In Luzern findet gerade das Lichtfestival Lilu statt, Leuchtkörper in allen Farben erhellen im Stadtzentrum ab 18 Uhr grossflächig die Nacht. Auch Herr T. und ich begaben uns gestern ins Getümmel. Ich freute mich darauf. Mir ersetzt so ein Augenschmaus ein Konzert. Überwältigendes Highlight war das riesige Tischtuch aus gelben und blauen Lichtmustern zwischen der Matthäuskirche und dem Hotel Schweizerhof. Es bedeckt alles rundum, Veloständer, Bäume und Hausfassaden und lässt die Besucherinnen und Besucher wie irrlichternde Tischdekorationen aussehen.
Wir kamen und taten, was wir in solchen Situationen immer tun: Wir fotografierten. Hastig, damit wir nichts verpassen. Alle anderen machen es auch so. Das Festival ist „very instagrammable“, und so ist es wohl auch gedacht. Es ist zugleich Vergnügen und Tourismuswerbung, die über die sozialen Medien in alle Welt hinausstrahlen soll.
Ich stehe da und fotografiere. Dann gehen wir wieder und dann denke ich an das, was Max Frisch (glaube ich jedenfalls) über Fotografien geschrieben hat: dass jede von ihnen uns an unsere Vergänglichkeit erinnern würde. Und plötzlich fühlt sich das alles, dieses Vergnügen und diese Fotografiererei sehr merkwürdig an. Ähnlich wie Arbeit, jedenfalls nicht wie Innehalten und den Moment auskosten, wie es sich ja eigentlich gehören würde. Nun ja, Max Frisch war ein Spielverderber ersten Ranges. Später suche ich das Zitat über die Vergänglichkeit, finde es aber nicht mehr, dafür ein anderes. Dort setzt er das Vergnügen gleich mit der Arbeit, die er zumeist als „überflüssig und lächerlich“ bezeichnet. Beides, Arbeit wie Vergnügen, seien „Ersatz für Freude“, „eine Industrie“. „Das Ganze mit dem Zweck, der Lebensangst beizukommen durch pausenlose Beschäftigung.“* Was er über die sozialen Medien geschrieben hätte – wir können es erahnen.
Ja, und dann wäre da noch die Pandemie. Das Spektakel findet zwar draussen statt, aber Abstand halten ist nicht überall möglich. Was gilt denn jetzt eigentlich? Niemand weiss es mehr. So stürzen wir uns ins Massenevent wie Lemminge in den Abgrund und fühlen uns von unserer Regierung komplett im Stich gelassen. Aber schön ist es.
* Max Frisch: „Tagebuch 1946-1949“, Suhrkamp Taschenbuch 1148, S. 64
Das lateinische Wort industria bedeutet eifrige Tätigkeit, Fleiss, Betriebsamkeit und de bzw. ex industria bedeuten absichtlich, vorsätzlich — Frischs Vergnügungsindustrie ist also eine mit Fleiss verbundene Betriebsamkeit mit dem Vorsatz, der Lebensangst beizukommen.
Na, Herr Kulturflaneur, da bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als die ganze Passage zu zitieren, was ich mit Fleiss (industria) und Vergnügen tun werde: „Geld, das Gespenstische, dass sich alle damit abfinden, obschon es ein Spuk ist, unwirklicher als alles, was wir dafür opfern. Dabei spürt fast jeder, dass das Ganze, was wir aus unseren Tagen machen, eine ungeheuerliche Schildbürgerei ist; zwei Drittel aller Arbeiten, die wir während eines menschlichen Daseins verrichten, sind überflüssig und also lächerlich, insofern sie auch noch mit ernster Miene vollbracht werden. Es ist Arbeit, die sich um sich selber dreht. Man kann das auch Verwaltung nennen, wenn man es sachlich nimmt. Tugend als Ersatz für die Freude. Der andere Ersatz, da die Tugend selten ausreicht, ist das Vergnügen, das ebenfalls eine Industrie ist, ebenfalls in den Kreislauf gehört. Das Ganze mit dem Zweck, der Lebensangst beizukommen durch pausenlose Beschäftigung, und das einzig Natürliche an diesem babylonischen Unterfangen, das wir Zivilisation nennen: dass es sich immer wieder rächt.“
Findet dieses Lichtfestival bei freiem Eintritt statt? (Ich denke schon, weil Stadtzentrum.)
