Der literarische Tod und der echte Tod

Mein Vater hat nun ein Zimmer im Heim am Talgrund und findet dort allmählich etwas Ruhe. In den letzten Wochen war er eine ständige, oft auf ganz neue Art liebenswürdige Präsenz in unserem Leben. Jetzt haben der Krebs, die Demenz und der Heimalltag ihn bei der Hand genommen. Es scheint oft schwierig, ihm dorthin zu folgen, wo er gerade ist. In diesen Tagen bezweifle ich oft, dass sein Tod so sein wird, wie wir Tode hundertfach gelesen und am Fernsehen gesehen haben: Der oder die Sterbende blutet, spricht ein letztes, handlungstreibendes Wort, dann kippt sein Kopf zurück, seine Augen brechen.

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Der Zufall will es, dass ich dieser Tage die letzten Kapitel eines Buches las, das mir eine sehr liebe Freundin ausgeliehen hat: „Rainer Maria Rilkes Schweizerjahre“ von Jean-Rodolphe von Salis. Einige Grundkenntnisse über Rilke gehören immer noch zur deutschsprachigen Allgemeinbildung. Der Autor des Buches, Jean-Rodolphe von Salis, ist hingegen nicht mehr so präsent. Aber er war einer der bedeutendsten Journalisten der Schweiz im 20. Jahrhundert. Von Salis hatte in jungen Jahren Rilke noch persönlich kennengelernt. Die letzten Kapitel seines Buches enthalten eine mitfühlende Schilderung der Krankheitsjahre, die Rilke grösstenteils in der Schweiz verbrachte. Rilke starb an einem Blutkrebs, der jenem meines Vaters ähnlich ist. Deshalb sind mir die letzten Kapitel des Werkes besonders nahe gegangen. Von Salis scheinen ähnliche Fragen beschäftigt zu haben wie mich gerade. War der Tod dieses Literaten so wie er sich selbst den Tod vorgestellt hatte? Sicher dürfe man diesen Tod nicht mit Bildern beschreiben, die dem Werk des Dichters entnommen seien, das verbiete der Anstand, die Scham „vor dem Unaussprechlichen“, schreibt von Salis.

Aber wie hat Rilke selbst es gehalten? Von Salis: „Der Mann, der seit jungen Jahren als Dichter des Leidens und des Todes hervorgetreten war, vermied soviel wie möglich die Aussprache über die grossen Rätsel, als sie sich seiner eigenen Existenz bemächtigten.“ Und: „Es ist auffallend, dass er in seinem letzten Jahren und in seinen reifsten Werken die berühmten alten Bilder nie mehr brauchte, die er einst im Malte-Roman und im Stundenbuch geprägt hat, um den Tod zu bezeichnen.“ Rilke glaubte offenbar auch bis fast zuletzt daran, dass er wieder gesund werde – in dieser Hinsicht ist ihm mein Vater nicht unähnlich. Von Salis zieht das Fazit: „Es war keine literarische Krankheit und kein literarischer Tod, die sich Rilkes bemächtigt haben, und er erlitt beide als ein mannhafter, tapferer Mensch.“ (S.216)

3 Gedanken zu „Der literarische Tod und der echte Tod“

  1. Eine sehr gute Freundin schreibt mir eben auf einem anderen Kanal einen Kommentar über diesen Beitrag, den ich wunderbar finde und der eigentlich genau dorthin führt, wo ich hinwollte, aber noch nicht so richtig konnte. Ihre Mutter ist vor nicht allzu langer Zeit verstorben, und sie schreibt: „Von Rilke stammt das Bild, das mir den letzten Tagen von Mama sehr geholfen hat, die Schrecken des nahenden Todes mitzuerleben: „Früher wusste man (oder vielleicht ahnte man es), dass man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen kleinen in sich und die Erwachsenen einen grossen. Die Frauen hatten ihn im Schooss und die Männer in der Brust. Den hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde und einen stillen Stolz.“

    Es klingt vielleicht fatalistisch, aber ich glaube, so ist es gar nicht gemeint. Der Tod ist für Rilke vielmehr der höchste Ausdruck von Persönlichkeit, etwas, das jeder genau passend und mit „stillem Stolz“ in sich trägt. Deshalb stirbt jeder den Tod, der in ihm von Beginn an angelegt ist und nicht den, den andere erwarten oder vielleicht für den Sterbenden wünschen. Und so wäre das Unwiderrufliche Ende jeder Individualität auch gleichzeitig deren letzte und höchste Zuspitzung.“

  2. „O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
    Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
    darin er Liebe hatte, Sinn und Not.
    Denn wir sind nur die Schale und das Blatt.
    Der große Tod, den jeder in sich hat,
    das ist die Frucht, um die sich alles dreht.“ (Rilke)

    Ich kann diese Überhöhung an den Tod nicht teilen. Wenn ich an die vielen jungen Menschen denke, die in den Kriegen gewaltsam sterben, die hatten keinen „eigenen“ Tod, sondern einen fremden. Ich verstehe Rilkes Gedicht eher als ein Gebet, jedem Menschen die Chance zu geben, sein Leben erfüllt zu Ende zu leben.

    1. Liebe Kalinka, danke für diesen sehr nachdenklichen Kommentar. Ich teile Deine Skepsis insofern als mich das Pathos im Ton dieser Zeilen eher zurückweichen lässt. Vielleicht muss man Rilke aber zugutehalten, dass sie wie ein Gebet formuliert sind, dass er also durchaus sieht, dass eben nicht jede und jeder seinen eigenen Tod bekommt. Ich finde, für uns Heutige enthalten diese Verse auch eine wichtige Mahnung: die Geduld zu haben, das lange Sterben liebevoll mitzutragen, das unsere Nächsten wegen der Fortschritte in der Medizin oft durchmachen.

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