Die Reichtümer Syriens


Die Omayyaden-Moschee in Aleppo, 800 Jahre alt, vor Oktober 2012 (Quelle: Wikimedia)

Am 10. Oktober 1998 sass ich auf einem modernen Platz in der syrischen Grossstadt Aleppo. Es hätte irgendwo im Mittelmeerraum sein können – in Italien, der Türkei, sogar in Südfrankreich. Ich schrieb in mein Tagebuch: „Sie haben Savoir-vivre hier, das Essen ist vielfältig, die Kunst ist opulent. Sie haben Spass. Sie haben kulturelles Selbstbewusstsein, sie schielen nicht ständig nach dem Westen.“ Mir gefiel die Liebe der Syrer zur Kalligraphie, zur Verzierung. „Sogar die Fahrräder sind reichlich mit Ornamenten bemalt.“

Ich hatte gerade von einer üppigen Mezze-Tafel gekostet – Hummus, joghurt, Baba Ghanoush, kleine Würste. Gut, das Restaurant wirkte sehr neu – als mache der Wirt erste Gehversuche mit einem westlichen Konzept. Das Tourismus-Gewerbe schien noch in den Kinderschuhen zu stecken. Manchmal fiel für ein paar Sekunden der Strom aus.

Mich faszinierte der Betrieb auf den Strassen. Die Baudenkmäler …, naja, ich ging mit und besichtigte sie pflichtschuldig – es war ja alles Unesco-Welterbe. Es mangelte mir nicht an Respekt vor der hiesigen Kultur. Ich wusste: Vor 11500 Jahren wurde hier der Ackerbau erfunden, später die Schrift. Hier stehen einige der ältesten Städte der Welt. Aber meine Aufmerksamkeit reichte nicht für alles. Den Soukh habe ich glatt vergessen. Vage erinnere ich mich ans Tor des Nationalmuseums. Ich weiss seit damals, was eine Zitadelle ist. Und ich rieche noch die Teppiche in der Omayyaden-Mosche, sehe die luftigen Gebetssäle und die schimmernden Steinböden im Hof.

Ich sass auf einer Stufe zum Hof und sah einen ärmlichen gekleideten Mann. Er redete auf einen älteren Würdenträger mit weissem Bart ein. Der Jüngere machte Demutsgesten, der ältere antwortete in herrischem Ton. Schliesslich nahm der Jüngere die Hand des Bärtigen und wollte sie küssen, doch im letzten Moment zog der Alte sie weg. Der Jüngere küsste leere Luft. Bevor er von dannen schlich, holte er seine Frau und seinen kleinen Sohn, die die Szene hinter einer Säule halb verborgen beobachtet hatten.

Ich konnte nur mutmassen, was sich hier zugetragen hatte. Es war eben doch eine sehr fremde Welt.


Museum von Aleppo – das Tor, Nachbildung eines 3000 Jahre alten Tempeltors (Quelle: hittitemonuments.com)

Gott, arabischer Pop und heisse Dessous


Strasse in der Altstadt von Aleppo in Syrien, wohl vor dem Krieg (Quelle: wikimedia.org)

Später Nachmittag, Oktober 1998. Hinter mir das Tor des Hotels. Vor mir ein Häusermeer – die Altstadt von Aleppo. Ich sah ein Strassenschild und erschrank. Es war Arabisch, das hiess für mich: vollkommen unleserlich. Ich durfte mich auf keinen Fall verirren. Einem Passanten wollte ich mich hier lieber nicht anvertrauen – die Männer hatten alle diesen schwülen Blick, sobald sie mich Westlerin sahen. Ich ging also einfach geradeaus und wurde sofort mitgerissen von einer Flut von ungewohnten Sinneseindrücken.

Da waren Gassen mit Dutzenden und Aberdutzenden von Schuh-, Möbel- und Kleiderläden. Von überall her arabische Popmusik. Kein einziger Song aus dem Westen. Schaufenster lockten mit tiefen Decolletés und opulenter Reizwäsche. „Wer trägt das alles?“ fragte ich mich – die meisten Frauen hier führten lange Mäntel und Kopftücher spazieren. Zu fromm für Spitzendessous. Dachte ich.

