Sieben Ferienhighlights aus der Nordwestschweiz

Creuxduvan

Am Sonntag bin ich von unserer dreiwöchigen Reise aus der Nordwestschweiz zurückgekommen. Als Tourismusgebiet ist diese Gegend weniger populär als etwa das Tessin oder das Engadin. Sie ist meist wild und entlegen, und so machten wir dort eine eine oft abenteuerliche Entdeckungsreise. Offizielle Top-Sehenswürdigkeit ist der Creux du Van – völlig zu Recht (siehe Bild oben, von 2019). Der riesige Felsabbruch im Val de Travers wird auch Grand Canyon der Schweiz genannt und ist spektakulär. Aber in diesem Beitrag geht es nicht um Top-Sehenswürdigkeiten. Das hier ist meine persönliche Liebeserklärung an die Jura-Dreiseen-Region 2021:

Tariche 1) Tariche ist ein kleiner Campingplatz verborgen im engen Tal des Doubs, mitten in einem Naturschutzgebiet. Hier ist es vor allem eins: grün. Man kann hier stundenlang einfach sitzen, die Bäume und den Fluss anschauen und den Vögeln zuhören. Ein Paradies, jedenfalls bei Sonnenschein. Das nächste Städtchen ist zwei Stunden Fussmarsch entfernt, der Wanderweg dorthin ist traumhaft schön. Bus gibt es keinen, nur eine einspurige Strasse für Autos. Dafür aber das vielleicht abenteuerlichste öffentliche Verkehrsmittel der Schweiz: eine etwas morsch gewordene Fähre, die man selbst bedienen muss (siehe Bild).

st. ursanne2) Das zwei Stunden Fussmarsch von Tariche entfernte Städtchen heisst St. Ursanne und ist bezaubernd. Der Stadtkern – und viel mehr ist dort nicht – stammt aus dem Mittelalter. Besonders sehenswert: die teils 1000-jährige Kirche im Zentrum. Rundum fast nur bewaldete Jurafelsen, Frankreich ist nah. An einem heissen Sommermittag hat der Hauptplatz (Bild) den trägen Charme einer französischen Provinzstadt in einem alten Film. Nur vor dem Coop herrscht Betrieb. Dort treffen sich die Jurawanderer und -Velofahrer zum Provianteinkauf und besprechen ihre Pläne.

3) Südlich von St. Ursanne liegen die Freiberge, eine Hochebene mit Weiden und Wäldern. Wir erreichten sie auf dem Chemin de fer du Jura, zu Deutsch, der Jura-Eisenbahn. Dass es in dieser dünn besiedelten Region einen Zug gibt, dazu noch einen mit Taktfahrplan, scheint wie ein Wunder. Gemütlich zieht das rote Gefährt durch die Landschaft, dann und wann taucht ein Haus oder ein Dorf auf, dann gibt’s einen Halt – meistens nur auf Verlangen.

4) Wandern in den Freibergen ist etwas für Leute wie mich, die nicht das Gipfelerlebnis suchen, sondern einfach in wunderbare Landschaften eintauchen möchten. Klar, auch hier kann Spektakuläres tun: bei Biaufond über steile Leitern zum Doubs hinuntersteigen. Oder den Etang de la Gruère umrunden, einen idyllischen See im Torfmoor. Man kann auch einfach über die Hügel spazieren, hier eine Pferdeweide betrachten, da einen Wald oder eine Doline, dann ein paar Windräder. Meist erreicht man irgendwann ein Restaurant, zum Beispiel La Combe à la Biche nahe beim Mont Soleil (ländlich) oder das Hôtel du Soleil in Le Noirmont (gehoben). Rückreise dann auf dem Chemin de fer du Jura.

5) Als ich die Stadt La Chaux-de-Fonds vor vielen Jahren zum ersten Mal sah, hat sie mich mit ihrer streng rechtwinklingen Anlage und ihren grauen Fassaden zugleich fasziniert und ein wenig geängstigt. Geblieben ist die Faszination für die Uhrmachermetropole auf 1000 Metern über Meer. Das Stadtbild ist einzigartig. Es gibt dort grosse Werkstätten und gleich nebenan Wohnraum von guter Qualität (wie oben im Bild, links die Fabrik). Heute gehört die Stadt deshalb zum Unesco-Welterbe. Es gibt tolle Architektur-Stadtspaziergänge und ein Uhrmachermuseum, das zugleich Wertschätzung für das Uhrhandwerk und Interesse am Phänomen Zeit weckt. Gleichzeitig wirkt die Stadt stellenweise aus der Zeit gefallen – denn die Uhrenfabriken stehen jetzt ausserhalb, und was soll man mit diesen erhaltenswerten, aber zu klein gewordenen Fabrikgebäuden tun?

