchsage in Mannheim

Bahnhofdurchsagen verstehe ich oft nur fetzenweise. Meistens ignoriere ich sie, es ist ja immer alles gut angeschrieben. Aber am Auffahrtstag warteten wir am Bahnhof Mannheim auf eine S-Bahn, die mehr als eine halbe Stunde Verspätung hatte und, während wir warteten, immer noch mehr Verspätung bekam. Klar, dass ich  dem Mann am Lautsprecher aufmerksam zuhörte.

Es ist rührend, wie die Deutsche Bahn Zugsverspätungen stets zu begründen versucht, oft mit düsteren Vorfällen, etwa mit Polizeieinsätzen, die dann doch nicht genauer erläutert werden. Diesmal aber war die Erklärung für das Ausbleiben der Bahn geradezu poetisch. „Verspätung aufgrund irriger Fahrt“, sagte der Mann am Lautsprecher und dann wieder: „Verspätung aufgrund irriger Fahrt.“ Was ist überhaupt eine irrige Fahrt und wie kann ein Schienenfahrzeug eine solche machen? Ich sinnierte, aber Herr T. lachte: „Nein, du hast ihn falsch verstanden. Er hat gesagt: ‚Verspätung aufgrund vorheriger Fahrt‘.“ Was immer das nun bedeuten sollte!

Schliesslich kam der Zug und hielt und wir begannen einzusteigen, als es eine weitere Durchsage gab: „Abfahrt nur für mich um fünf vor drei.“

Was er wirklich gesagt hat, habe ich nie erfahren, denn die Türen gingen zu und der Zug fuhr endlich los. Mit uns.

 

Schwerhörig: Die verblüffende Schärfe verständlicher Sprache

Wie fühlt es sich an, in normalen Gesprächen gesprochene Sprache schlecht zu verstehen? Und warum fragen wir Schwerhörigen oft nicht nach, wenn wir im Gespräch nicht mitkommen? Ich habe mich schon oft gefragt, wie ich Euch das erklären könnte. Dann stiess ich bei Walter Benjamin auf folgendes französische Gedicht und merkte: Das ist ein Beispiel, an dem ich es vielleicht bildhaft zeigen kann.

Car il me plaist pour toy faire ici ramer
Mes propres avirons dessus ma propre mer,
Et de voler au Ciel par une voye estrange,
Te chantant de la Mort la non-dite louange.“

Pierre Ronsard: Hymne de la Mort
A Louys des Masures

Ich beherrsche die französische Sprache wahrscheinlich etwa auf dem Niveau B2, der Text gibt mir ähnlich viele Rätsel auf wie manche deutschsprachige Gesprächsfetzen, die ich am Alltag so mitbekomme. Ich scheitere schon im ersten Vers: Was heisst „ramer“? In guter Schwerhörigen-Manier versuche ich, die Bedeutung des Wortes aus dem Kontext zu erschliessen: Hier wird ein „Du“ angesprochen, es herrscht eine gewisse Intimität – zugleich haben wir aber die blaue Weite eines Meeres und des Himmels. Und „plaist“ muss eine alte Form von „plaît“ sein, „es gefällt“, das Gedicht könnte also mehrere hundert Jahre alt sein. Erst denke ich: Das ist jetzt etwas wolkig, aber es muss genügen, sonst komme ich in diesem dicken Band nie vorwärts.

Doch dann hole ich das Handy und lasse mir „ramer“ übersetzen. Es heisst „rudern“, und „mes propres avirons“ sind „meine eigenen Ruder“. Dass ich das jetzt verstehe, lässt mich die Situation ganz neu und mit verblüffender Schärfe sehen. Das passiert mir oft bei Gesprächen, in denen ich die Laune der Sprechenden und der Hörenden errate und vage das Thema – und dann geradezu erschrecke, wenn mit später klar wird, was jemand tatsächlich gesagt hat. Sprachverständnis ist durch nichts zu ersetzen.

Nehmen wir jetzt an, ich würde mit fünf Personen an einem Tisch sitzen, die Französisch akustisch und semantisch gut verstehen. Sie alle würden diesen Text vorgelesen bekommen. Klar, danach würden sie sofort zu diskutieren beginnen. Wenn ich jetzt mitdiskutieren und somit volle Inklusion will und frage, was „ramer“ heisst und was „mes propres avirons“ sind, dann müssten sie das Gespräch komplett neu organisieren, ganz allein für meine Wenigkeit. Vielleicht rudere ich dann doch lieber alleine.

