Wie ich eine Frau wurde

Als ich „Das Unbehagen der Geschlechter“ von Judith Butler zum ersten Mal las, durchquerte ich das Buch so eilig wie man einen Bahnhof im Umbau durchquert, Wände voller Gerüste, Räume voller Lärm. „Das feministische ‚Wir‘ ist stets nur eine phantasmatische Konstruktion“, schreibt Butler (S. 209). Aha. Mir hatte der Feminismus nicht nur ein „Wir“, sondern sogar ein Ich geschenkt. Ich erklärte Butler zum Nicht-Ort der feministischen Auseinandersetzung, eilte zum nächsten Zug und fuhr woanders hin. Aber seit ein paar Jahren ist dieser Bahnhof ein fertig ausgebauter Verkehrsknotenpunkt der Gender-Debatte. Daher hielt ich diesmal inne und betrachtete Fassaden, Stützpfeiler und Fahrpläne genau.

Ich sah mir Butler’s These an, dass der herrschende Diskurs das Körper zu Männern und Frauen formt, und dass es mehr als zwei Geschlechter und ein frei schwebendes Begehren geben könnte. Ob es das biologische Geschlecht in Wirklichkeit gibt oder nicht – Butler schreibt sich um diese Frage herum, egal, was sie später behauptete (siehe zum Beispiel hier). Sie interessierte sich für den „herrschenden Diskurs“ und jene, die in irgendeiner Form von der Binarität abwichen. Das hatte und hat seine Berechtigung. Aber ist das ein feministischer Ort? Nicht unbedingt.

Dennoch liess ich im Namen der Gender-Debatte die Szenen meiner eigenen Frauwerdung Revue passieren, die himmlischen und die hässlichen. Ja, es gab hässliche Szenen. Ich muss es deutlich sagen: Teenager Frogg hatte eine Phase der Genderdysphorie. Als ich zwölf war, schleppten meine Mutter und meine Grossmutter mich und meine schmerzenden Brüste in den Lingerie-Laden und zwangen mir den ersten Büstenhalter auf den Leib. „Hör auf zu jammern, Du hast ja einen Busen wie einen überhängenden Balkon! Glaub mir, Du wirst Dich so an  den BH gewöhnen, dass Du bald nicht mehr ohne kannst“, sagte meine Mutter. Als ob mich das davon hätte überzeugen können, dass ich so ein Gstältli* brauchte. Und das war nur das, was sich an der Oberfläche abspielte.

Aber damals sagte man nicht: „Genug! Ich bin ab jetzt ein Junge und kein Mädchen. Die Brüste müssen weg!“ Ich gewöhnte mich an den Büstenhalter und basta. Damit will ich mich nicht zum Opfer stilisieren. Auch die Mannwerdung war vor 40 Jahren Jahren kein Zuckerschlecken, mit 20 mussten sie alle ins Militär. Und was Lesben und Schwule damals durchmachten, war mitunter schwierig, das habe ich in meinem Bekanntenkreis mitbekommen. Auch wenn es allmählich leichter wurde, offen homosexuell zu leben. Ungefähr 2002 begegnete ich erstmals einer Trans-Frau. Trans-Männer kenne ich noch heute nur vom Hörensagen.

Heute bin ich froh, dass meine Mutter und meine Grossmutter mich damals in den Lingerie-Laden und nicht zum Arzt schleppten. Ich bin froh, dass ich keine Pubertätsblocker nahm und dass ich meine Brüste noch habe (und weiss spätestens seit 2022, dass ich mich nie freiwillig einer Brustoperation unterziehen werde). Ich bin froh, dass ich kein Coming-out als Trans-Mann durchmachen musste. Ich habe grossen Respekt vor Trans-Menschen, die das alles gemacht haben und dabei stärker geworden sind. Aber ich bin eine Frau, und in meinem Leben gab es auch viele himmlische Momente. Und deshalb wünsche ich allen Teenager-Mädchen mit BH-Aversion jemanden, der zuerst einmal zuhört und nachfragt, was unter der Oberfläche wirklich los ist.