6) Die Stadt Neuchâtel sähe wegen ihrer gelblichen Farbe („jaunâtre“) aus, als sei sie aus Butter geschnitzt, sagte Alexandre Dumas der Ältere etwas verächtlich. Im 19. Jahrhundert war Butter wohl noch sehr viel gelber als heute. Heute wirkt der safrangelbe Sandstein, aus dem die Stadt tatsächlich gebaut ist, sehr attraktiv. Ausserdem hat Neuchâtel ein tolles Schloss auf einem Hügel – ein gediegener Arbeitsort für die Angestellten der Kantonalen Verwaltung, die dort ihrem Tagewerk nachgehen. Und es gibt in „Nöösch“ (so wird die Stadt umgangssprachlich genannt) eine der attraktivsten und längsten Seepromenaden der Schweiz. Wer dorthin geht, sollte unbedingt im Hotel Touring au Lac logieren: ein Dreisternehaus an bester Lage, zahlbar und sympathisch.

7) Das Schloss Grandson ist eine Ikone der Schweizer Geschichte. Hier fochten die Eidgenossen 1476 die erste von drei Schlachten gegen den übergriffig gewordenen Karl den Kühnen und seine Burgunder. Der Spruch, den wir dazu in der Schule gelernt haben: „In Grandson verlor Karl das Gut, in Murten den Mut und in Nancy das Blut.“ Tatsächlich sind im Schloss Teile des Burgunderschatzes ausgestellt, die die Schweizer damals erbeutet haben, darunter ein goldener Hut. Hier erfochten sich die Eidgenossen auch Anerkennung als eine Art Staatswesen mitten in Europa und einen nationalen Mythos, der die Jahrhunderte überdauerte. Das Schloss ist öffentlich zugänglich, heute aber im Besitz einer Immobilienhändler-Familie. Alle Schlossherren haben sich bemüht, die mittelalterliche Atmosphäre und den heroischen Charakter des Gemäuers zu unterstreichen.

Gendersternchen

Wäre wahrscheinlich froh um Gendersternchen gewesen: Die erste Schweizer Juristin Emilie Kempin-Spyri (Quelle: Wikipedia)
Freund*innen, ich sehe die Nachteile von Gendersternchen! Neulich hatte ich einen Text in der Hand, der sich über Maurer*innen, Apotheker*innen, Parlamentarier*innen und Vertreter*innen eines guten halben Dutzends weiterer Berufe äusserte. Immer mit Gendersternchen. Es sah süss aus, eine Art euphorisierte konkrete Poesie. Aber die Autorin wollte ein politisches Statement machen, und dieses sah man vor lauter Sternchen gar nicht mehr. „Mir ist ganz schwindlig“, schrieb ich ihr. „Das geht so nicht.“ In unserem Redaktionshandbuch steht sowieso nichts von Gendersternchen. Dieses schrieb noch bis vor wenigen Jahren vor, bei unserer Zeitung sei stets das generische Maskulinum zu verwenden – wie etwa im Satz: „Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich“.* Frauen mitgemeint.

Und hier haben wir das Problem. Bei diesem „Mitgemeint-Sein“ wird mir immer etwas unbehaglich. Als ich neulich eine Kurzbiographie der ersten Schweizer Rechtsgelehrten Emilie Kempin-Spyri las, verstand ich besser, weshalb. Studieren durfte Kempin zwar. Aber man wollte ihr als Frau das Anwaltspatent verweigern, und sie ging deshalb 1887 bis vor Bundesgericht. Sie habe Anspruch auf das Patent, denn im Satz „alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich“ seien Frauen mitgemeint, argumentierte sie. Er stand in der Verfassung von anno dazumal. Die hohen Richter fanden diese Idee jedoch «ebenso neu als kühn». Sie verweigerten ihr das Recht, ihren Beruf auszuüben.

„Also, das ist doch 134 Jahre her! Das wird nie wieder passieren“, sagt jetzt der Sprachpurist. Ja, und 2019 dachten wir noch, eine etwaige Pandemie hätten wir im Westen voll im Griff. Man kann nie sicher sein, dass die Errungenschaften der Moderne nicht wieder den Bach runtergehen. Deshalb habe ich rein gar nichts gegen eine Sprachregelung, die mich als Frau deutsch und deutlich erwähnt. Und meinetwegen auch alle Menschen ohne eindeutiges Geschlecht. Wie das am besten gehen soll? Ich weiss es nicht.

