Ein Buch, das Vater und Tochter verbindet

Wenn ich meinen Vater im Heim besuche, lese ich ihm jeweils ein paar Seiten aus „Der arme Mann im Tockenburg“ von Ulrich Bräker vor. Wer immer über dieses Buch schreibt, beeilt sich, seine „mangelnde literarische Qualität“ zu erwähnen (zum Beispiel hier). Ich gehe daher vor allem auf seine durchaus erwähnenswerten Stärken ein. Es ist erstens in einer ganz eigenen Sprache gehalten, leicht an Bräkers Muttersprache angelehnt, den Ostschweizer Dialekt, der im bergigen Toggenburg gesprochen wird. Es ist zweitens das früheste erhaltene Stück Schweizer Autofiktion. Bräker (1735 bis 1798) erzählt darin seine Lebensgeschichte, die eines Bauernbuben, der als junger Mann in die preussische Armee gerät, abhaut und dann in seiner Heimat eine karge Existenz aufbaut. Mit Frau, Kindern und einem Textilhandelsgeschäftchen, wie es in der Frühindustrialisierung in der Ostschweiz viele gab. Und: Das Buch hat die Kraft, meinen Vater und mich jeweils für eine halbe Stunde oder so über sein Elend hinweg zu verbinden. Er war selbst ein Bauernbub, im bergigen Napfgebiet, und hat sich später in einer Beamtenhierarchie abgearbeitet.

Ich bin hingerissen von Bräkers ersten Kindheitserinnerungen: „Ganz deutlich besinn ich mich, wie ich auf allen vieren einen steinigten Fussweg hinabkroch und einer alten Base durch Gebärden Äpfel abbettelte.“ Ich sehe das fast wie einen Film vor mir. Aber, hey, das war 1738! Mein Vater horcht auf, wenn vom Geissenhüten die Rede ist. Dann unterbrechen wir uns und er erzählt von der Ziege, die er selbst als Bub hatte. Wie sie ihm sagten, er solle sein Herz nicht zu fest an sie hängen, sie werde zu Ostern geschlachtet.

Wenn ich ihm vorlese, bin ich seine literarische Tochter, geboren, um ihn stolz zu machen. Er geniesst das Stolzsein. Das rührt mich, denn früher war er nie stolz auf mich oder hat es mir jedenfalls nicht gezeigt. Aber hier erzählt er den Pflegenden bei jeder Gelegenheit, dass ich im Fall seine Tochter sei und ihm dieses tolle Buch vorlese.

Einmal, ich bin mittendrin, ruft Wiederkehr an, sein Jugendfreund. Die beiden waren zusammen auf der Beamtenschule und büffelten Schweizer Verkehrswege und Postleitzahlen. Wiederkehr hatte eine Stelle in der Bundeshauptstadt. Aber jetzt ist auch er vergesslich geworden. Auch ihm erzählt mein Vater von diesem tollen Buch und vom Toggenburg und vielleicht wissen beide nicht mehr auf Anhieb, wo oder was das Toggenburg ist, es ist doch etwas abgelegen. Aber dann fällt der Groschen und einen Moment lang klingt es so, als würden sie gleich zusammen Ostschweizer Postleitzahlen zu repetieren beginnen.

Ulrich Bräker: „Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des armen Mannes im Tockenburg; Hofenberg Sonderausgabe 2017; (Erstdruck 1789).

2 Gedanken zu „Ein Buch, das Vater und Tochter verbindet“

    1. Liebe Mandy, danke Dir für diesen Kommentar. Ich habe gezögert, diese doch sehr persönliche Geschichte zu erzählen. Aber sie ist auf ihre Weise ein Tribut an meinen Vater, und den hat er verdient.

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