*Ein Gerüst, das den Körper stützt oder einengt, etwa ein Klettergurt oder ein Hundegeschirr.

Judith Butler: „Das Unbehagen der Geschlechter“; Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1722, 1991

 

 

 

 

Judith Butler und der begehrliche Blick des Mannes

Judith Butler 2012 (Quelle: Wikipedia).

In vier Tagen habe ich das Vorwort zu Judith Butler’s Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ zweieinhalbmal gelesen. Schon diese acht Seiten haben meine Hirnsynapsen zum Glühen gebracht, und das ist ein Kompliment. Nichts liebe ich mehr, als wenn meine Hirnsynapsen glühen. Antworten auf meine Frage vom letzten Beitrag habe ich indes noch keine gefunden. „Ja oder Nein“, „Frau oder Mann“, „ist oder ist nicht“ – solche Gegensätze klar zu benennen, ist nicht die Absicht von Judith Butler. Wir kennen sie ja angeblich alle. Butler will solche Gegensätze untersuchen, unterwandern, zum Einsturz bringen, kurz, dekonstruieren. Das ist ihr Job, und sie will damit nicht weniger als „das herrschende Gesetz“ ins Wanken bringen. Schon auf der ersten Seite studiert Butler den begehrlichen Blick des Mannes auf die Frau: Wie der Mann Unbehagen empfindet, wenn die Frau plötzlich zurückblickt. Weil die Frau ja Objekt dieses Begehrens ist. Wie erschrickt er da, wenn sie plötzlich zu erkennen gibt, dass sie selbst Subjekt sein könnte! Butler hat das bei Jean-Paul Sartre so gelesen. Sie selbst ist ja lesbisch.

Ich stelle mir beim Lesen vor, wie Butler das sich ständig wiederholende, heterosexuelle Liebesritual des 20. Jahrhunderts befremdet und amüsiert aus der Distanz beobachtet. Ich erinnere mich gut an dieses Ritual: Meine Mutter hatte mir beigebracht, mein eigenes Begehren für einen Mann erst dann zu erkennen zu geben, wenn sicher ist, dass er keinen Rückzieher machen wird. Mit 14 fand ich das unmenschlich. Ich musste aber lernen, damit zurechtzukommen. Alles andere wäre ein schwerer Verstoss gegen die Gesetze der Weiblichkeit gewesen. Begehrliche Blicke meinerseits hatten verstohlen zu bleiben; und niemals, wirklich niemals spricht eine Frau gegenüber einem Mann zuerst ihr Begehren aus. Ich zucke heute noch zusammen, wenn junge Frauen im Film einem Mann ganz frank und frei ihre Liebe gestehen. Geht das heute?! Und sucht der Mann dann nicht schnellstens das Weite?! Und wenn frau das heute ungestraft macht: Ist es auch ein Verdienst von Judith Butler?

 

 

 

Ein Buch, das Vater und Tochter verbindet

Wenn ich meinen Vater im Heim besuche, lese ich ihm jeweils ein paar Seiten aus „Der arme Mann im Tockenburg“ von Ulrich Bräker vor. Wer immer über dieses Buch schreibt, beeilt sich, seine „mangelnde literarische Qualität“ zu erwähnen (zum Beispiel hier). Ich gehe daher vor allem auf seine durchaus erwähnenswerten Stärken ein. Es ist erstens in einer ganz eigenen Sprache gehalten, leicht an Bräkers Muttersprache angelehnt, den Ostschweizer Dialekt, der im bergigen Toggenburg gesprochen wird. Es ist zweitens das früheste erhaltene Stück Schweizer Autofiktion. Bräker (1735 bis 1798) erzählt darin seine Lebensgeschichte, die eines Bauernbuben, der als junger Mann in die preussische Armee gerät, abhaut und dann in seiner Heimat eine karge Existenz aufbaut. Mit Frau, Kindern und einem Textilhandelsgeschäftchen, wie es in der Frühindustrialisierung in der Ostschweiz viele gab. Und: Das Buch hat die Kraft, meinen Vater und mich jeweils für eine halbe Stunde oder so über sein Elend hinweg zu verbinden. Er war selbst ein Bauernbub, im bergigen Napfgebiet, und hat sich später in einer Beamtenhierarchie abgearbeitet.

