Nachdem ich meinen letzten Post abgesetzt hatte, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich meine: Es war der 7. Oktober, die Welt gedachte der Anschläge der Hamas in Israel 2022 und ich hatte kein Wort darüber verloren. Als wäre es mir egal. Aber es ist mir nicht egal. Ich möchte weinen, wenn ich an die Opfer denke. Was sind das für Bestien, die unschuldige Zivilistinnen und Zivilisten töten oder als Geiseln verschleppen?
Ich bin nur nicht sicher, was ich schreiben soll. Obwohl die Lage im Nahen Osten ein Thema ist, seit ich mich erinnern kann. Zu Hause lief bei uns den ganzen Tag Schweizer Radio, stündlich die Nachrichten. Täglich hörte ich schon als Fünfjährige am Radio das Wort „Telawiif“ und wusste lange nicht, was es bedeutete. Erst mit der Zeit lernte ich, dass aus Tel Aviv die News über die Lage im Nahen Osten kamen. Tel Aviv, das hiess Kämpfe, Todesopfer, hastige Beschwichtigungsreisen von US-Aussenministern und UNO-Generalsekretären.
Beiläufig lernte ich das Wesentliche über Auschwitz. Mir zerstörte dieses Wissen jeden Ansatz eines kindlichen Gottvertrauens. Wenn Gott Auschwitz zugelassen hatte, dann war Gott böse, oder es gibt ihn nicht. Ich wuchs in einer katholischen Gegend auf, es gibt hier einen tief sitzenden Antisemitismus, der auch Israel trifft. Vor allem Israel. Damit wollte ich nie etwas zu tun haben. Wohin es führt, wenn man pauschal gegen bestimmte Gruppen von Menschen ist, hatten wir ja gesehen. Die Israelis haben ein Recht auf ihren Staat. Aber ich sah mich gerne auf der Seite der Unterdrückten, Benachteiligten. Im Nahost-Konflikt sollte ich alle paar Jahre die Seiten wechseln.
In der Schule lernten wir: Nach dem Horror von Auschwitz gab die UNO den Zionisten ein paar Territorien für einen eigenen Staat in Palästina. Die arabischen Staaten rundum bekämpften die Israelis, aber diesen gelang es, ihre Territorien auszudehnen. Die Palästinenser kamen unter die Räder. Ich begab mich auf die Seite der Palästinenser. Als Teenager besass ich sogar eines dieser rotweiss gemusterten Tücher.
1986 flog ich nach Tel Aviv. Ich war 21. Mein damaliger Freund studierte in Jerusalem Theologie. Ich hatte einen Wecker und ein Büchlein von Noam Chomsky im Gepäck, einem harten Kritiker der US-Politik im Nahen Osten (auch noch viele Jahre später, siehe hier). Als ich ankam, schenkte mein Freund mir eine Kerze. Drei Wochen später wollten wir in Haifa mit dem Schiff ausreisen. Die Zollbeamten sahen die Kerze, den Wecker und das Büchlein von Noam Chomsky. Sie nahmen meinen Koffer mit und blieben so lange weg, dass wir das Schiff erst im allerletzten Moment und mit zittrigen Knien besteigen konnten. War es eine Machtdemonstration oder hatten sie wirklich Angst?
Ich war vage pro-palästinensisch, bis ein Kollege aus Tel Aviv bei uns im Büro zu Besuch war. Er war nach der Pensionierung ausgewandert. Das war nach 9/11. In Israel hatten Palästinenserinnen und Palästinenser begonnen, Sprengstoffgürtel an ihren Leib zu kleben und sich in Jerusalem oder Haifa in die Luft zu jagen. Mein Kollege erzählte, wie er in Tel Aviv jedes Mal voller Angst aus dem Bus floh, wenn ein arabisch aussehender Mensch mit einer dicken Jacke einstieg. Ich dachte: Die Palästinenser tun aber auch alles, um ein friedliches Zusammenleben in der Region zu verunmöglichen. Selbstsabotage. Wie war Friede möglich, wenn der gute Wille auf beiden Seiten so zweifelhaft schien? „Es ist kompliziert“, sagte ich einmal. „Wenn ich noch lange darüber nachdenke, werde ich wahnsinnig.“
Nach dem 7. Oktober 2022 war ich fest auf der Seite der Israelis. Dann kam die Rache im Gaza-Streifen. Jetzt die Eskalation im Südlibanon. Und allmählich fürchte ich, dass es vollkommen sinnlos ist, auf einer Seite zu stehen. Man kann nur das Beste hoffen für jene, die jetzt unschuldig unter die Räder kommen.