Heimkehr ins Wasseramt

wasseramt
Das Wasseramt heisst so, weil es durchzogen ist von idyllischen Flüsschen wie diesem. Was man auf dem Bild nicht sieht: den Autoparkplatz gleich zur Linken.

Ich bin nicht ganz sicher, weshalb ich im Titel dieses kleinen Essays unbedingt das Wort „Wasseramt“ stehen haben will (hier steht alles zur Geografie der Region). Es geht in diesem Text nur teilweise um Wasser. Es geht vor allem um Benzin und um die Zeit. Vielleicht muss es so sein, weil mir der Besuch hier beinahe die Tränen in die Augen getrieben hätte.

Denn am hier abgebildeten Bächlein im Dorf Recherswil, genau links vom linken Bildrand, stand einst das Haus meines Urgrossvaters. Ich habe die Stelle nicht fotografiert, heute liegt dort nichts als ein Parkplatz, und wer will schon einen Parkplatz anschauen? Das Haus meines Urgrossvaters aber war ein stattliches Holzhaus mit dem hier üblichen, mächtigen Bogengiebel, der Menschen und Dinge einrahmt, schützt und birgt – oder wenigstens so aussieht, als würde er das tun. Im Haus war eine Bäckerei, davor stand ein Brunnen mit Pflaumenbäumen. Hier war so etwas wie der Dorfplatz. Mein Urgrossvater war der Dorfbäcker. Es ist ein wenig ironisch, dass alles, was er hatte und war, von ein paar Blechkarrossen ersetzt worden ist. Er war einer der ersten im Dorf, die überhaupt ein Automobil besassen. Sonntags machte er dann und wann eine schmucke Passfahrt, an Werktagen fuhr er Brot hinaus zu den Bauernhöfen. Im Zweiten Weltkrieg liess er sich einen Holzvergaser in den Wagen einbauen.

Er starb 1965, kurz vor meiner Geburt. Aber wir besuchten als junge Familie noch oft seine Witwe. Sie, das Kläri, war nicht meine richtige Urgrossmutter, sondern Urgrossvaters zweite Frau. Die Fahrten zu Kläri waren für mich Reisen in eine mythische Vergangenheit, zu der wir schon selbst nicht mehr gehörten. Wir reisten im Kleinwagen an, mieden die Autobahn, sahen links und rechts Getreidefelder, auf den Hügeln reckten sich alte Bäume gen Himmel, Eichen oder Linden. Man wäre gerne zu ihnen hochgestiegen, hätte sich unter sie gelegt und sich geborgen gefühlt. Die ländliche Schweiz von anno dazumal, die wir gerne als unsere ferne Heimat sehen.

Im Gespräch mit Kläri fielen die Ortsnamen rundum: „Chriägschtette, Choppige, Gerläfingä, Biberischt, Zuchu.“ In diesen Gemeinden hatten sich unsere zahlreichen Verwandten niedergelassen, von denen wir aber kaum jemanden kannten. Es ist kein Zufall, dass sie vor allem nach Gerlafingen und Biberist zogen und dort, so hörten wir, ihren Wohlstand mehrten. Denn dort war die Industrie – in Biberist die Papierfabrik, in Gerlafingen das Stahlwerk.

Als Kläri um das Jahr 2000 starb, erbte Onkel Eugen das Haus in Recherswil. „Und er hat es einem Itsch verkauft!“ schimpft meine Mutter gerne. Ein „Itsch“ ist ein Mann, dessen Name auf „ic“ endet, und von dem meine Mutter folglich nichts weiss und nichts wissen will, als dass er aus Ex-Jugoslawien stammt, von wo die Menschen um das Ende des letzten Jahrhunderts in grosser Zahl in die Schweiz kamen. Dieser „Itsch“ habe das Haus dann abreissen lassen und einen Parkplatz aus der Parzelle gemacht.

Seien wir ehrlich: Der Bau hatte knarzende Böden, eine halsbrecherische Treppe in den ersten Stock, und im Winter fror man sich im Bad den Allerwertesten ab. Klärli hatte dort ein Vierteljahrhundert lang geputzt und gebohnert, aber baulich verändert hatte sie nichts, wahrscheinlich war kein Geld dafür da. Man kann es dem Herrn Itsch nicht ganz verdenken, dass er nichts mit der Immobilie und der in ihr konservierten Heimat anzufangen wusste, die nicht die seine war.

Herr T. und ich warfen einen letzten Blick auf den einstigen Dorfplatz. Auch das behäbige Haus auf der anderen Strassenseite sah verlassen aus. Rund um das übernächste ragen Baugespanne gen Himmel. Das hier ist ein Dorf ohne Dorfplatz, nur mit Verkehr, das goldene Zeitalter der Landwirtschaft ist vorbei.

Wir zogen weiter, durch Gerlafingen und Biberist. Hier trafen wir das Industriezeitalter an, doch auch dieses neigt sich dem Ende zu. In der Stahlfabrik Gerlafingen arbeiteten einst 5000 Leute, heute sind es noch 500. Nun, das Unternehmen rentiert, das ist die Hauptsache. Am Eisenhammer-Kreisel bei der Zufahrt zur Fabrik steht noch die Skulptur eines Eisenschmieds und verkündet  Büezer-Stolz. Aber sonst ist das hier ein gewöhnlicher Agglo-Kreisel, umgeben von einer Beiz mit blätternder Fassade, einem Kleider-Outlet und einer Fast Food-Bude im amerikanischen Stil. Es könnte Bülach, Schönbühl oder Ebikon sein. Eine Welt überrollt von den Möglichkeiten der Benzingesellschaft. Niemand erwartet hier Heimat, alle suchen bloss einen Parkplatz.

Der Eisenhammer-Kreisel von Gerlafingen, Kanton Solothurn.