Ich bin hingerissen von Bräkers ersten Kindheitserinnerungen: „Ganz deutlich besinn ich mich, wie ich auf allen vieren einen steinigten Fussweg hinabkroch und einer alten Base durch Gebärden Äpfel abbettelte.“ Ich sehe das fast wie einen Film vor mir. Aber, hey, das war 1738! Mein Vater horcht auf, wenn vom Geissenhüten die Rede ist. Dann unterbrechen wir uns und er erzählt von der Ziege, die er selbst als Bub hatte. Wie sie ihm sagten, er solle sein Herz nicht zu fest an sie hängen, sie werde zu Ostern geschlachtet.

Wenn ich ihm vorlese, bin ich seine literarische Tochter, geboren, um ihn stolz zu machen. Er geniesst das Stolzsein. Das rührt mich, denn früher war er nie stolz auf mich oder hat es mir jedenfalls nicht gezeigt. Aber hier erzählt er den Pflegenden bei jeder Gelegenheit, dass ich im Fall seine Tochter sei und ihm dieses tolle Buch vorlese.

Einmal, ich bin mittendrin, ruft Wiederkehr an, sein Jugendfreund. Die beiden waren zusammen auf der Beamtenschule und büffelten Schweizer Verkehrswege und Postleitzahlen. Wiederkehr hatte eine Stelle in der Bundeshauptstadt. Aber jetzt ist auch er vergesslich geworden. Auch ihm erzählt mein Vater von diesem tollen Buch und vom Toggenburg und vielleicht wissen beide nicht mehr auf Anhieb, wo oder was das Toggenburg ist, es ist doch etwas abgelegen. Aber dann fällt der Groschen und einen Moment lang klingt es so, als würden sie gleich zusammen Ostschweizer Postleitzahlen zu repetieren beginnen.

Ulrich Bräker: „Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des armen Mannes im Tockenburg; Hofenberg Sonderausgabe 2017; (Erstdruck 1789).

Lebenszeichen

Etwas verspätet wünsche ich allen meinen Leserinnen und Lesern ein glückliches 2024.

Einige von Euch werden hier die Fortsetzung meines Luzerner Stadtrundganges erwarten oder wenigstens einen Rapport über die mit unseren englischen Freunden verbrachten Feiertage. Aber dafür fehlt mir im Moment die Musse. Mein Vater braucht mich mehr denn je, seit er Anfang Dezember an Covid-19 erkrankte. Durch eine Krebserkrankung bereits geschwächt, erlitt er während der Konvaleszenz einen schweren Sturz. Seither machen wir Bekanntschaft mit den Stärken und Schwächen des schweizerischen Gesundheitswesens. Und mit den Stärken und Schwächen unserer Planung für seinen letzten Lebensabschnitt. Wir – das sind immer noch in erster Linie meine Mutter, die sich in diesen Tagen mit ihren bald 82 Jahren als höchst führungsstark erweist. Aus zwei Fahrstunden Entfernung mein Bruder, der gelegentlich wie ein Deus Ex Machina herbeigerauscht kommt. Und ich. Ich besuche meinen Pa, so oft ich kann, wo immer er gerade ist. Er hat bereits drei Ortswechsel hinter sich, ein vierter liess sich gerade noch verhindern. Jeder riss ihn von Neuem in einen Strudel der Verwirrung und Unruhe, aus dem er jeweils nur sehr langsam wieder aufsteigt.

Die Hooligans waren hier, und wir hatten grossartige, auch sehr verbindende Momente. Aber Frau Frogg glänzte öfter mit Abwesenheit. „Never a dull moment“, schrieb Herr Hooligan in seiner Dankesmail – uns wurde nie langweilig. Eine Redensart, die auch ironische Untertöne hat, im Sinne von: „Was für ein Drama die ganze Zeit!“

Brief von meinem jüngeren Selbst

Bertolt Brecht, den mein jüngeres Ich sehr verehrt hat.

