Wenn Gespräche auf Donald Trump kommen, fühlte ich mich in letzter Zeit merkwürdig an die Pandemie erinnert. Ich höre Sätze, die klingen wie damals, als viele sagten: „Ach, das ist nur eine Grippe, das hatten wir doch auch schon!“ Der schmerzliche Unterschied ist: Damals kamen solche Sätze von Leuten, von deren Urteil ich eh wenig hielt. Jetzt kommen sie zum Teil von Freunden, vor deren Meinung ich jahrzehntelang grossen Respekt hatte. Sie sagen: „Donald Trump? Ach Gott, früher war es doch auch schlimm! Da hatten wir den Kalten Krieg und dann den Neoliberalismus.“ Hä?! Oder: „Ach, Du hast doch zu viel doomgescrollt!“ Nein, mein Lieber, ich habe nicht zu viel doomgescrollt. Ich habe mir einen erheblichen Wissenvorsprung verschafft, während Du Krimis geguckt hast!
Dennoch bin ich nicht ganz sicher, ob nicht doch ich in diesen Diskussionen die Querdenkerin bin. Ich war jedenfalls fast so unglücklich über die Schweizer Berichterstattung zu den US-Wahlen wie seinerzeit die Covidskeptiker bei ihrem Thema. Ich fand unsere Medien verharmlosend, weichgespült oder dann schockierend weit rechts. Das alles wäre einfacher zu ertragen gewesen, wenn ich knapp hätte artikulieren können, was ich an all dem so unerträglich finde.
Letzten Samstag las ich dann in der Republik die Samstagskolumne von Daniel Binswanger zur kommenden Trump-Ära, hier der Link. Sein Fazit: „Die US-Demokratie führt gerade mit krudestmöglicher Deutlichkeit vor Augen, dass auf die politischen Mechanismen zur Herstellung von sozialem Ausgleich und minimalster gesellschaftlicher Solidarität überhaupt kein Verlass mehr ist.“ Er findet Worte für genau das, was mich seit Wochen umtreibt. Ich atme erleichtert auf und witzle: „Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor mir der Binswanger sagt, wie man es in Worte fasst?!“ Der Polit-Kolumnist der „Republik“ sagt übrigens auch, was das für Europa bedeutet und ob wir in der Schweiz noch Hoffnung haben können. Sehr zur Lektüre empfohlen.
Obwohl ich den Begriff „doomscrollen“ noch nie gehört hatte, hatte ich die Bedeutung intuitiv richtig eingeordnet = Doomscrolling heißt dieses Verhalten, bei dem Menschen fast zwanghaft negative Nachrichten lesen, obwohl es ihnen nicht guttut.
Ich hatte an anderer Stelle ja schon mal geschrieben, dass im Endeffekt jeder Einzelne prüfen muss, inwieweit eine konkrete politische Entscheidung ihm selber nützt oder schadet.
Die Frage ist also: „Welche Auswirkungen hat es für mich persönlich ganz konkret, wenn Trump dieses und jenes macht?“
Für den amerikanischen Otto-Normalbürger erscheinen mir die langfristigen Auswirkungen trotz „America first“ nicht besonders rosig, weswegen mich umso mehr wundert, dass die Mehrheit ihn gewählt hat.
Wahrscheinlich glauben die meisten Menschen (nicht nur in USA), dass es ihnen persönlich unter einem starken / harten Führer besser gehen wird, was den Rechtsruck in vielen Ländern erklären würde.
Zum Beispiel bedeutet die in dem Binswanger-Artikel angesprochene Xenophobie (Fremdenhass) „Ich selber bin gar nicht davon betroffen“ – also wird sie akzeptiert. Und bei Sozialleistungen kommt es darauf an, inwieweit man selber persönlich davon „profitiert“; wenn sie abgebaut werden, trifft es eventuell (auch langfristig) nur die Anderen.
Ist es verwerflich, gegen seine eigenen persönlichen Interessen zu handeln?
Politische Interessen sind generell kontrovers, weil jeder Mensch auf jedem einzelnen Gebiet in einer anderen Situation ist.
Lieber Rabi, danke für Deine Überlegungen, die ich bei vielen Punkten teile. Es gibt aber einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Dir und mir: Ich betrachte meinen persönlichen Eigennutz nicht als alleiniges Kriterium für eine politische Entscheidung. Für mich zählt auch und meist in erster Linie das Wohl der Allgemeinheit. Wir leben ja nicht alleine auf dem Planeten, und es ist im Prinzip mal Aufgabe des Staates, das Wohlergehen aller seiner Einwohnerinnen und Einwohner sicherzustellen. Deshalb haben demokratische Staaten eine Verfassung, die Aufgaben und Grenzen staatlichen Handelns festlegen.