Für eine faule Ausrede halte ich aber das neueste Argument des Sprachpuristen: „Himmel, diese blöden Genderzeichen übertragen sich jetzt auch noch auf die gesprochene Sprache! Die Leute sagen jetzt so dämliche Dinge wie ‚Anwält[|]innen‘ oder ‚Schauspieler[|]innen!“ Dämlich? Ihr Deutschen nennt doch Eure Freundin Beate auch „Be[|]ate“. Und Ihr geht nicht ins Theater, sondern ins „The[|]ater“. Den Laut, den ihr da deutlich hörbar zwischen zwei Vokale einbaut, ist ein so genannter Glottisschlag und im Deutschen schon lange gebräuchlich.**

Aber gut. Ich bin auch nicht sicher, wie ich zu den Gendersternchen stehe. Viele andere auch nicht. Ich schlage vor: Bis wir eine mehrheitsfähige Lösung haben, spreche und schreibe ich hier von „Maurerinnen und Apothekern, Schauspielern, Parlamentariern und Anwältinnen“. Soll jeder darüber denken, was sie will.

* Artikel 4 der Schweizerischen Bundesverfassung von 1887, mehr dazu hier
** Und, für die Anglophilen unter uns: Die Londoner[|]innen haben es mit ihrem so genannten *glo[|]al stop“ gar zur Meisterschaft gebracht. Kann man sich auf diesem Youtube-Video anhören. I mus[|] say, though: Why I ge[|] Arabic subti[|]les in this video, bea[|]s me.

Ein Gespräch über Rapsfelder


In der Schweiz blühen die Rapsfelder – und es toben Diskussionen über eine zerstörerische Landwirtschaft.

Neulich fuhren Herr T. und ich mit dem Zug über Land. Ich schaue aus dem Fenster und sage: „Schau mal, so ein schönes Rapsfeld!“ Herr T. blickt von seinem Tablet auf und antwortet: „Tjaaa, Rapsfelder stellen ein besonderes Problem dar. Man kann Raps nicht ohne den gezielten Einsatz von Pflanzenschutzmitteln anbauen.“ Ich verdrehe die Augen. Ich meine: Können wir in diesem Frühling nicht einfach die Schönheit eines blühenden Feldes bestaunen, ohne gleichzeitig an Pestizide zu denken?!

Nein, können wir nicht. Wir stehen wieder mal vor einer Volksabstimmung, am 13. Juni, und diesmal geht es um unsere Landwirtschaft und unser Trinkwasser. Diesmal müssen wir uns unbequeme Fakten vor Augen führen. Fakt ist zum Beispiel: Die Gifte aus der Landwirtschaft stellen in unserer sauberen Schweiz eine ernst zu nehmende Gefahr für unser Wasser dar (übersichtliche Zahlen gibt’s hier).

Ich habe immer gewusst, dass unsere Landschaft nicht reine Natur ist. Der relativ flache Teil der Schweiz ist klein und eine einzige, riesige Kulturlandschaft, seit Jahrhunderten. Aber dass diese Landschaft heute über sehr weite Strecken eine grüne Wüste ist, ein mit Giften aller Art hochpoliertes, auf Höchstproduktivität gezüchtetes Kunstprodukt – ich habe es lange Zeit nicht so genau wissen wollen. Jetzt komme ich nicht darum herum: Ich muss einsehen, dass unser Lebensstil und mithin unsere Landwirtschaft 60 Prozent unserer Insekten und Vögel und tonnenweise so genanntes Unkraut vernichtet haben. In Deutschland ist es übrigens nur wenig besser, wie der süddeutsche Ornithologe Peter Berthold hier sehr anschaulich erklärt. Und: Das Gift sammelt sich im Wasser und in den Böden an und bleibt schädlich, für Jahrzehnte.

Die Trinkwasserinitiative, über die wir am 13. Juni abstimmen, will nun jenen Bauern die Bundesgelder streichen, die weiterhin Pestizide benutzen. Das ist eine steile Ansage, und Bäuerinnen und Bauern laufen Sturm gegen die Vorlage. Ihre Wortmeldungen sind oft von epischer Breite, die Zusammenfassung lautet ungefähr: „Das können wir nicht, und das wollen wir nicht, und Ihr ahnungslosen Städter sollt uns gefälligst nicht sagen, wie wir unseren Job zu machen haben.“

Wahrlich, ich habe Respekt vor den Bauern. Und ich weiss, dass meine Unwissenheit über die Landwirtschaft episch ist. Und doch spiele ich mit dem Gedanken, Ja zu stimmen. Ein taktisches Ja nennt man das hierzulande. Mit einem taktischen Ja gibt man zu, dass man eigentlich keine Ahnung hat – aber dass man will, dass sich etwas ändert.

Sollen wir noch reisen?