Es ist Mode geworden, dass man Briefe an sein jüngeres Selbst schreibt. Man tut es in der Psychotherapie, man tut es auf X (vormals Twitter). Meist tut man es, um die Ängste seines jüngeren Ichs zu beschwichtigen und ihm zuzuzwinkern: Ist ja alles besser herausgekommen als man mit 20 befürchtet hat. Kurz nach Kriegsausbruch im Nahen Osten war mir aber plötzlich, als bekäme ich einen Brief von meinem jüngeren Selbst. In einem Couvert aus in den achtziger Jahren gebräuchlichem, rauem Recycling-Papier. Als erstes fiel mir daraus ein Blatt mit einem Gedicht von Bertolt Brecht entgegen: An die Nachgeborenen. Ich schmunzelte. Die junge Frau Frogg war eine grosse Verehrerin von Bertolt Brecht. Unterstrichen hatte sie die Verse: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist“. Daneben hingekritzelt die Fragen meines jüngeren Selbst an mich: „Also, dass zu meinen Lebzeiten ähnlich kriegerische Zeiten ausbrechen werden wie damals bei Brecht, damit habe ich nicht gerechnet. Darf man bei Euch jetzt auch nicht mehr ohne schlechtes Gewissen über Bäume reden? Belastet Euch die Nachrichtenlage? Muss ich mir Sorgen um Euch machen?“

„Gemach! Gemach!“ antwortete ich meinem jüngeren Selbst unverzüglich. „So schlimm ist es jetzt doch noch nicht. Bedenke doch: Brecht schrieb dieses Gedicht im Exil in den dreissiger Jahren, auf der Flucht vor den Nazis, die ihn wegen seiner kommunistischen Haltung staatenlos gemacht hatten. Die Verhältnisse waren damals für ihn und für viele in Europa unmittelbar und existenziell bedrohlich. Natürlich sind wir aufgewühlt, natürlich denken wir an die Opfer dieser entsetzlichen Hamas-Verbrechen. Natürlich streiten wir darüber, auf welcher Seite wir stehen. Aber wir erleben auch (leider), wie man gegen schlechte Nachrichten unempfindlich wird, wenn sie nicht gleich aus dem Nachbardorf kommen. Die Lage in der Ukraine? Im Moment eher nebensächlich. Und am letzten Wochenende verfolgten wir geradezu euphorisch ein Gott sei Dank stinklangweiliges Ritual: Parlamentswahlen in der Schweiz. Die Stimmung in den Fernsehstudios war ¨überschwänglich, dabei waren die Wähleranteilverschiebungen minim (und fielen leider zugunsten der Rechtsbürgerlichen SVP aus). Das Hochgefühl mag – zugegeben – auch damit zusammenhängen, dass Wahlen, deren Resultate niemand in Zweifel zieht, auch in so genannt demokratischen Staaten keine Selbstverständlichkeit mehr sind. (Edit: Kurz nachdem ich das hier geschrieben hatte, kam heraus, dass man auch den Schweizer Wahlen nicht mehr trauen kann: Das Bundesamt für Statistik  hatte sich um ein paar Promillepünktchen verrechnet. Kurze Entrüstung in den Medien, mehr nicht).

Haben wir deshalb aufgehört, über Bäume zu reden? Oder über das Wetter? Nein, im Moment dürfen wir zum Glück wieder freundlich sein zu unseren Bekannten. Zugegeben: Während der Pandemie war das manchmal anders. Aber das vergessen wir jetzt lieber.“