Bei Wahlkandidaten, die sich zu den Grundregeln staatlichen Handelns bekennen, halte ich es für unproblematisch, bei einer Wahl den grössten eigenen Nutzen in den Vordergrund zu stellen. Donald Trump war jedoch kein solcher Kandidat. Er hat am 6. Januar 2021 den Sturm auf das Capitol führend mit orchestriert und damit ziemlich sicher aktiv die meines Wissens verfassungsrechtlich korrekt zustande gekommenene Amtseinsetzung von Joe Biden zu verhindern versucht. Er wird sich dafür nun nicht vor Gericht verantworten müssen, was ich für ein riesiges Versagen der US-Gerichtbarkeit halte. Allein das löst bei mir spürbares Unbehagen und Angst aus (denn es ist in einem Staat passiert, der enormen Einfluss auf unser wirtschaftliches und politisches Wohlergehen hat). Das ist eine konkrete Auswirkung von Donald Trumps Wahl auf meinen Körper. Das als Ergänzung zu den Ausführungen von Daniel Binswanger. Und jetzt muss ich wohl aufhören damit, sonst fange ich gegen meine erklärten Absichten wieder an, über Donald Trump zu diskutieren 🙂
Hier noch ein Link mit Infos dazu:
https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/usa-trump-anklage-104.html
Ich kann durchaus nachvollziehen, wenn das Wohl der Allgemeinheit für dich wichtig ist.
Aber was heißt „Allgemeinheit“, und wer ist das ganz konkret? Immerhin gibt es mehr als acht Milliarden Menschen auf diesem Planeten, von denen etwa ein Prozent (Multi-)Millionäre sind. Einem Drittel geht es richtig dreckig, weil sie zu einer „falschen“ Zeit in ein „falsches“ Land hineingeboren wurden. Vielleicht waren sie aber auch zur richtigen Zeit im richtigen Land, und haben „persönliche-falsche“ Entscheidungen getroffen. Wieso gibt es in der Schweiz und vor allem in Deutschland soooo viele Menschen, die nicht aus eigener Kraft überleben könnten?
War das „früher“ alles besser??? In meiner Kindheit habe ich nie Menschen auf dem Bürgersteig betteln gesehen. – Ich kann nicht einmal sagen, was ich „richtig“ gemacht habe, dass ich mit 47 den Job aufgeben konnte – ich hatte keine reichen Eltern, und erst recht keine reichen Großeltern. Das waren alles einfache Arbeiter (Es wird ja behauptet, dass man in Deutschland erst nach sechs Generationen in eine höhere Klasse aufsteigen könne).
Politik kann / muss zwar die entsprechenden Rahmenbedingen schaffen, aber ich habe den Eindruck, dass sich zu viele Menschen auf die Politik verlassen und / oder von ihr erwarten, dass sie ihre persönlich-individuellen Probleme löst.
Ich selber bin immer am besten gefahren, mich aus Politik rauszuhalten, obwohl ich natürlich wieder Jeder andere auch von Steueränderungen, Soli (den alle Deutschen bezahen müssen), Höhe der Krankenkassenbeiträge, Rundfunkgebühren etc. betroffen bin.
Ja, gute Frage, wer konkret ist die Allgemeinheit? Ich denke, im politischen Sinne sind das erst mal die Einwohnerinnen und Einwohner meines Staates. Hier können wir ja mit Wahlen (und in der Schweiz mit vierteljährlichen Abstimmungen) einen minimalen Einfluss nehmen. In Deutschland spielt dann ja auch noch die Mitgliedschaft in der EU eine Rolle. Die Wirtschaftspolitik die mein Staat mit anderen macht, delegiere ich zumeist an „meine“ Volksvertreter (mit denen ich auch nicht immer zufrieden bin).
Dass es vielen auf der Welt so schlecht geht, ist in der Tat bedauerlich und kann auch schockierend sein, wenn man dann die Verhältnisse dort und bei uns mit eigenen Augen vergleichen kann. Was tun? Ich weiss es auch nicht. Ein Bekannter von mir in Russland, mit dem ich vor Jahren über dieses Thema sprach, sagte: „Ja, alles ist eine Frage des Zufalls. Wer am richtigen Ort geboren wird, hat Glück gehabt. Das ist alles.“
Was ich am politischen System der Schweiz richtig gut finde, das sind die vierteljährlichen Abstimmungen über ganz konkrete Fragen.