Ob sie beim Reisen ein Gefühl der Befreiung haben? Touristengruppe in der Stadt Luzern – vor Covid-19 (Quelle: Handeszeitung.ch)

Hilfsbuchhalter Bernardo Soares hält rein gar nichts vom Reisen. „Wahre Erfahrung beruht auf einem verminderten Kontakt mit der Wirklichkeit und einer verstärkten Analyse dieses Kontaktes“*, behauptet er im „Buch der Unruhe“ von Fernando Pessoa. Und weiter: „Und das Gefühl der Befreiung, das vom Reisen ausgeht? Das kann ich ebenso haben, wenn ich von Lissabon nach Benfica, in der Vorstadt, fahre, und zwar sehr viel intensiver als einer, der der von Lissabon nach China reist, denn ist die Befreiung nicht in mir, erlange ich sie nirgendwo.“ Nun ja, Bernardo ist ein äusserst empfindsamer Mensch und ein genauer Beobachter. Da er zudem gar nicht über die Mittel für grosse Fahrten verfügt, macht er wahrscheinlich aus der Selbstbeschränkung eine Tugend. Da sollte man nicht zu hart über ihn urteilen.

In Zeiten von Covid-19 können wir uns sogar eine Scheibe bei ihm abschneiden. Und auch die beängstigende Klimasituation verlangt ja, dass wir weniger reisen. Aber sollen wir das Reisen deshalb gleich verteufeln? Oder Reisende verachten? Sogar als Bewohnerin einer früher vielleicht etwas zu gut besuchten Tourismusdestination bin ich mir nicht sicher. Ich habe mir zwar angesichts der Touristenhorden in unserer Stadt durchaus schon überlegt, ob Reisende in spe nicht eine Eignungsprüfung ablegen sollten, bevor man sie ins Flugzeug steigen lässt. Ich erinnere mich gut an Szenen mit Asiaten, die mir auf dem Trottoir mit der Nase dicht am Handy entgegenkamen. Wollte man sie passieren, musste man sie anschreien oder auf die Strasse ausweichen. Ich sehe noch Amerikaner vor mir, die ihre beträchtliche Leibesfülle passgenau in die Mitte der schmalen Denkmalstrasse gossen. Mit dem Velo war da kein Durchkommen. Das ist ärgerlich, wenn man pünktlich in seinem Büro an der Denkmalstrasse sein muss.

Ich will nicht verallgemeinern. Die meisten Asiat*innen sind freundlich und rücksichtsvoll. Und Leibesfülle sollte an sich keine Disqualifikation fürs Reisen sein. Das Problem ist: Reisen ist erstens etwas Narzisstisches. Ich habe junge Amerikaner mit Eroberermiene über die Seebrücke schreiten sehen. „Seht her, ich habe mein Fähnchen in der Schweiz eingesteckt!“ sagte ihr Blick. Reisen sind zweitens ein Statussymbol. Reiseanekdoten eignen sich ja so wunderbar als Konversationshäppchen am Apero in der Heimat. Für viele Touristinnen und Touristen kommt das Interesse an der Welt, die sie bereisen, ungefähr an dritter Stelle. Und das ist ein Ärgernis.

Aber jetzt sind sie weg, die Touristen – und es fehlt eben doch etwas. Unsere Stadt ist ja geradezu als Kulisse für den Tourismus gebaut. Jetzt, wo die Hotelkästen leer und die Uhrenläden geschlossen sind, macht sich in den Gassen Ratlosigkeit breit. Und nicht nur das: Ohne Touristen ist meine Stadt eine biedere, in sich gekehrte Kleinstadt. Die Gäste aus Indien, aus China, aus Amerika bringen wenigstens ein bisschen internationale Betriebsamkeit hierher. Im besten Fall bestaunen wir sie, und sie bestaunen uns. Für mehr reicht es meistens nicht. Aber schon das erweitert den Horizont.

Und selbst gar nicht mehr reisen? Das kann ich mir nicht vorstellen. Pessoa hat zwar recht: Es gibt Dinge, die wir beim Reisen selbst mitbringen müssen. Zum Beispiel die Bereitschaft, die Welt um uns herum wahrzunehmen. Dann verändert uns das Reisen – und das Gefühl der Befreiung bekommen wir dann eben doch von aussen geschenkt. Ich bin nie in China gewesen. Aber zum Beispiel in Russland, und deshalb weiss ich: In den Städten dort haben die Menschen andere Probleme als wir. Und ähnliche wie wir noch dazu. Das zu verstehen, hat mich weniger empfindlich für gewisse Launen meiner Schweizer Mitmenschen gemacht. Und in der Nähe von New Orleans habe ich gelernt wie mies und verkommen Rassismus eine Gesellschaft macht – auf eine Art, wie ich es in der Schweiz nicht hätte lernen können. Natürlich, auch ich bin aus Narzissmus gereist. Auch ich erzähle gern von meinen Abenteuern. Aber die Welt ist gross, und wir verstehen sie nicht, wenn wir nur nach innen schauen. Und, wie sagt es Bernardo Soares: „Wir werden aller Dinge müde, nur des Verstehens nicht.“**

* Fernando Pessoa: „Das Buch der Unruhe“, Fischer Taschenbuch, 2006, Seite 142
** daselbst, S. 238

Wie weiter mit Assad?