September, früher

3. September 2022 im Aargauer Wasserschloss. Der September versucht hier noch einmal, einen Sommertag hinzubekommen.

Normalerweise dauern die Hundstage bis zum 23. August. Dieses Jahr enden sie (hoffentlich) am kommenden Dienstag, 12. September. Mein Schlafzimmer hat nachts immer noch 24 Grad. In den Bergen steigt die Nullgradgrenze gerade auf Rekordwerte. Sie lag am 6. September bei über 5000 Metern (siehe hier). Das gab’s bislang nur zweimal seit Messbeginn, im Juli oder August, noch überhaupt nie im September. Ich liege wach und grüble. „Ach, jammert doch nicht so, wenn es endlich mal ein bisschen warm ist!“ sagt meine Nichte Carina. Sie ist 18, sie mag die Hitze. Mit 18 mochte ich die Hitze auch. Mit 58 finde ich sie an guten Tagen etwas mühsam. In schlechten Nächten verschafft sie mir eine Ahnung von der Apokalypse.

Oft denke ich darüber nach, was Carina mich eines Tages fragen könnte. Falls sie überhaupt Zeit und Lust hat, Fragen zu stellen. Sie wird mich wohl nicht danach fragen, wie Klimawandel sich anfühlt. Davon wird sie selbst noch genug bekommen. Aber vielleicht wird sie mich fragen, was früher normal war. Als das Wetter noch „normal“ war. Als wir jung waren. Damit kann ich dienen. Man muss es erinnern und kurz festhalten, bevor es vergessen und verschwunden ist.

Als ich am Gymnasium war, endete der Sommer mit den Schulferien. Mit den langen Nachmittagen im Schwimmbad war es dann vorbei – obwohl wir am Mittwochnachmittag ja frei hatten. Aber es war dann meist doch zu kühl zum Baden. Wenn ich am ersten Schulmorgen Ende August mit dem Fahrrad den Hang hinunter Richtung Gymnasium sauste, musste ich eine leichte Jacke tragen und hatte kalte Finger. Die Wiese unterhalb der Strasse trug oft einen weisslichen Tauschleier. Erste Frostnächte in der zweiten Monatshälfte waren nichts Unerhörtes. Später am Tag versuchte der September oft noch einmal einen richtigen Sommernachmittag hinzubekommen, aber es fühlte sich wehmütig an. In den Gärten begannen die Äpfel rötlich zu schimmern, die ersten Blätter bekamen einen Gelbstich.

Für den Büromenschen Frogg war der September draussen meist unauffällig. Die Arbeit drinnen beschäftigte uns stärker als das Wetter. Die Sommerstürme waren vorbei, wir klagten über den ersten Hochnebel, den Inbegriff von Nicht-Wetter. Sehr regnerisch war es selten. Oft lockten herrliche Tage, ich erinnere mich an 9/11, draussen ein kobaltblauer Himmel, diese Farbe, die wie ein Sog den Blick in sich hineinzieht und die Seele mit hochwirbeln lässt. Drinnen flimmerten die Bildschirme und zeigten das Grauen. Unwirklich.

In meiner Erinnerung war es mit dem Septemberwetter jeweils um den 2. Oktober herum zu Ende. Der 2. Oktober ist der Feiertag des Luzerner Stadtheiligen Leodegar, den wir nur noch wegen der Määs kennen, wegen des Jahrmarktes. Als Carina klein war, ging ich mit ihr und Tim jeweils dort auf wilde Bahnfahrten. Oft begleitete ein Kälteeinbruch mit Regen diese Ausflüge an die Määs. Wir hatten nach vier Monaten ausserhalb der Heizperiode vergessen, was kühles Wetter ist und waren dann richtig froh um wärmere Jacken und Schals.

 

 

 

 

Eine Erinnerung, die wirklich zählt

Im Spätsommer 1990 waren mein damaliger Liebster Konrad und ich nach mehr als 100 Radkilometern am Ziel: in Aberdaron, an einem der äussersten Nordwestzipfel von Wales. Wir verbrachten dort ein paar Tage mit meinem Freund Peter Cadle in einem Haus auf dem Hügel. In meiner Erinnerung ist der Sand dort strahlend hell. Aber es muss auch ein paarmal geregnet haben. Denn wir standen viele Stunden lang am Pool-Tisch im Pub.

Aberdaron, vor nicht allzu lange Zeit (Quelle: Wikipedia).

