Am Tor von London

Die Bahnhofhalle von Charing Cross (Quelle: ianvisits.co.uk)

In der Bahnhofhalle von Charing Cross gibt es irgendwo ein blaues Täfelchen. Ihr wisst schon: ein Schildchen, wie sie an Häusern hängen, in denen früher jemand Bedeutendes gewohnt hat. Auf dem Schildchen steht: „Frau Frogg durchquerte diesen Bahnhof zwischen August 1985 und Juli 1986 ungefähr einmal pro Woche, meistens montags.“ Natürlich ist es ein virtuelles Täfelchen, nur ich kann es sehen. Aber es ist wahr, dass ich hier zu jener Zeit meist am Montag aus einem Zug stieg und die Stadt London betrat – und für mich war das bedeutend. Denn meine damals im Grunde sehr vagen Träume spielten sich alle in London ab – um sie ihrer Verwirklichung näherzubringen, kam ich an meinem freien Tag jeweils nach London. Ich arbeitete in einem Kinderheim südlich von Tunbridge Wells, etwas mehr als eine Zugstunde von London entfernt.

Wahrscheinlich schweben unter der Decke der Bahnhofhalle von Charing Cross Millionen solcher Schildchen. Denn Charing Cross ist ein grosser Pendlerbahnhof, allein im Jahr 2013 benutzten ihn 38,6 Millionen Menschen (sagt Wikipedia). Für Tausende jährlich muss der Gang durch diesen Bahnhof so bedeutend sein oder gewesen sein wie für mich damals – oder bedeutender, denn einige werden ihre Träume tatsächlich in London verwirklicht haben. Man muss sich diesen schwebenden Schildchenwald über den Köpfen der durchmarschierenden Zugpassagiere vorstellen wie die Kulisse eine Harry Potter-Films.

Manchmal kamen wir zu zweit oder zu dritt aus dem Heim im Süden, junge Frauen um die zwanzig, aus Deutschland oder Dänemark. Dann gingen wir zuerst in die Hamburger-Bude auf der Ostseite der Bahnhofhalle. Der Laden gehörte zu einer Kette, ich erinnere mich gut an das rötlichgelbe Logo, das immer etwas fettig aussah. Wir kauften dort je einen billigen Cheeseburger mit Rindfleisch. So bewiesen wir einander, dass wir auf die Essensregeln im Heim pfiffen. Dieses war anthroposophisch, es gab dort wenig Fleisch und wenn, dann Hühnchen. Rinderwahnsinn war ein grosses Thema, aber wir glaubten, das gehe uns nichts an.

Überhaupt kann ich in der Erinnerung schon diese Bahnhofhalle kaum verlassen. Abends standen dort oft zahllose Menschen, mehrheitlich Männer in Anzügen, und blickten mit gefassten Mienen alle in dieselbe Richtung: auf die elektronisch gesteuerten Tafel, auf der alle Züge und ihre Abfahrtszeiten standen. Sie warteten, bis auf dem Schild die Zahl des Gleises erschien, auf dem ihr Zug fuhr. Manchmal dauerte das mehrere Minuten. Dann gingen sie los und stiegen ein. Ich fand das sehr exotisch, denn bei uns steht kaum jemand einfach da und starrt so eine Zugsabfahrtstafel an. Ein paarmal habe ich es damals auch versucht – ich wollte wissen, ob ich so sein könnte wie die Menschen hier. Aber mir fehlte dafür die Disziplin. Ich streifte statt dessen ein bisschen herum und machte einen Rundgang in der Buchhandlung.

Aber wenn ich jetzt wieder hingehe, mit Herrn T. und der Jungmannschaft, dann werden wir nicht zu lange in der Bahnhofhalle verweilen, sondern hinaus auf den Vorplatz gehen. Denn dort steht ein Türmchen, das objektiv betrachtet das Zentrum von London ist oder wenigstens war.

2 Gedanken zu „Am Tor von London“

  1. Da geht es ja schon beim Bahnhof an! 😃 ich dachte bei deinem letzten Eintrag, du meintest bei Charing Cross tatsächlich die Säule! Die habe ich so richtig übrigens auch erst vor wenigen Jahren wahrgenommen.“Mein“ Bahnhof ist Kings Cross, ich fuhr immer am Wochenende aus dem Norden in die Stadt rein. Da gibt es ja auch tatsächlich das Memorial für Harry Potter. Vielleicht ist das auch was Touristisch interessantes für die Kids/Youngsters? das mit dem Essen ist auch interessant! Hast du in dem Heim gearbeitet? Dann hätten wir eine weitere Parallele, denn ich war im Internat tätig. Dort war das Essen allerdings sehr gut. Die Warterei auf das Bahngleis fand ich ähnlich bizarr wie du 😃

  2. Oh, dann gibt es tatsächlich in unserem Leben eine ganze Reihe von Parallelen. Fast hoffe ich, dass wir einmal in einem intimeren Rahmen darüber plaudern könnten. Am Gleis 9 3/4 war ich selbst schon mit meinem Mann, vor einigen Jahren. Sicher werden wir dorthin gehen, Tim hat sich das auch schon gewünscht. Man zahlt jetzt 12 Pfund, um sich die Stelle anzusehen, habe ich gelesen. Wenn man auch noch einen Time-Slot buchen muss, dann bin ich wohl weg.

    Ich empfand diese Leute, die da standen, nicht als bizarr – eher wie ein Symptom der englischen Exzentrik, genauso, wie das disziplinierte Schlangestehen, das wir bei uns auch nicht kennen. Die Weisheit des disziplinierten Schlangestehens verstand ich aber sehr schnell. Da steckt sehr viel Gemeinsinn darin, und man kann damit eine Menge Stress vermeiden. Ich könnte mir vorstellen, dass die Leute aus demselben Grund einfach so dastehen, um mehr Gedränge zu vermeiden.

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