Den ersten Beitrag dieser Syrien-Erinnerungen schrieb ich spontan – vor meinem geistigen Auge stand das entsetzliche Bild jenes Lastwagens an der österreichischen Grenze, in dem kurz zuvor 71 Flüchtlinge jämmerlich erstickt waren. Als ich zu schreiben begann, war das Syrien meiner Erinnerung noch sehr westlich, das Arabische an den Städten nicht viel mehr als touristische Kulisse. Aber dann las ich meine Tagebücher von 1998 wieder. Und ich kam zur Einsicht: Es war dort eben doch sehr anders als bei uns.

Das ändert nichts an meiner Überzeugung, dass wir den Flüchtlingen helfen müssen. Aber es warf Fragen auf. Ich begann zu lesen wie verrückt. In diesen Büchern fand ich Antworten, die mich überzeugten. Auch, weil sie zu dem passten, was ich damals sah und notierte.

Dieses Buch ist hoch aktuell, leicht lesbar und beschreibt die Zustände von Afghanistan bis Tunesien. Autor Michael Lüders kommt mir als ehemaliger Nahost-Redaktor der „Zeit“ glaubwürdig vor. Seine Antworten auf meine Fragen plausibel:

Was war das in Syrien für eine Gesellschaft, bevor der Krieg begann?
Es gab in Syrien eine dünne, städtische Mittelschicht – zu dünn um eine Demokratie nach westlichem Muster aufzubauen. Stammesdenken spielte eine wichtige Rolle und wurde beim Überlebenskampf im Krieg noch wichtiger. Assad ist ein typisch arabischer Despot: Diese betrachten den Staat im Allgemeinen als Selbstbedienungsladen für sich und ihre Familien. Gibt es Widerstand, so antworten sie mit Gewalt. Assad senior und junior konnten sich als Vertreter der alawitischen Minderheit an der Macht halten, weil sie mit den sunnitischen Händlern in den Städten ein Bündnis eingingen. „Der Deal lautete: Ihr stellt nicht die Machtfrage, und wir stören euch nicht bei euren Geschäften“, so Lüders.

Warum brach der Krieg aus?
Im Januar und Februar 2011 gab es in einigen kleineren Städten spontane Proteste gegen die Korruption im Land. Die Polizei reagierte derart brutal, dass die Protestwelle aufs ganze Land übergriff. Eine Massenbewegung wie etwa in Kairo gab es aber nie, so Lüders. Weder die religiösen Minderheiten noch die sunnitische Geschäftswelt schloss sich dem Aufstand an. Und doch wurde die Revolte bald zum blutigen Krieg zwischen Alawiten und Sunniten. Sunnitisches „Rückgrat der Rebellion“ seien „Bauern und Landflüchtlinge gewesen, die als Folge von Dürre und Verelendung im Bandenwesen der Milizen eine Alternative sehen“ – und „einen Lebensunterhalt“, schreibt Lüders.

Ist der Westen mitschuldig?
Oh ja, sagt Lüders. Es ist eine seiner Hauptthesen, dass die Interventionen des Westens massgeblich zur Krise im Nahen Osten beigetragen hat. Der Westen habe Freiheit und Demokratie gepredigt und dabei immer knallhart seine eigenen Interessen durchgesetzt. Viele Muslime, auch gemässigte, hätten den Eindruck, der Westen führe einfach Krieg gegen den Islam.

Was soll jetzt passieren?
Inzwischen sei der Krieg in Syrien stark „metastasiert“, schreibt Lüders. Es gäbe geschätzte 1000 Banden, Milizen und Grüppchen – viele kämpften raubend und plündernd um ihr nacktes Überleben. Der Westen müsse aufhören, in dieses Chaos auch noch eigene Kämpfer zu schicken. Die Freie Syrische Armee, die ‚gemässigte“ Opposition, hält er für eine Phantasie des Westens. Kommt noch das Gerangel mit Russland dazu: Der Westen müsse akzeptieren, dass Putin hier auch ein Wörtchen mitzureden habe, sagt Lüders.

Wie weiter mit Assad?
Vor ein paar Wochen habe ich ja noch zur Ansicht geneigt, Assad sei ein Mörder und müsse weg. Aber die Lektüre des Buches hat meine Meinung geändert. Klar sei Assad brutal, schreibt Lüders. Dennoch greife die offizielle westliche Lesart zu kurz, nach der Assad die alleinige Verantwortung für die Zerstörung Syriens trage. Und, so Lüders: „Einem Grossteil der Bevölkerung ist die Pest von Assads Herrschaft immer noch lieber als die Cholera einer ungewissen Zukunft, die radikale Islamisten an die Macht spülen dürfte.“ Die würden dann das Morden einfach auf einer höheren Liga weiterführen.

