Man sagt, viele Schwerhörige würden zu besonderem Misstrauen ihren Mitmenschen gegenüber neigen. Wenn sie etwas missverstünden, würden sie immer gleich das Negativste über den Sprecher oder sich selbst denken. In älteren Texten ist sogar von einem Hang zur Paranoia die Rede. Bis vor wenigen Tagen war ich überzeugt, dass das bei nicht so sei. Ich habe mich aus familiären Gründen schon als Teenager mit dem Phänomen Verfolgungswahn (ohne Schwerhörigkeit) auseinandersetzen müssen. Damals legte ich für mich eine Lebensmaxime fest: „Wenn Du nicht mit Sicherheit weisst, ob jemand etwas Fieses zu Dir oder über Dich gesagt hat, dann stellst Du am besten gar keine Vermutungen an.“ Bis jetzt habe ich das leidlich durchgehalten.
Am letzten Sonntag bin ich gänzlich unerwartet gescheitert.
Es passierte auf einem Spaziergang mit Herrn T. auf einem etwa zwei Meter breiten Weg am Stadtrand. Wegen meiner Instagramsucht musste ich einen kurzen Fotostop einlegen. So holte ein junger Papa mit zwei quengeligen Kindern hinter uns auf. Ich hörte ihn noch entnervt sagen: „Nein, Alma, hör jetzt auf damit!“ Dann näherte sich pfeilschnell eines der Kinder auf einem Likeabike. „Tsiite!“ sagte das Kind mit verkniffenen Lippen, und wir wichen gehorsam aus. „Tsiite!“ ist Schweizerdeutsche Kurzform für: „He, zur Seite, aber dalli!“ „Tsiite!“ sagten wir als Kinder, wenn wir jemandem auf respektlose Art mitteilen wollten, dass er oder sie uns im Wege war.
„Was für ein ungezogener Goof!*“ dachte ich.
Schon nach zehn Metern hielt die Kleine an. Es handelte sich um ein vielleicht vierjähriges Mädchen mit langem, honigblondem Haar, wahrscheinlich jene Alma, die kurz zuvor von ihrem Vater aus der Contenance gebracht hatte. Vor uns lag die Durchgangsstrasse. Das Kind wollte sie wohl nicht ohne den Papa überqueren, der mit seinem zweiten Kind im Wägeli immer noch hinter uns ging. Als wir an der Kleinen vorbeigingen, musterten wir einander. Sie hatte ein zum Erbarmen bekümmertes Gesicht, der Eklat mit ihrem Vater ging ihr wahrscheinlich nahe. Sie sah überhaupt nicht ungezogen aus. Ich wollte jetzt mehr wissen. Kaum konnte ich davon ausgehen, dass wir ausser Hörweite waren, fragte ich Herrn T.: „Du, hat die Kleine wirklich „tsiite“ gesagt?“
Herr T. schaute mich verwundert an. „Nein“, sagte er, „sie hat ganz einfach ‚grüzei‘ gesagt.“
Es brach mir fast das Herz, dass ich sie nicht zurückgegrüsst hatte.
* „Goof“, ist ein despektierliches schweizerdeutsches Wort für Kinder, „Saugoof“ die Steigerung.
Zum ersten Absatz: Doch, doch, das kann ich von Herzen bestätigen.
Das ist bei mir losgegangen, als ich das Kokon (Kindergarten/Volksschule) der Hörbeeinträchtigten verlassen habe und auf eine Schule für Guthörende gegangen bin.
Dieser Schaden sitzt für immer.
Umso mehr fühle ich mit dir, wenn das Misstrauen dann doch umsonst war… aber es bleibt einfach picken.
Ja, das verstehe ich. Ich hatte eine hörende Kindheit und war ein naives Gemüt. Aber jetzt, wo ich beim Verstehen von Sprache auch sehr auf die Interpretation von Gesichtszügen angewiesen bin, nimmt das Misstrauen eigentlich eher zu. Sehr merkwürdig, nicht? Es hat wohl nicht nur damit zu tun, dass viele Leute ein böses Gesicht machen – sondern auch damit, dass wir schlechte Erfahrungen gemacht haben. In meinem Fall auch damit, dass ich nicht mehr so selbstbewusst bin wie früher. Dafür gelassener (jedenfalls manchmal).
Ja, ist schnell passiert, so ein Missverständnis. Auch ganz ohne Schwerhörigkeit. „Goof“ hört sich ja drollig an.