Im Haus auf dem Hügel waren wir zu fünft, und es gab eine einzige Regel: Wer hier zu Gast ist, muss mindestens einmal abends kochen. Damals war ich eine halbwegs kompetente Köchin, dennoch standen Konrad und ich vor einer Herausforderung. Denn Peter war Vegetarier, eine der Frauen dort vegan und eine weitere ass keinerlei Früchte. Das zog einen breiten Strich durch fast alles, was wir beiden so im Repertoire hatten.

Wir entschlossen uns, Bohneneintopf  zu machen. Wir fanden sogar riesige, getrocknete, Butterbohnen im Dorfladen. Wir hätten sie am Vorabend unseres Kochtermins in Salzwasser einlegen sollen, taten es aber erst am nächsten Nachmittag um 16 Uhr. So gab es an jenem Tag erst gegen 21.30 Uhr Dinner. Und die Bohnen waren immer noch nicht ganz weich.

Dennoch: Man verzieh uns, es wurde ein heiterer Abend. Es waren die Thatcher-Jahre. Wir diskutierten über die Poll Tax-Demos. Und Peter korrigierte auf liebenswürdige Weise mein Englisch, um mir weitere Peinlichkeiten zu ersparen: „Pass auf, ‚backside‘ heisst: ‚der Hintern‘! Wenn du von der Hinterseite des Hauses sprichst, ist es einfach ‚the back‘!“ Es war eine wunderbare Gesellschaft.

Die Geschichte eignet sich auch, um zu erörtern, welche Reise-Momente zumindest mir oft nach vielen Jahren noch erinnerlich sind: ungewöhnliche Begegnungen oder besondere Treffen mit Freunden, klar. Aber bei Peter habe ich ganze Wochen in London verbracht, doch nur die Episode in Wales habe ich noch glasklar vor mir. Wir erinnern uns wohl eben auch gerne an Herausforderungen, die wir gemeistert haben, wenn auch vielleicht nicht mit Bestnoten. Bei den einen mag es eine Bergbesteigung sein. Bei mir war es halt der Bohneneintopf. Und dann habe ich mir die Episode wohl auch gemerkt, um es bei einem nächsten Mal besser zu machen, sprich: die Butterbohnen rechtzeitig einzulegen.

Obelix, aus dem bekannten Comic (Quelle: asterix.com)

Schliesslich gibt es das, was ich mittlerweile den Obelix-Moment nenne. Ihr wisst schon, Obelix, der Gallier, der auf seinen Reisen ins Ausland die Gewohnheiten der Menschen beobachtet und immer wieder sagt: „Die spinnen, die Römer!“ Oder: „Die spinnen, die Briten!“ In Aberdaron hatte ich den Obelix-Moment angesichts der für uns  skurrilen Essgewohnheiten unserer britischen Freunde. Obelix-Momente eignen sich auch hervorragend zur Unterhaltung einer Abendgesellschaft in der Heimat. So habe ich diese Anekdote oft wiedererzählt und dabei wohl neu im Gedächtnis abgespeichert.

Doch manche Obelix-Momente gehen tiefer. Ich glaube, sie sagen uns etwas darüber, wer wir sind und wie wir leben oder leben wollen. Über dieses Thema könnte ich Seiten füllen. Aber ich glaube, es reicht, wenn ich sage: In jenen Tagen habe ich gelebt, wie ich leben wollte – und ich hoffe, dass ich sie bis an mein Lebensende nicht vergessen werde.

Die Wahrheit über die Ehefrauen von Aberystwyth

Wo also hatten mein damaliger Liebster Konrad und ich die Ehefrauen von Aberystwyth wirklich beobachtet? Das fragte ich mich, während wir unserem Ziel entgegentuckerten. 15 Minuten vor Aberystwyth rückte eine lange, gelbliche Strandlinie ins Blickfeld, und dann hielt der Zug kurz, bei einem Dorf namens Borth, und ich war wieder sicher: Ja, hier war es gewesen! Nicht in Aberystwyth. Aber warum hatten Konrad und ich uns Jahre zuvor überhaupt in Borth aufgehalten? Der Ort liegt gar nicht an der Hauptstrasse nach Machynlleth, das wir damals durchquert haben müssen.

