Eigentlich habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich hier erzähle, wie ich es mir im Lavaux gutgehen liess. Andere schwimmen gegen die Widrigkeiten des Alltags an, während ich bis zum Kinn in die erfrischende Bläue des Genfersees eintauche! Ich sollte schweigen und geniessen. Doch ich habe das dringende Bedürfnis, über das Lavaux und das Unterwallis zu schreiben. Warum nur?
Klar, zuerst kommt die Frage, warum ich überhaupt reise. Auf sie habe ich während der Pandemie glücklicherweise eine befriedigende Antwort gefunden, bei Fernando Pessoa (hier der Link). Es geht mir beim Reisen ums Verstehenwollen. Bei der Reise in die Westschweiz konkret: Wer sind unsere compatriot·e·s dort? Wie leben wir mit ihnen? Oder wenigstens: Was haben sie für eine Geschichte?
Aber warum schreibe ich das alles auch noch wie eine Verrückte auf? Ich ging gestern so durch unser Grossraumbüro, während ich über diese Frage sinnierte, unter meinen Füssen der anthrazitgraue Teppich, der die ganze Fläche bedeckt. Ich könnte ebensogut die Geschichte dieser seltsam borstigen Kunststoffasern erforschen und teilen, denke ich. Pessoa würde das gut finden, „denn ist die Befreiung nicht in mir, erlange ich sie nirgendwo“. Bestimmt würde das Wissen über die Herkunft, die Hersteller*innen dieses Teppichs meinen Horizont unendlich erweitern, und – sorgfältig aufbereitet – vielleicht auch den meiner Leserschaft. Und doch finde ich im Moment das Lavaux und das Unterwallis so viel beschreibenswerter.
Am Abend sah ich den Anfang einer Sommerserie am Schweizer Fernsehen: Die Italien-Korrespondentin Simona Caminada erkundet mit zwei Fernwanderprofis den Sentiero Italia. Die Reise beginnt im italienischen Teil von Savoyen, deshalb musste ich das sehen. Aber Caminada fragt ihre zwei Mitwanderer auch, warum sie das Unterwegssein zu Fuss zu ihrer Berufung gemacht haben. Und einer sagt: „Ich wandere, weil ich damit der Erde Respekt bezeuge. Aus der Erde kommt alles, was wir sind.“ Herr T. fand diese Antwort „zu esoterisch“. Aber für mich ist es eine stilvolle Art, das zu sagen, was ich weiss, wenn ich mich da draussen zu Fuss vorwärtsbewege: dass das Unterwegssein meine Seele in einen Gleichklang mit meinen Füssen und der Welt bringt – und dass mir das mehr gibt als nur die Kraft, drei Wochen später wieder über den Büroteppich zu schreiten. Dass es über mich selbst hinausgeht. Und was für das Wandern gilt, gilt in einem gewissen Sinne auch für Reisen im Zug und für das Erforschen von Städten und alten Burgen.
Wenn ich das Glück über diese Verbundenheit von einem Hügel herunter wortlos in alle vier Winde werfen könnte, würde ich es tun. Aber das geht ja nicht. Das Internet scheint mir daher der zweitbeste Ort, es auszustreuen. Wenn diese Berichte zu oft klingen wie PR-Artikel oder trockene Faktensammlungen, dann liegt es einfach nur daran, dass es Dinge gibt, die ich nicht vermitteln oder nicht artikulieren kann.