Wer sich noch ein bisschen tiefer reinknien möchte, sollte das hier lesen:

Albert Hourani schrieb es vor 9/11 und auf sehr zurückhaltende Art – er war Oxford-Dozent der alten Schule. Doch er analyisiert punktgenau die Probleme der arabischen Welt – etwas die Krämpfe um die Frage, welche Rolle der Islam im Staat zu spielen habe. Ich las es schon 1998 – erst als ich es neulich wiederlas, verstand ich: Er hatte die Sprengkraft dieser Krämpfe glasklar vorhergesehen.

Dienstbarer Geist in Damaskus

Auf dem Soukh von Damaskus, 15. Oktober 1998

Das Bild bringt auf den Punkt, wie sich die Stadt Damaskus damals anfühlte: ein bisschen westlich. Oder sie versuchte wenigstens, es zu sein, für die Touristen – oft mit fast schon parodistischer Unbeholfenheit. Denn Damaskus war zuallerserst eine Stadt im Orient, viel mehr als Aleppo. Was man auf dem Bild nicht sieht: Es war eine riesige Stadt, „ein Drittweltmoloch“, schrieb ich ungnädig in mein Tagebuch; eine Stadt, die unter ihrem ungeheuren Alter zu ächzen schien.

Wir Touristen waren in einem Viersternhotel untergebracht – wir sollten im Dschungel der Grossstadt einen Rückzogsort mit westlichem Standard haben. Schon bald zeigte sich jedoch, dass dieser Plan nicht aufging. Bei der Ankunft begrüsste man uns mit einem Geschenk – einer lokaltypischen Dose mit Intarsienarbeiten (Bild unten). Massenware, dachte ich und legte sie auf ein Tischchen. Dann ging ich duschen.

Die Handtücher im Bad waren weiss – auf den ersten Blick. Bei näherem Hinsehen sah man sandbraune Krusten zwischen den Frotteemaschen. Man konnte die Tücher beinahe hinstellen, so steif waren sie. Sie kratzten beim Abtrocknen.

Wir blieben nur eine Nacht. Am nächsten Morgen trat ich mit gepacktem Koffer auf den Korridor und erblickte vis à vis die offene Tür einer Wäschekammer. Sie war voller unbeschreiblich schmutziger Wäsche. Und, weiss Gott, ich bin puncto Hygiene nicht pringelig. Aber selbst ich sah, dass auch dem Korridor eine reinigende Hand gutgetan hätte. Ich schluckte leer, schloss mein Zimmer ab und ging zum Lift. Auf dem Weg begegnete ich einem Mann mit knittriger Livree und geöltem Schnurrbart. Wie ein Gespenst irrlichterte er durch den Korridor. War er betrunken? „Er sieht jedenfalls nicht aus, als ob er demnächst zum Besen greifen würde“, dachte ich.

Kaum hatte ich den Liftknopf gedrückt, tippte mich jemand auf die Schulter. Es war der Mann mit dem geölten Schnurrbart. Mit einer schiefen Verbeugung überreichte er mir meine Intarsien-Dose. Ich hatte sie im Hotelzimmer vergessen. Mir wurde leicht übel. Diese merkwürdige Gestalt verfügte also über einen Schlüssel zu meinem Zimmer – er hätte mich jederzeit im Schlaf überraschen können. Er krächzte etwas auf Arabisch. Ich fragte nach, bis ich es verstanden hatte: „Bakschisch, bakschisch!“ Er wollte wahrscheinlich ein Trinkgeld.


Ungefähr so sah die Dose aus, die man uns im Hotel gab. Ich habe sie heute noch (Quelle: hanaweb.de).

Schweizer auf Reisen

Frau Schweizer sass im Reisecar und blickte auf die Schotterfelder am Rand eines syrischen Dorfes. Es war im Oktober 1998. Frau Schweizer sagte: „Dass die aber auch ihre Plastiksäcke einfach wegwerfen!“ In den Dornen am Strassenrand hingen viele zerrissene Plastiktüten. „Die sollten doch ein bisschen Umweltbewusstsein haben!“

Frau Frogg verdrehte die Augen, blickte auf ein ärmliches Haus am Strassenrand und sagte: „Ich kann mir schlecht vorstellen, dass man hier, mitten in der Wüste genügend Geld hat für ein paar Männer in orangen Gwändli*.“

„Ach, was, es gibt sehr viel Geld in diesem Land“, platzte plötzlich Herr Schweigsam vom hinteren Sitz heraus. Es war das erste Mal, dass er überhaupt etwas sagte. „Die haben hier so viel Erdöl und Phosphate! Aber es fliesst halt alles in die Taschen der Reichen.“