Miesepetrige Kritiker meinen zwar, dass es dabei zu „populistischen“ Ergebnissen käme. Aber was heißt denn „populistisch“? Oft wird dieser Ausdruck von Linken benutzt, wenn sie gegen die Ansichten und Meinungen von Rechten sind.
Aber warum soll das „populistische“ Volk nur über die Zusammensetzung des Parlamentes entscheiden, und nicht auch über einzelne ganz konkrete Maßnahmen? Das Argument lautet ja oft, dass Poliker schlauer seien als die Mehrheit ihres Volkes und deshalb bessere Entscheidungen treffen würden. Aber stimmt das wirklich?
Seit Tagen hirne ich nun an einer Antwort auf diesen Kommentar herum. Es will mir einfach nichts Kurzes einfallen dazu, denn fast jede Abstimmung ist anders, und bei uns wird in der Politik manchmal über Wochen über fast nichts anderes diskutiert. Die einen Vorlagen gehen schlank durch, über die anderen wird monatelang lautstark gestritten.
Insgesamt halte ich sie für ein gutes Instrument, die Leute akzeptieren in der Regel klaglos das Ergebnis, es gab schon Fälle, wo so eine Abstimmung das Zusammenleben massiv entspannt hat, etwa in der Pandemie. Selbstverständlich gibt es populistische Resultate, wenn man „populistisch“ als „das Volk gegen die Regierung“ definiert. Das kann dann auch mal Jahre parlamentarische Arbeit zunichte machen.
Da ich erst jetzt aus dem Kurzurlaub zurück bin, lese ich jetzt erst deine Antwort.
Es scheint wirklich schwierig zu sein, KURZ zu sagen, ob „Experten“ bessere Entscheidungen treffen als das Volk (vor allem: wer darf sich „Experte“ nennen?).
In der Pandemie hatte ich durchaus mehr Vertrauen in die Entscheidungen von professionellen Biologen und Virologen als von Verschwörungstheoretikern. Grund: ob Abstandhalten, Masken und Impfen nützen, kann grundätzlich keine ideologische Glaubenssache sein.
Bei anderen Entscheidungen und Themen dagegen kann man durchaus unterschiedlicher Meinung sein, weil es kein grundsätzliches Richtig oder Falsch gibt. In solchen Fällen könnte durchaus die Mehrheit des Volkes entscheiden. Vielleicht würden die Menschen unliebsame Entscheidungen dann auch leichter akzeptieren, als wenn sie „von oben“ kommen.
Nun ja, bei der Volksabstimmung ist in der Schweiz dann halt der Moment, wo Du als Stimmbürger entscheiden kannst, ob Du Dein Eigeninteresse in den Vordergrund stellst oder das Allgemeinwohl. Bei solchen Abstimmungen obsiegten in der Geschichte bemerkenswert oft jene, die das Allgemeinwohl in den Mittelpunkt stellten, das heisst: Ich erwarte möglichst wenig vom Staat (wobei das kaschiertes Eigeninteresse ist, denn je weniger der Staat tut, desto tiefer sind die Steuern). Im ablaufenden Jahr passierte etwas Aussergewöhnliches: Die Stimmbevölkerung sprach sich im Februar für eine 13. Altersrente aus (es gibt im Moment noch 12). Die Kommentatoren trauten ihren Augen nicht. Zum ersten Mal habe das Stimmvolk egoistisch entschieden, lasen wir da.
Ich finde weniger das Ergebnis der 13. Altersrente erstaunlich, sondern finde es bemerkenswert, dass man sogar über Dinge abstimmen darf, bei denen egoistische Motive eine Rolle spielen können.
Hier in Bremen gab es vor einigen Jahren eine Volksabstimmung darüber, ob das Parlament alle vier oder alle fünf Jahre gewählt werden soll. Vorher gab es eine Diskussion/Aufklärung, was die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Wahlperioden sind.
Bremen ist das EINZIGE Bundesland, wo die Menschen alle 4 Jahre wählen wollen: https://www.tagesschau.de/wahlarchiv/wahltermine
Danke für den Link, Rabi. Das ist spannend. Nur alle fünf Jahre und keine Referenden? Kein Wunder, dass die Deutschen manchmal das Gefühl haben, sie hätten wenig Mitsprachemöglichkeiten. Bei uns sind Wahlen auf allen Ebenen alle vier Jahre.