Über die Abschaffung des Geschlechts

Ungefähr so wären die Arbeitskräfte meiner Geschlechter-Utopie gekleidet gewesen. Frau und Mann würden aber nebeneinander stehen. (Quelle: joom.com)

Endlich habe ich begriffen, warum Gender-Diversität in den letzten Jahren ein derart grosses Thema geworden ist. Weshalb wir in jeder erdenklichen Lebenslage dazu aufgerufen sind, über sie zu reden, sie anzuerkennen und sie zu preisen. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts war das noch anders. Nehmen wir das Arbeitsleben als Beispiel: Damals waren wir Frauen in vielen Branchen die nicht allzu willkommene Diversität. Aus Vorsicht gaben unsere wie auch immer geartete Gender-Identität beim Sekretariat ab, bevor wir uns am Morgen an die Arbeit machten. Nichts sollte den Verdacht erwecken, dass wir nicht die volle Leistung bringen könnten. Merke: Männer bestimmten meist, was volle Leistung ist. Volle Leistung bringen hiess für Frauen auch, stets angemessen gestylt sein. Im Arbeitsleben lauerte allerhand Ungemach: Eine etwas zu intime Beziehung zu einem Vorgesetzten, es wird ruchbar und, zack, weg ist sie (nicht er)! Es war lange vor MeToo. Judith Butler nennt diesen Zustand Phallogozentrismus und wie ich war sie damit nicht sonderlich glücklich.

Meine Utopie war, dass wir alle an der Bürotür eine Unisex-Mao-Uniform erhalten, in der das Geschlecht des arbeitenden Menschen unsichtbar wird. Das mag freudlos klingen. Aber es hätte niemanden davon abgehalten, sich in der Freizeit nach Kräften zu aufzubrezeln und seinen sexuellen Vorlieben zu frönen.

Butler geht mit mit ihrer Analyse weiter: Der Phallogozentrismus macht nicht nur die Frau unsichtbar, er sorgt – aus vorgeblichem Interesse am Fortbestand der Menschheit – für strikte Geschlechter-Binarität und Zwangsheterosexualität. Als Feministin und Lesbe fragt sie: „Wie kann man am besten die Geschlechter-Kategorien stören, die die Geschlechter-Hierarchie und die Zwangsheterosexualität stützen?“ (S. 8). Sie rät: Wir sollen mit Geschlechter-Identitäten spielen, sie parodieren, sie performen, uns dabei von von Schwulen, Lesben und Transvestiten inspirieren lassen. Das Begehren und die Identität frei schweben lassen.

Das könnte auch heissen: die Binarität durch eine Vielzahl von gelebten  Geschlechter-Identitäten zum Einsturz bringen. Dazu müssen wir die ganze vorhandene Gender-Diversität überhaupt erst sichtbar machen. Die Vielfalt des sexuellen Begehrens und die Transsexualität sind dann unbedingt zu akzeptieren und zu fördern. Im Prinzip bin ich damit absolut einverstanden. Dieses Vorgehen gibt nicht nur vielen Menschen ihre Rechte und holt sie aus der finsteren Kammer der  Selbstzweifel. Es könnte sogar zu einem ähnlichen Resultat führen wie meine eigene Geschlechter-Utopie: dass die Geschlechter-Binarität überall dort einfach verschwindet, wo sie nicht zwingend gebraucht wird.

Nun ist die Darstellung dieser Vielheit sehr viel bunter geworden als ich es mir vorgestellt hatte, und auch das ist eigentlich schön. Ich frage mich lediglich, warum diese Gender-Diversität in den letzten Jahren vor allem die Cis-Frauen zum Verschwinden gebracht (zum Beispiel im Begriff Flintaq*) oder auseinander dividiert hat (im feministischen Streik). Nicht aber die Cis-Männer. Während wir bunt sind, uns zeigen und uns streiten, erhalten sie den Phallozentrismus an Schlüsselstellen unserer Gesellschaft weiter aufrecht: mit Mehrheiten in Machtpositionen in der Finanzwirtschaft, in der Armee, im Bauwesen, in der Politik. Diskret, uniform und mächtig.

Judith Butler: „Das Unbehagen der Geschlechter“; Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1722, 1991,

4 Gedanken zu „Über die Abschaffung des Geschlechts“

    1. 🙂 Danke, Mandy! Ich glaube, Uniformen sind in Grossbritannien sehr viel leichter zu akzeptieren als hier, ihr habt ja schon Schuluniformen.

  1. Sehr interessant, dein Butler-Lektüre-Bericht – danke für die entsprechenden Mühen, die sind wahrlich nicht zu gering zu schätzen.
    Beim Lesen des Eintrages hier hatte ich ein Déjàvu und tatsächlich hast du genau den Eintrag weiter unten verlinkt, zu dem ich auch damals kommentiert hatte. Manche Themen lassen einen einfach nicht los, kenne ich natürlich auch. Auch jetzt habe ich mich wieder gefragt beziehungsweise es einfach subjektiv persönlich nicht nachempfinden können, dass du dich beziehungsweise cis-Frauen als weniger sichtbar empfindest, angesichts von Diversität. Im Hinblick auf Aufmerksamkeitsökonomie ist das natürlich durchaus plausibel, dennoch begründet es für mich nicht, warum Männlichkeit nach wie vor eine einheitliche Frontstellung zu bilden scheint. Letzteres verweist für mich eher auf die krasse Dominanz und offenbar ja nach wie vor erfolgreiche Instandhaltungsbemühungen des Patriarchats.
    Bezüglich Letzterem gibt es aktuell ja auch etliche Publikationen und Anthologien, die möglicherweise zumindest teilweise durchaus leichter zu rezipieren sein sollten als Butler. Zumindest habe ich sie auf meiner langen, langen Liste stehen. 😅 Aktuell lese ich aber den Kollektiv-Roman „wir kommen“, der das Thema des weiblichen Begehrens in Form einer belletristisch angehauchten Collage anzugehen versucht, was letztlich eher essayistisch wirkt, aber daraus auch einige interessante Anekdoten und Aspekte enthält. Viele Grüße

  2. Danke, dass Du Dir die Mühe genommen hast, diese ganzen Elaborate zu lesen, liebe Phoebe. Das weiss ich sehr zu schätzen. Zur .Sichtbarkeit: Ich weiss es auch nicht recht, weshalb, aber ich bevorzuge tatsächlich, eine Frau genannt zu werden, nicht eine Flintaq*. Siehst Du, ich wollte einmal, dass das Geschlecht unsichtbar wird. Aber jetzt, wo ich seit bald 60 Jahren in einem weiblichen Körper mit einer weiblichen Sozialisation lebe und all das aufgeben soll, ist es mir auch nicht recht. Wisse einer, was die Frauen wollen! Ist es Dir recht, eine Flintaq* zu sein?

    Auf einer breiteren gesellschaftlichen Ebene habe ich durchaus Konflikte in einer traditionellen Frauenorganisation mitbekommen, die sich bei einem Generationenwechsel zu Flintaq*-Organisation wandelte – wobei die Personen aus der jungen Generation sehr rüde benahmen. Ich habe mich seinerzeit gefragt, warum diese Personen nicht eine Männerriege kaperten, wenn sie schon so geschlechtsneutral sind. Das wäre folgerichtig gewesen.

    Wenn Du einen guten neueren Lesetipp hast, dann ist das sehr willkommen! „Wir kommen“ ist jedenfalls ein witziger Titel 🙂

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert