Ja, ich gestehe, ich habe mich fahrlässig verhalten

In der Schweiz haben wir mittlerweile 7700 Covid-19-Neuansteckungen im Tag. Die Intensivstationen sind bald voll. Unsere Regierung tut: nichts. Dabei brauchen wir einen zweiten Lockdown. Eigenverantwortung funktioniert einfach nicht, wie ich gleich zeige werde.

Am letzten Samstag waren wir bei Lydia und Xaver zum Essen eingeladen. Die beiden sind sehr alte Freunde von Herrn T.. Wir hatte sie lange nicht gesehen und das Treffen war von langer Hand geplant. Doch am Vorabend rief Lydia an und lud uns aus. Wegen Corona. Der Gesundheitsminister habe doch gesagt: „Reduzieren sie ihre sozialen Kontakte.“ Ich sass daneben und sagte laut: „Gut! Das erspart uns eine schwierige Entscheidung.“ Tagelang hatte ich darüber nachgedacht, wie riskant dieses Treffen wohl sei.

Am nächsten morgen klingelte wieder das Telefon. Diesmal war es Xaver. Er lud uns wieder ein. „Mir wöi doch itz nid uffhöre lääbe“*, sagte er in seinem liebenswürdigen Freiburger Dialekt. Ich sass da und verdrehte die Augen. „Hat er es denn nicht begriffen!?“ dachte ich. Solche Szenen spielen sich wahrscheinlich gerade täglich an Tausenden Schweizer Telefonen ab. Wir wissen einfach nicht mehr, wie wir uns verhalten sollen. Treffen von vier Personen sind erlaubt, ausdrücklich verboten erst solche ab zehn Personen. Aber zehn Personen – das scheint mir im Moment geradezu frivol viel. Was, wenn sich an einem solchen Treffen drei der zehn anstecken und auch nur einer in die Intensivstation muss?

„Ich brauche zehn Minuten Bedenkzeit“, liess ich mich verlauten. Aber schon da wusste ich: Ich hatte keine Chance. Herr T. wollte seine Freunde sehen, und er wollte mich dabeihaben. Covid-19? Verschwand hinter einer Logik der Freundschaft und der herzlichen Umgangsformen, die so alt und mächtig ist, dass sie wahrscheinlich im Stammhirn sitzt und vom Covid-Alarm im Neocortex noch gar nichts mitbekommen hat. Ich brauchte gar nicht zu diskutieren. Herr T. sagte zu, und bei uns hing der Haussegen ein bisschen schief. Ich bin sonst keine passiv-aggressive Ehefrau. In rund 50 Prozent aller Differenzen kann ich mich durchsetzen. Aber diesmal fehlte mir einfach die moralische Stärke.

Ich ging also mit hin. Viele werden jetzt denken: „Das muss aber ein sehr ungemütlicher Abend gewesen sein unter solchen Umständen.“ Das Gegenteil war der Fall. Es war total herzerwärmend. Auch das ist die Logik der Freundschaft und der guten Umgangsformen: Ist man erst mal da, beerdigt man das Kriegsbeil und trägt zum Gelingen des Abends bei. Der Junior von Lydia und Xaver kam zum Essen dazu, ein junger Mann, der lustige Sachen erzählte und einen Schnupfen hatte. Wenn er sich schneuzte, schauderte ich ein bisschen. Aber ich stand nicht auf, hielt keine Moralpredigt und stürmte nicht hinaus. Es war ein wunderbarer Abend, und das Wort „Coronavirus“ fiel genau zweimal.

Am nächsten Morgen hatte ich Halsschmerzen. Aber es waren wohl diese Halsschmerzen, die wir alle im Moment ständig haben. Wenn man keine Zeit hat, an sie zu denken, gehen sie weg. Sonst haben wir bis heute keine Symptome.

Warum ich diese Geschichte erzähle? Weil sie illustriert, wie unzulänglich die hierzulande so oft beschworene Eigenverantwortung ist. Herr T. und ich sind vergleichsweise behördengläubige Leute – und selbst wir geraten in Situationen, in denen es einfach mit uns durchbrennt. Man stelle sich Leute vor, die dieses ganze Corona-Gedöns sowieso nicht so ernst nehmen. Die gibt es hierzulande in beträchtlicher Zahl. Und sie können weiter überall feiern. Irgendwann erwischt es sie dann halt, und sie geben das Virus weiter. Wie lange dauert es noch, bis wir Regeln bekommen, die wir ernst nehmen müssen?

* „Wir wollen doch jetzt nicht zu leben aufhören.“

20 Gedanken zu „Ja, ich gestehe, ich habe mich fahrlässig verhalten“

  1. So wie ich es in der Schweiz erlebt habe, ist es ein Tabu, direkt zu etwas NEIN zu sagen, abzulehnen. Deswegen dürfte das mit der Eigenverantwortung noch schwieriger sein als bei uns in Deutschland. In Berlin haut das nicht hin. Heute am Samstag in den öffentlichen Verkehrsmitteln waren viele ohne Maske unterwegs – überwiegend Männer.