Frau Frogg sagte nichts mehr. Aber sie dachte: „Sollen sie doch Kuchen essen!“ Ihr erinnert Euch: Die französischen Königin Marie-Antoinette (1755 bis 1793) soll gesagt haben: „Sollen sie doch Kuchen essen, wenn sie kein Brot mehr haben.“ Man hatte ihr gesagt, ihre Untertanen seien so arm, dass sie sich kein Brot mehr kaufen könnten. Zwar stimmt die Geschichte offenbar gar nicht. Aber wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden. Es zeigt, was passiert, wenn die einen keine Ahnung davon haben, wie die anderen leben. Marie-Antoinette bezahlte ihre Ahnungslosigkeit mit dem Leben, als bei den Franzosen der Hunger in Wut kippte und sie eine Revolution anzettelten.

Wir hatten alle keine Ahnung in unserem Bus. Ich auch nicht. Aber hinter den dicken Scheiben unseres Reisecars mutmassten wir munter drauflos.

Aber, nun, ich will mal nicht den Teufel an die Wand malen. Ich will nur sagen: Ahnungslosigkeit ist kein gutes Rezept.

* Gwändli: schweizerdeutsch für Überkleid, oft Arbeitskleidung.

Die Wüste von Syrien

Wüstenlandschaft im Westen Syriens

Wir verliessen Palmyra und fuhren nach Süden, mitten durch die Wüste. Ich war überwältigt von der Wüste, von ihrer unbarmherzigen Schönheit und Leere. Kein Wunder, dass die Menschen hier immer nach Gott gesucht und einen unfassbaren Einzigen gefunden haben, dachte ich.

Am Strassenrand sahen wir da und dort einfache Behausungen, weitab der Dörfer. Orientierung boten dort für unsere Augen nur die Strasse und der Schotter. Es gab Beduinenzelte und Schafe. Die biblischen Hirten auf dem Felde sind seither für mich nicht die alten Männer, die bei uns mit ihren Schafen durch weihnachtlich dekorierte Dörfer ziehen – sondern ganze Familien, die mitten im Geröll des Nahen Ostens ihr karges Auskommen suchen.

An einer grossen Kreuzung bogen wir nach links ab. „Das ist die Autobahn von Damskus nach Bagdad“, sagte unser Tourleiter. Nie habe ich so viel Fernweh gehabt wie an dieser Strassenkreuzung. Es war am 14. Oktober 1998.

Hier hielten wir bei einer Autobahnraststätte. Sie sah einem McDonalds nicht unähnlich, und wir erwarteten Kaffee und Eis am Stiel. Aber schon bei der Tür raubte uns dicker, feuchter Käsegeruch fast die Sinne. Ich meine: Ich bin als Kind oft in der Käserei meines Onkels gewesen und halte puncto Käsegeruch einiges aus. Aber das hier war eine ganz andere Liga.

Wir gingen an den niederen Tischen vorbei, an denen bärtige Beduinen sassen und angeregt parlierten. Verstohlen blickte ich auf ihre Teller, um die Quelle des Käsegeruchs zu finden. Dort lagen lange, geringelte Käseschnüre wie Spaghetti.

Sah so aus:


Quelle: www.seriouseats.com

Erst nach all den Jahren habe ich hier herausgefunden, was das war. Probiert haben wir’s damals nicht. Nur gerochen.

Die Kinder von Palmyra

Palmyra, 14. Oktober 1998

Dieses Bild habe ich selber gemacht, was erstaunlich ist. Denn ich hing an jenem Tag ziemlich in den Seilen. Ich hatte eine so genannte Reisedarmgrippe – harmlos, aber ich hatte doch die halbe Nacht auf der Toilette verbracht. Es war eine gute, westliche Toilette in einem Viersternhotel – erschöpft war ich trotzdem.

Ich würde gerne sagen, ich sei von den 2000 Jahre alten Tempelanlagen in Palmyra hingerissen gewesen. Ich würde sie gerne wenigstens in meiner Erinnerung mächtig fortleben lassen – jetzt, wo der IS sie offenbar zerstört hat. Aber gestehe: Ich schleppte mich zwischen den korinthischen Säulen dahin und tat einfach nur mein Bestes.

Viele meiner Reisegefährten kämpften mit ähnlichen Problemen. Eine Frau aus dem Aargau war so dehydriert, dass sie in Palmyra ins Spital kam und dort ein paar Stunden am Tropf hing. Offenbar tat ihr das gut. Nachher war sie wieder in anständiger Verfassung.