Sollte ich mir selber ein Kopftuch kaufen? In muslimischen Ländern sei das die beste Methode, sich vor zudringlichen Blicken zu schützen, hatte mir eine reisegewohnte Freundin versichert. Da sah ich Kreuze an einem Haus, eine christliche Kirche, unverkennbar. Vor der Tür eine Madonnenfigur in Blau und Weiss. Also doch kein Kopftuch. Wie könnte ich ein Kopftuch tragen in einer Stadt, in der es Christen gibt?

Schliesslich kam ich zum riesigen Platz unter der Zitadelle. Hier tobte der Feierabendverkehr – Dauerhupen inklusiv.

Genau in diesem Moment erhob sich die Stimme des Muezzin und füllte den Abendhimmel. Sie verkündete die Grösse Gottes. Dazu warf die Sonne ihre letzten Strahlen auf die lärmende Stadt und liess ihre Mauern in einem Rausch von roten, gelben und violetten Farbtönen untergehen. Nie werde ich diesen Moment vergessen.

Danach war es dunkel. Am Strassenrand hielten ein paar Taxis. Aus ihnen stiegen geschminkte Frauen mit offenen Haaren, spitzenverzierten Blusen und reich gemusterten Leggins. „Sind das nun die Trägerinnen der heissen Dessous?“ fragte ich mich und folgte ihnen.

Sie strömten in die Kirche, die nun mit Kerzen erleuchtet war.

Dahinter eine Gasse, die mit ihren Lichtern lockte. Es war die Gasse der Lampenhändler, in jedem Schaufenster ein Kronleuchter, hundert Lampenläden, einer heller als der andere.

Ich ging bis an ihre Ende und dann wieder zurück ins Hotel. Ich durfte mich ja nicht verirren.

Die Strasse des Diktators

Aleppo vor dem Krieg (Quelle: Wikimedia Commons)

Das Flugzeug landete in Aleppo. Noch immer hoffte ich insgeheim, man werde mich gleich wieder nach Hause schicken – ich hatte kein Visum, niemand aus der Gruppe hatte eins. Man würde es uns am Flughafen geben, hiess es. Wir waren eine harmlose Schweizer Reisegruppe, etwas zwanzig Leute.

Nur ich war Journalistin – und man hatte mir eingeschärft, dass ich das nicht in den Visumsantrag schreiben dürfe. Es war 1998. Der Dikator Hafiz al Assad hatte die Redefreiheit massiv eingeschränkt, das wusste ich. Wie gefährlich Journalisten damals lebten, begreife ich erst heute, Internet sei Dank: Wer den Mund zu weit aufmachte, bezahlte mit dem Leben. Tausende sollen einfach verschwunden sein. Nun, mir drohte keine Gefahr. Ich hatte nicht vor, den Mund aufzumachen, kam aus dem Westen und brachte Geld. In den Visumsantrag hatte ich geschrieben, ich arbeite im Marketing. Ich bekam meinen Stempel. Es gab kein Zurück.

„Man sieht das, was man sucht“, schrieb ich am 9. Oktober in mein Tagebuch. Ich sah eine bleiche Betonstrasse mit hellgrünen Wedelpflanzen auf dem Mittelstreifen. Die Strasse des Diktators, dachte ich. Später habe ich sie wiedergesehen, die Strasse, 2012, am Fernsehen, in einem Beitrag über den Bürgerkrieg. Ich wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. Plötzlich war der Krieg sehr nahe.

Aleppo hat einmal zweieinhalb Millionen Einwohner gehabt. An einer fensterlosen Hauswand in der Innenstadt war ein Porträt von Assad angebracht. Es war so gross wie das Haus.


Hafiz al Assad in jungen Jahren. (Quelle: Wikimedia)

Später, in meinem Hotelzimmer, sass ich auf einem smaradgrünen, schlichten Sofa. Grün, die Farbe des Propheten, die Farbe des Oasen, die Farbe des Lebens. Durch die halb geschlossenen Jalousien sah ich ein Meer von Satellitenschüsseln. Unten in der Stadt ein ständiges Gehupe. Nah und doch weit weg. Es war ein Hotelzimmer, wie man sie nur im Orient findet – luftig und licht und hoch über der Welt. Eine kleine Raststätte auf dem Weg zum Paradies.