    1. Ja, da hast Du recht, man sagt in der Schweiz eher nicht direkt Nein zu etwas. Man kann aber sehr wohl „naja, weisst Du, eigentlich gerne, aber im Grunde wohl besser nicht, und das ist natürlich alles ganz und gar meine Schuld“ sagen, es erfordert halt ein paar höfliche Verrenkungen. Am Freitag durchexerziert mit meiner Freundin Kaja, bei der wir gestern zum Essen eingeladen gewesen wären (auch von langer Hand geplant). Freitagabend, Kaja per Whatsapp: „Liebe Filo, der Korrektheit halber: In Nicks Klasse wurde heute ein Junge positiv getestet. Wir sind zwar alle gesund, und mein Mann und ich würden das Essen trotzdem machen, haben aber volles Verständnis, wenn es euch zu riskant ist.“ Darauf ich: „(ein paar sehr böse Worte über den Bundesrat mit vielen Emojis) Wir würden total gerne kommen, aber ich denke, es ist klüger, es bleiben zu lassen. Nicht mal so sehr wegen Nick, aber ich habe immer noch keinen Laptop und muss täglich ins Büro, manchmal mit dem Bus, wer weiss, was ich da alles erwische.“

      Man kann diese sehr schweizerische Art der Konfliktbewältigung belustigend finden, und ich weiss, viele Deutsche tun das. Aber wenn ich früher in Deutschland war, habe ich manchmal kleine Konflikte erlebt, bei denen gewisse Leute ihren Herrschaftsanspruch derart scharf durchgesetzt haben, dass der Gegenpart sich total gedemütigt gefühlt haben muss. Das finden wir hierzulande einfach nicht angezeigt und auch unnötig. Wir verrenken uns lieber ein bisschen.

      Ich weiss, in Deutschland geht das Corona-Drama auch nicht ohne Rebellion ab. Im Sommer habe ich die Demos in Berlin mit grosser Sorge verfolgt.

    1. Ja, das ist die Konsequenz daraus. Allein feiern. Wir sind hier wenigstens zu zweit, aber auch wenn man zu zweit ist, wird es manchmal ein wenig fröstelig. Ich stosse hier mal über die Distanz nach Berlin mit Dir an, meinerseits mit einer Tasse Espresso!

      1. danke! prost zurück mit einem morgen-drink!

        ich habe wenigstens noch ein paar soziale kontakte durch die arbeit, aber ich weiß, dass es menschen gibt, die schon vor corona recht einsam waren und nur die kneipen hatten… auf diese menschen stoße ich an!

        1. Menschen, die nur die Kneipen hatten… darüber habe ich gar nie nachgedacht, ich war schon vor meiner Ertaubung nie ein richtiger Kneipenmensch. Aber Du hast recht, es diese Kneipenleute, auch hier. Bei uns sind die Kneipen noch offen, aber nicht bis nach Mitternacht wie früher, sondern, äh, weiss nicht genau. Wir auch immer: Ich stosse auf die mit an! Prost!

          1. prost! hier in berlin sind alles kneipen und restaurants geschlossen. und ich glaube nicht, dass sie dieses jahr noch öffnen dürfen. das werden die zahlen nicht hergeben. was das für viele bedeutet, will ich mir gar nicht vorstellen.

          2. Das ist schrecklich! Der Lockdown ist eben doch auch schrecklich. Und man weiss ja nicht, wann das alles wirklich ausgestanden ist!

            Wenigstens haben wir jetzt nicht auch noch diesen Alptraum von einem amerikanischen Präsidenten. Ein Hoffnungsleuchten am Horizont!

          3. ja. und darum fühle ich mich hin und her gerissen, was die sinnhaftigkeit der maßnahmen angeht. werden sie denn greifen? und was passiert nach dem lockdown, wenn das öffentliche leben wieder hochgefahren wird? werden dann nicht auch wieder die zahlen der corona-positven steigen? wie soll das alles weitergehen? wird ein impfstoff die rettung/erleichterung bringen?
            mir sind die aussagen der verantwortlichen politiker und auch der fachleute zu dünn und schwer verständlich. aber vielleicht bin ich auch einfach ein dummkopf.

          4. Naja, ich habe die Diskussion in Deutschland zu wenig genau verfolgt. Bei uns sieht man immer nur Frau Merkel, die das alles mit gewohnter Souveränität steuert. Aber dass auch dann viele Fragen aufkommen – völlig klar. Ich habe mich auch schon gefragt, wie das dann bei Euch an Weihnachten gehen soll. Spart man sich jetzt einfach die exponentielle Verbreitung des Virus für Weihnachten auf? Oder wird das nicht passieren, weil Deutschland bis dann das Virus fast besiegt hat? Und wie es bei uns sein wird? Das überlege ich mir lieber noch nicht so genau.

