Amor an der Bushaltestelle

Wenn ich im Moment überhaupt Bus fahre, warte ich oft an der grossen Bushaltestelle am Schwanenplatz. Dann sehe ich auf der anderen Strassenseite ein repräsentatives, sechsstöckiges Bauwerk aus dem vorletzten Jahrhundert. Es ist Heimat eines 170-jährigen Uhren- und Schmuckladens, der vor der Coronakrise sein Geschäft mit kostspieligen Souvenirs für Touristen aus aller Welt machte. Immer geht mein Blick zuerst zur Spitze des Gebäudes, zum kleinen Amor im Türmchen. Ich muss wissen, ob er noch steht, mit dem Rücken zum Abgrund, Sekundenbruchteile vom Sturz entfernt seit Jahrzehnten. Ob er noch um sein Gleichgewicht ringt. Ob die Girlanden noch halten, an denen er sich festhält. Ob noch immer das Lächeln eines ins Spiel versunkenen Kindes seine Lippen umspielt.

Er steht.

Ich mag ihn. Vielleicht, weil mir manchmal selbst schwindlig ist. Vielleicht wegen seines Lächelns. Ich weiss: Wenn er stürzt, werden ihm Flügel wachsen. Auch wenn wir sie jetzt noch nicht sehen.