So etwas ähnliches gibt es auf der ega in Erfurt, aber da der ega ein abgegrenzter Bereich ist und sich im Westen der Stadt befindet, muss Eintritt gelöhnt werden und es gilt 2G. Ich habe es Ende Dezember 2021 mit meinen Eltern genossen, die Kommunikation mit ihnen war aber teilweise anstrengend, weil es so finster war, so dass wir kaum unsere Gesichter sehen konnten. Dafür war es auf der Gastronomie-Insel hell genug und wir fragten uns, wie dort etwas geöffnet sein konnte, während der Erfurter Weihnachtsmarkt schon am 2. Tag zusperren musste.
Es ist, wie es ist. Lasst uns in diesem Wahnsinn (mal wieder) stark bleiben! Und solches Licht im Dunkel kann einfach nur gut tun.
Liebe Grüsse aus Wien!
Ja, freier Eintritt, und am Samstagabend ist da natürlich eine Völkerwanderung. Und Du hast recht: Bleiben wir stark und finden wir es schön!
Sag mal, darf ich mir eine Frage erlauben? Neulich hast Du erwähnt (wenn ich mich richtig erinnere), dass Deine Eltern gehörlos sind. Darf ich fragen, wie Du mit ihnen sprichst? Gebärden oder Lippenlesen? Ich möchte keine unangemessenen Fragen stellen. Antworte nur, wenn Du magst.
Ich finde nichts Unangemessenes in Deinen Fragen und beantworte sie gern. Ja, meine Eltern sind gehörlos und wir verständigen uns mittels Gebärdensprache. Aber da meine Kenntnisse mit der Zeit verblassen, bin ich auch auf das Lippenlesen bzw. auf die Mimik meiner Eltern angewiesen. (Wenn wir gebärden, bleiben unsere Münder nicht geschlossen, sondern wir bilden dazu lautlos Wörter mit unseren Lippen.)
Und das war im Dunkeln recht anstrengend. Ich erinnere mich auch, dass wir in Zeiten v. Cor. hellere Ecken bevorzugt hatten, wenn wir ein Restaurant besuchten. Diese Eigenart lebte ich auch mit meinen hörenden Begleiter:innen vor.
(Also, wenn mich jemand daten will, dann zerstöre ich gern die Hoffnung auf ein Candlelight-Dinner ;-))
🙂 Dasselbe bei mir, was die Candlelight-Dinners betrifft. Danke für Deine Schilderungen. Dass man beim Lippenlesen auf Licht angewiesen ist, war eine der ersten Lektionen, die ich als Jungschwerhörige lernen musste. Heute lache ich darüber, es ist ja irgendwie selbstverständlich. Aber man vergisst es halt.
Mein Mann hat mir immer gelobt, dass wir zusammen die Gebärdensprache lernen werden, wenn ich einmal ertaubt bin. Aber eines Tages hat er zwei Personen im Schwimmbad gebärden sehen, und danach hat er zu mir gesagt: „Huch! Man muss einander anschauen beim Gebärden! Nein, das lerne ich auf keinen Fall!“
Ist Gebärdensprache quasi Deine Muttersprache? Hast Du die als erstes gelernt?
Das Argument Deines Mannes bezüglich Anschauen finde ich etwas befremdlich. Ich finde, es gehört einfach zum guten Ton, wenn mensch sich beim Sprechen anschaut, es sei denn, ein klassisches Telefongespräch ist dazwischen.
Puh, das liegt schon lange zurück. Als meine Eltern mitbekamen, dass ich „nur“ schwerhörig bin, haben sie sich bemüht, mir das Sprechen beizubringen. (Arme Eltern!) Gleichzeitig wurde ich im Kindergarten von Sprachpädagogen auf das richtige Sprechen gedrillt.