          5. nichts genaues weiß man nicht, froggie. hier wie anscheinend überall. das ergebnis: relativ blinder aktionismus von seiten der politik. man muss ja irgendwas machen. die verantwortlichen sind total überfordert – kann ich sogar verstehen.
            die politiker reden gern über verantwortung, aber wenn die kacke am dampfen ist, ducken sie sich weg. sehr menschlich.

  2. Es ist wirklich total schwierig mit den Sozialkontakten momentan. Ich bin schon froh, dass gerade keiner meiner Freunde nach einem Treffen fragt. Denn dann müsste ich mich ebenso mit diesen Überlegungen herumschlagen. Wenn wir uns trafen, dann sowieso eher nicht daheim, sondern in einem Gasthaus. Da das hier gerade nicht geht, bleibt jeder für sich. Die wenigen Male, die wir uns in diesem Jahr trafen, war es aber auch nicht Corona-konform, weil wir uns nämlich auch gedrückt haben, wie sonst immer.

    1. Ja, das Drücken! In meinem Umfeld ist es ja schwer verboten im Moment. Das kommt wohl daher, dass wir im Frühling keine Masken hatten und Abstand halten das oberste Gebot wurde. So kommt es, dass ich dieses Jahr ausser meinem Mann genau zwei Menschen umarmt habe: Meine Nicht Carina, als sie konfirmiert wurde (was mir eine gehobene Augenbraue von meinem Bruder einbrachte). Und meine ehemalige persische Deutschschülerin Ashana, die uns vor der zweiten Welle zum afghanischen Essen bei sich zu Hause einlud. Manche Freunde traf ich noch im Oktober statt zum Mittagessen im Restaurant zum Sandwich auf einer besonnten Parkbank. Ich muss wirklich vorsichtig sein, auch wenn mein Ohrenarzt findet, ich hätte keine Risiko-Krankheit. Zum Glück bin ich eh eher eine Eigenbrötlerin, es fällt mir nicht wahnsinnig schwer. Aber ich verstehe jene, für die das Alleinsein eine grosse Belastung ist.

  3. Ich fühle mit Dir, liebe Frau Frogg, auch wenn meine physischen Sozialkontakte mittlerweile auf meine wenigen ArbeitskollegInnen reduziert wurde. (Ein Fluch & Segen zugleich!)

    Was ich vermisse – und ich habe den Text mehrmals gelesen, ob ich es doch nicht übersehen hätte: Wo ist das Original von Deiner Übersetzung, dem Du zwei Sterne verliehen hast?

    Liebe Grüsse aus Wien!

    1. Huch, Sori, danke für den Hinweis! Du bist so eine genaue Leserin! Der zweite Satz ist in einem Streichkonzert untergegangen. Ich fand den Beitrag zu lang. Ich habe jetzt auch die Erläuterung bei den Sternchen gestrichen. Aber für Dich: Er sagte: „Das chasch im Fall nöd mache! Das isch nöd aschtändig!“ Er ist kein Freiburger, sondern ein Zürcher 😉

      1. Liebe Frau Frogg,

        ich lese Deine Beiträge doch sehr gern – haben wir beide auch etwas gemeinsam: Das andere Hören und meine Affinität zur Schweiz.
        (Ach, heute Abend wäre ich in den Nachtzug nach Zürich eingestiegen, aber eh schon wissen…)

        Daher merci vielmals für den gestrichenen Originalsatz!

  4. Da könnt ich auch kaum Nein sagen – das klingt nämlich noch zusätzlich herzerwärmend, wenn Du Dir im Zürcher Dialekt anhören darfst: „Mir wöi doch itz nid uffhöre lääbe“. Das geht unter die Haut.
    Ich bin schon so lange allein, aber ganz allein ja doch nicht. Das jedenfalls ist es nicht, worüber ich mich beklagen könnte.
    Ich wünsche Dir eine gesunde Zeit, und die Antworten zu den aktuellen Kommentaren in meinem Beitrag schreibe ich sehr wahrscheinlich in einem extra Beitrag sobald ich kann. Weil, ich glaub, Du wirst leider nach wie vor nicht darüber benachrichtigt. Ich muss ja auch bei Dir jedes Mal unterhalb was extra ausfüllen, wenn kommentiere und benachrichtigt werden möchte.
    Bussi! 😉

    1. Liebe Edith, es tut mir leid, dass das mit den Kommentaren nicht funktioniert. Ich schaue mal, ob ich selber dafür etwas tun kann. Ich bin technisch immer etwas überfordert mit Worpress. Ich wünsche Dir eine gute Zeit und gute Gesundheit!

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