Denn wenn ich nicht nachfrage, haben sie unter sich bereits angefangen, weitere Rätsel im Text zu lösen, zum Beispiel: In welchem Jahrhundert lebte Pierre Ronsard? Wer war Louis des Masures? Vielleicht bekomme ich davon dann auch Gesprächsfetzen mit und habe wenigstens zum Teil etwas vom Gespräch.

Zitiert aus dem Passagenwerk von Walter Benjamin, S. 301

Schwerhörig bei Stromausfall

Eben lese ich in der heutigen Luzerner Zeitung die Nachbereitung des Stromausfalls auf der iberischen Halbinsel vom Montag. Schnell merke ich: Ich hätte insofern Glück, als meine Hörgeräte noch mit Batterien funktionieren. Wenigstens 1:1-Kommunikation wäre noch Wochen nach einem Stromausfall möglich. Neuere Hörgeräte aber haben oft einen Akku, der sich über Nacht an der Steckdose aufladen lässt. Wie viele stromlose Nächte solche Geräte durchhalten, weiss ich nicht.

Abgehängt wäre ich aber sehr wahrscheinlich bei der Kommunikation von Vater Staat, denn, so steht da: „Bei einem Stromausfall funktioniert oft auch das Internet nicht. Die Behörden kommunizieren wichtige Informationen deshalb immer auch über Radio und Fernsehen. Dafür empfiehlt der Bund ein batteriebetriebenes Radio mit DAB+-Empfang – natürlich mit Ersatzbatterien.“ (Seite 3)

Was Gehörlose tun würden, wenn nur das Radio funktionieren würde – ich weiss es nicht. Bei mir könnte ein sehr laut aufgedrehtes DAB+-Radio vielleicht seinen Zweck erfüllen. Aber aufgepasst: Wenn das Radio zu laut aufgedreht wird, überschlagen sich die Töne in meinem Hörgerät – selbst dann, wenn die Stimme der Sprecher stabil bleibt.

Schwerhörig: Jetzt müssen andere Sinne ran!

Im Herbst 2009 sass ich im Kantonsspital und weinte. Ich hatte gerade mehrere Hörstürze auf meinem guten Ohr gehabt. Ich gab mir eine schlechte Prognose, auch wenn der Ohrenarzt auf Zweckoptismus machte.

Eine Pflegerin wollte mich trösten, setzte sich zu mir ans Bett und sagte: „Sie müssen das jetzt einfach mit der Einstellung nehmen: Mein Gehör ist schwach, jetzt müssen andere Sinne ran!“ Ich schätzte die Geste, konnte aber schon damals nicht viel mit ihrem Rat anfangen. Heute, nach mehr als 15 Jahren, in denen meine Prognose sich allmählich bewahrheitete und doch alles nicht so schlimm kam, muss ich es einmal sagen: Kein anderer Sinn kann das Gehör auch nur annähernd ersetzen.

Eine kurze Geschichte, die umreisst, wie ich das meine: Vor etwa zwei Jahren war ich am Konzert einer Band, deren Lead-Sängerin ich persönlich kenne. Die Musik war elektronisch verstärkt, deshalb musste ich die Hörgeräte abstellen. Merke: Hörgeräte sind eine extrem hilfreiche Erfindung, aber Musik können sie, zumindest für mein Gehör, nicht adäquat wiedergeben.

So sass ich eine Stunde da und bekam von der Musik nur ganz wenig mit. Mein Blick aber klebte am Gesicht der Leadsängerin folgte geradezu besessen ihrer Mimik. Ihr Gesicht war erstens das am wenigsten langweilige im Saal. Zweitens merke ich in solchen Momenten, dass mein Auge Information sucht, die meine Ohren mir nicht liefern können. Nun denken wohl einige: Zum Glück kannst Du von den Lippen lesen, da hast Du wenigstens den Text verstanden! Aber Lippenlesen können ist für die meisten Spätertaubten ein Mythos, sowieso in einer Fremdsprache, und die Sängerin sang Englisch.

Ihre Miene war mal schalkhaft, mal etwas selbstgefällig; mal angestrengt, mal leicht und fröhlich, immer sympathisch. Aber es war eine ungeheuer ermüdende Stunde, denn ich konnte meine Augen noch so sehr anstrengen, sie konnten mir nicht das geben, was ich eigentlich von diesem Abend gewollt hätte.

Ich muss aber einräumen: Es gibt Moment, da merke ich, dass ich dank der Mehrarbeit meiner Augen (und meines Geruchssinns) mehr von meiner Umgebung mitbekomme als andere. Manchmal kann ich meine Erkenntnisse sogar für die Allgemeinheit nutzbar machen – aber davon erzähle ich ein andermal.