Noch mehr als mein Magen machte mir das schlechte Gewissen zu schaffen. Beim Aussteigen auf dem Car-Parkplatz waren wir sofort von einem Schwarm schmutziger, bettelnder Kinder umringt worden. Ich muss es jetzt einmal sagen: In Syrien gab es damals für mich Westlerin schockierend arme Menschen.

Auf die bettelnden Kinder hatte man uns vorbereitet. Wir sollten ihnen Papier und Schreibzeug geben – Sachen, die sie in der Schule gebrauchen könnten. Sonst würden sich die Eltern daran gewöhnen, von der Bettelei ihrer Kinder zu leben. Dann würden sie sie nicht mehr zur Schule schicken. So verteilte ich Zeichenstifte und zweifelte an der Weisheit meines Tuns. Sind Zeichenstifte ein Trost, wenn man als Kind ohne Nachtessen ins Bett muss?

Erst Jahre später habe ich gelesen, was uns damals niemand erzählte: Palmyra war auch eine Stadt des Grauens. Es gab dort ein berüchtigtes Gefängnis, in dem Diktator Hafiz al-Assad 1980 zwischen 500 und 1000 Insassen hinrichten liess (Quelle hier). Die meisten waren Muslimbrüder (Hier ein sehr informativer Bericht über die syrischen Muslimbrüder und darüber, was sie mit dem IS verbindet). Im Gefängnis wurde auch gefoltert – anständige Gerichtsverfahren gabs keine. Geschlossen wurde es erst kurz bevor im Mai 2015 der IS kam. Der hat den Knast mittlerweile auch gesprengt.

Das Schweigen der Syrer


Assad-See: Der Teil des Euphrat, der Aleppo bis heute mit Wasser versorgt (Quelle: Wikimedia)

Am 10. Oktober 1998 zeigte uns der Reiseführer eine Sehenswürdigkeit an einem Fluss. Ich habe die Sehenswürdigkeit vergessen. Aber ich erinnere mich gut an den Fluss. Ein Rinnsal zwischen hohen Mauern. Es zog grüne Algenschlieren mit sich.

„Früher hat dieser Fluss die Grossstadt Aleppo mit Wasser versorgt“, sagte der Fremdenführer. Aber er entspringe in der Türkei. Und 1952 hätten die Türken an seinem Oberlauf einen Damm gebaut. Sie hätten den Menschen von Aleppo damit buchstäblich das Wasser abgegraben. Seither komme das Leitungswasser in Aleppo vom Euphrat, sagte er und wies mit dem Zeigefinger gen Osten, wo der grosse Strom liegt.

Aha! Das Thema Wasserstreit! Endlich! Ich hielt meine Stunde für gekommen. „Bevor wir losreisten, las ich in der Zeitung, es könnte ein Wasserkrieg zwischen den Türken und den Syrern ausbrechen“, sagte ich zum Reiseführer. „Was hat es damit auf sich?“ Die Frage hatte uns Reisende doch mit Sorge erfüllt. Endlich würden wir Antwort bekommen, dachte ich. Aber ich irrte mich. Der Reiseführer brummelte ein paar gehässige Bemerkungen über die Türken. „Die stehlen unsere Kunst“, schimpfte er. Aber er sagte nichts Bestimmtes über den angeblich drohenden Wasserkrieg.

Wusste er selber nichts? Wollte man uns Touristen nicht beunruhigen? Oder traf ich mit meiner Frage einfach auf das in Diktaturen übliche Schweigen? Letzere Frage stellte ich mir damals noch nicht. Ich war zu unbedarft.

Immerhin wusste ich, dass an der Südwestgrenze des Landes ein weiterer Konfliktherd schwelte. Bei der Einreise hatte man uns eingeschärft, das Land dort dürfe man in Syrien keinesfalls Israel nennen. Sondern nur Palästina. Die Syrer waren nicht gut auf die Israelis zu sprechen. Denn die hielten seit 1967 syrisches Gebiet besetzt – die Golanhöhen.

Was ich jetzt mit all dem sagen will? Nun, Syrien war schon damals ein Pulverfass. Es ist im Grunde nicht erstaunlich, dass es explodiert ist. Aber wie es passiert ist, hat auch mich überrascht.

Damals nahm ich das alles nicht sonderlich ernst. „Verstehe einer die Streitigkeiten der Syrer!“ dachte ich mit jener touristischen Heiterkeit, mit der Obelix jeweils sagt: „Die spinnen, die Helvetier!“ Mein Blick folgte dem Zeigefinger des Reiseführers und ging in die Ferne. Der Euphrat. Das Zweistromalnd. The Rivers of Babylon. „Fernweh erschafft immer neues Fernweh“, schrieb ich in mein Tagebuch. Ich träumte von Bagdad. Noch wusste niemand, was wenige Jahre später dort geschehen würde.

Am nächsten Tag brachen wir Richtung Osten auf: nach Palmyra.