Schwerhörigkeit, Lektion 1

„Mann, wie gut ihr unsere Nachbarn kennt!“ sage ich staunend zu Herrn und Frau Buddha. Die beiden wissen sogar, in welcher Wohnung die meisten Leute hier genau wohnen. Ich füge hinzu: „Ich bin da eher zurückhaltend. Ich überlege mir bei jeder Begegnung: ‚Wenn ich diese Person anspreche, muss ich ihr wahrscheinlich auch sagen, dass ich schwerhörig bin. Denn wenn die Akustik nicht optimal ist, werde ich ihre Antwort beim ersten Mal nicht verstehen, und vielleicht auch nach zwei Wiederholungen nicht. Lohnt sich das wirklich?'“

„Ja, aber, Mona, das musst Du doch den Leuten sagen!“ ruft Herr Buddha. „Du kannst Dich doch nicht so zurückziehen, sonst bist Du plötzlich total isoliert!“ Die beiden sind bei uns zum Nachtessen, und ich bin sicher, er will mich nicht belehren, sondern meint es gut.

„Ja, da hast Du recht“, sage ich, „Aber weisst Du: Ich müsste das bei jeder Begegnung tun, den ganzen Tag. Im Büro, in der Stadt, überall. Ich überlege mir, ob es sich wirklich lohnt, einen Laden zu betreten und ein womöglich peinliches Gespräch mit dem Verkäufer zu riskieren. Ich muss entscheiden, ob ich im halligen Treppenhaus einer Nachbarin einen schönen Abend wünsche. Wenn sie dann nicht ‚danke gleichfalls‘ sagt, bin ich verloren. Ich muss das auch Leuten sagen, denen ich es schon zweimal gesagt habe, denn sie vergessen es mit Sicherheit. Das ist anstrengend. Oft weiche ich den Leuten deshalb einfach aus.“

Herr Buddha wiegt nachdenklich den Kopf.

Eine schwerhörige Bekannte von mir hat schon gesagt: „Ich sage ‚es‘ nur Leuten, von denen ich denke, dass sie mir wohlgesonnen sind.“ Aber sie ist nur auf einem Ohr taub. Ich bin auf beiden Ohren hochgradig schwerhörig. Wenn ich etwas sage und dann die Antwort nicht verstehen, denken meine Gesprächspartner womöglich, ich sei nicht so hell auf der Platte. Oder unfreundlich. Aber dass ich unfreundlich und etwas merkwürdig bin, denken sie wohl sowieso – gerade, weil ich nichts sage.

Man nennt es das Dilemma der Schwerhörigkeit.

Rollende Steine

Ich sitze im Swisscom-Laden und warte auf mein neues Handy. Hier reden viele Leute durcheinander, und es klingt wie einem Aquarium. Und die Stimmen: wie rollende Steine. Rollende Steine in einem Aquarium. Bescheuerte Metapher. Ich sitze da und suche nach Wörtern, um auszudrücken, wie sich das anhört, diese Schwerhörigkeit. Später im Bahnhof: Da hat rückt jemand aber ein grosses Möbelstück herum! Ach, nein, das ist eine Lautsprecherdurchsage. Wohlgemerkt, ich trage topmoderne, leistungsstarke Hörgeräte, die mich vor zwei Jahren noch total glücklich gemacht haben.

Ihr müsst mich nicht trösten und mir keine guten Ratschläge geben. Man kann mit einer hochgradigen Schwerhörigkeit leben. Sie ist einfach ein verdammtes Ärgernis. Sie ist für mich alltäglich geworden, wenn auch nicht normal. Normal wird das nie sein. Ich habe Schwankungen, manchmal geht es so gut wie vor zwei Jahren. Aber jede Kleinigkeit lässt meine Ohren schwächeln – so eine Pandemie zum Beispiel, oder ein Hochwasser oder auch nur eine Ferienreise.

Letzten Oktober habe ich eine Abklärung für ein Cochlea-Implantat gemacht. 40 Minuten Hörtests, oft ohne Hörgeräte. Die Audiologin sagte: „Ist anstrengend, oder?“ Ich nickte: „Ja, weil es so leise ist.“ Sie: „Ja, und für mich ist es anstrengend, weil es so laut ist.“ Und das war an einem verflixt guten Tag.

Später sagte die Ärztin: „Nun jaaaa, Sie sind ein Grenzfall. Ich weiss nicht, wie viel wir wirklich herausholen können bei Ihrem Gehörverlust. Sie hören fast noch zu gut. Unterschätzen Sie nicht, dass es doch ein recht aufwändiger Eingriff ist und das alles viel Zeit braucht. Warten Sie besser noch eine Weile ab.“

Im Moment bin ich nicht sicher, ob diese Weile jetzt vorbei ist.