Wir könnten die Stadt noch ein Stündchen selber erkunden, hatte unsere Reiseleiterin gesagt. Sollte ich? Ich tat hier nur meinen Job als Reisebegleiterin. Ich war versucht, einfach noch ein Stündchen auf dem Sofa des Propheten sitzen. Aber dann packte mich doch die Neugier.

Reise nach Syrien

Postkarte von der Zitadelle von Aleppo, aus dem Jahr 1998.

In Syrien könne jederzeit Krieg ausbrechen, las ich in der Zeitung. Ein Wasserstreit mit den Türken sei eskaliert. Ich war beunruhigt, denn das war einen Tag vor meinem Abflug nach Aleppo, im Herbst 1998. Die Türken hätten den Syrern den Euphrat abgegraben – den Fluss, der die Grossstadt Aleppo mit Wasser versorgte. Es könnte heute noch knallen. Danach nichts mehr am Radio – und Newsportale gab es noch keine. Um 16 Uhr rief ich ins Reisebüro an. Ich hoffte, mich drücken zu können.

Doch beim Reisebüro hiess es: „Alles halb so schlimm. Wir fliegen trotzdem.“ Alle anderen Mitreisenden seien informiert. Nur mich hatte man vergessen – ich war ja nur die Journalistin, die man auch noch mitnehmen musste. Die Reise nach Syrien war eine Leserreise des Magazins „B & B“, bei dem ich Redaktorin war. Und alle Redaktoren bei „B & B“ mussten ab und zu auf so eine Leserreise mit. Ich auch.

Ich hatte gar nicht nach Syrien gewollt. Ostpreussen wäre mir lieber gewesen. Kaliningrad. Aber nach Kaliningrad durfte nur der Chef. „Geh doch nach Syrien“, sagte unsere Sekretärin. „Das ist total exklusiv. Und es soll so schön sein!“

So stieg ich am nächsten Morgen ins Flugzeug nach Aleppo. Es war ein klarer Herbsttag, und ich hatte einen Fensterplatz. Nie werde ich den Ausblick vergessen – die grüne Schweiz mit ihren klaren Konturen. Österreich. Dann, donauabwärts, immer weitere, trockenere Felder. Schliesslich die Türkei, ihre Erdoberfläche hellbraun kariert, Staubstrassen verästelt wie Blattgerippe – zur Linken das Schwarze Meer. Dann die mächtigen, graubraunen Höhen, wo die Türkei auf Syrien trifft. Hier versickerten selbst gut sichtbare Flüsse lange vor dem Meer. Eine Mondlandschaft.

Dann kamen wir in Aleppo an.

Die Erinnerung an diese Reise verfolgt mich seit Tagen: Jedesmal von Neuem, wenn ich die Bilder von flüchtenden syrischen Familien in Osteuropa sehe. Ich muss jetzt von dieser Reise erzählen. Ich will nicht damit angeben, dass ich einmal dort gewesen bin. Nein. Ich will zeigen, dass viele dieser Menschen einmal in grossen, Städten gewohnt haben. Dass sie ein Zusammenleben hatten und eine Kultur – eine sehr alte sogar. Ich tue es für sie – oder hoffe jedenfalls, es für sie zu tun. Es ist das einzige, was ich tun kann. Im Moment.

Abenteuer-Ferien zu dritt

Der Kulturflaneur – hier im Maggiatal – war einer meiner beiden Reisebgleiter im Tessin. Der andere war unsichtbar – aber schwer zu ignorieren.

Der Herr Kulturflaneur zelebriert ja unsere Ferien im Tessin – hier. Und er hat recht: Jemand sollte sie zelebrieren. Das verdienen sie. Doch um ehrlich zu sein: Wir hatten einen Begleiter dabei, den der Herr Kulturflaneur nicht sehen konnte – der mir aber ziemlich zu schaffen machte. Ich habe über das Thema fremdgebloggt: Hier.

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