Aber an der Gebärdensprache kam ich natürlich nicht vorbei, sie wurde vertieft, als ich anderen Gehörlosen begegnete, zu denen mich meine Eltern mitnahmen. (Vereinstreffen, Ausflüge und mehrtägige Kurzaufenthalte in anderen Städten.)
Jahrelang schwankte ich zwischen den beiden Sprachen. Seit meiner Übersiedlung nach Österreich habe ich nach und nach den Kontakt zu den Gehörlosen verloren und heute beherrsche ich die Deutsche Gebärdensprache nicht mehr so gut wie vor 20 Jahren.
Ja, ich fand das damals auch etwas befremdlich von meinem Mann. Aber er hat inzwischen dazugelernt. Nur manchmal muss ich ihm am Morgen noch sagen: „Hey, sprich zu mir, nicht zur Kaffeemaschine!“ Normalerweise kommen wir aber ganz gut zurecht, auch dank guter Hörgerätetechnik. Daher hat sich für mich die Frage, ob ich Gebärdensprache lernen soll, gar nie gestellt.
Aber Du bist – oder warst – ja dann eine Grenzgängerin zwischen zwei Welten! Das ist manchmal bestimmt sehr anstrengend und vielleicht auch einsam, stelle ich mir vor.
Komischerweise hatte ich mich damals nicht einsam gefühlt, aber vielleicht… orientierungslos?
Nachdem ich mich für die vorherrschende Sprache, der Lautspreche, entschieden habe, gewöhne ich mich an meine Vereinzelung, weil ich die Menschen lautsprachlich oft nicht verstehe. Schon vorher entwickelte ich eine leichte Misanthropie und sie wird durch die Pandemie verstärkt.
So what… es ist halt so. Ich wünsche Euch noch einen schönen Abend und ich freue mich, wieder von Dir zu lesen.
Ja, das stimmt. Danke Dir und eine gute Woche.
Eine Reflexion über »die Fotografie, welche uns die Vergänglichkeit unseres Lebens vor Augen führt«, wie Sie Max Frisch zuschreiben, findet sich auch in diesem Text von Lisa Lemken.
Danke, Herr nömix! Ja, die Idee der Vergänglichkeit liegt bei der Photographie eigentlich nahe und ist sicher auch schon anderen gekommen. Eine sehr paradoxe Tätigkeit, das Fotografieren: Wir tun es, um den Augenblick dem Vergessen zu entreissen. Und sind dabei eigentlich gar nicht richtig im Augenblick, weil wir ja mit grosser Hektik seine ästhetische Verarbeitung planen müssen.
Das sieht ja wirklich interessant aus. Tolle Aktion. Ansonsten halte ich es beim Gang in die Öffentlichkeit so, wenn die Massen sich knubbeln, trage ich Maske. Sonst fühle ich mich unwohl. Egal, was die Regierung gerade rät. Ich lasse mir das Maskentragen nicht verbieten. 😉
„Ich lasse mir das Maskentragen nicht verbieten!“ Schön gesagt. Ich bin letzthin sehr unfein von einem Passanten angegangen worden, weil ich die Maske schon übergezogen hatte, bevor ich die Strasse überquerte, um dort in den Bus zu steigen. Ich habe es selbst gar nicht mitbekommen (weil nicht verstanden), aber mein Mann hat es mir erklärt. Der arme Jüngling f¨ühlte sich in seiner Freiheit eingeschränkt, weil ich mich auf der Strasse erfrechte, eine Maske zu tragen. Ich habe mich nachher richtig gefreut darüber, dass ich einen solchen Deppen mit einer so mühelosen Handlung ein bisschen belästigen konnte.
Unglaublich. Also das ist mir noch nie passiert. Ich hatte den Spruch auch eher spaßig gemeint…
Jaja, auch so verstanden! Aber die Anekdote mit dem bedepperten Maskengegner konnte ich mir dann doch nicht verkneifen 🙂