Die Antwort darauf fand ich erst Wochen später in einem alten Tagebuch-Eintrag, datiert am 28. August 1990, Ort: „kurz vor Machynlleth“: „Murphy’s Law funktioniert auch in Wales bestens! Am Morgen telephonierten wir von A’wyth nach Borth, da wir in Erfahrung gebracht hatten, dass es nur in Borth Velos zu mieten gibt. Man sagte uns, der Velovermieter sei weg. Aber wir sollten doch einmal herkommen, er komme wahrscheinlich schnell zurück. So gingen wir nach Borth.“ Auf den Fahrradmechaniker mussten wir dann bis fünf Uhr nachmittags warten, weshalb wir Zeit hatten, neben dem Markt in Borth herumzusitzen und wohl auch etwas entnervt waren. Dort beobachteten wir die an der Nase herumgeführten Frauen. Zu meinen anderen Fragen über die damalige Velotour gab es keine Antwort. Denn das Tagebuch bricht noch am selben Abend ab, über den ganzen Rest unserer Reise habe ich nur noch einen einzigen Text geschrieben, den über das Walisische.

Herr T. sagt zwar nonchalant: „Dass Erinnerungen fragile Konstrukte sind, ist doch ein Gemeinplatz.“ Aber mich haben meine Gedächtnislücken erschüttert. Neuerdings führe ich deshalb mein privates Tagebuch anders als je zuvor: Ich versuche, abends so oft wie möglich noch ein paar präzise Notizen über das zu machen, was den ganzen Tag so gelaufen ist. Eine kleine Abendmeditation, mit der sich später Geschichten rekonstruieren lassen (sollen).

Und ich habe mir überlegt, welche Erinnerungen wirklich zählen. Denn ich habe durchaus Erinnerungen an unsere Ferien von 1990 in Wales. Sie sind vielleicht ebenso trügerisch wie das, was ich hier aufgezeichnet habe. Aber sehr viel wichtiger.

Die Ehefrauen von Aberystwyth

Bei bestimmten Gelegenheiten erzähle ich die Geschichte von den Ehefrauen von Aberystwyth: Wie mein einstiger Liebster Konrad und ich dort 1990 hinter einem trostlosen, gelben Strand sassen, links von uns ein Jahrmarkt. Wir liessen zahlreiche Familien an uns vorbeiziehen, die aus einem Markt kamen, die Männer immer mit stattlichen Bäuchen voraus, die Frauen mit etlichen Kindern hinterher. Mit einer Haltung und einem Gesichtsausdruck, als würden sie von ihren Ehemännern an an einer Schnur in der Nase in eine Richtung gezogen, in die sie nicht wollten.

Es sind Beobachtungen aus dem Jahre 1990, die bestimmt mehr über mich aussagen als über die Frauen, die ich beobachtet habe. Sie sind bestimmt heute glückliche Grossmütter und haben Herausforderungen bewältigt, die mir nie begegnet sind. Manchmal erzählte ich die Geschichte heute dennoch als leicht surreale Anekdote über das Strandleben in Grossbritannien. Einmal habe ich sie erzählt, um zu erklären, warum ich nie einen Nasenring tragen würde. Und manchmal wollte ich damit auch einem Mann sagen: Nie will ich wie die Ehefrauen von Aberystwyth werden!

Im Zug habe ich sie auch Herrn T. wieder erzählt, als Vorbereitung auf Aberystwyth. Überhaupt: Auf der ganzen, langen Zugreise von Porthmadog nach Aberystwyth haschte ich nach Erinnerungen an meinen letzten Aufenthalt hier.  Ich wusste noch: Wir mieteten damals in Aberystwyth Fahrräder und fuhren zunächst nach Machynlleth (sprich: Mahanthleth, das hatte uns mein Freund Peter beigebracht, und der war Welsh). Wir hielten dort jedoch gar nicht an, sondern fuhren durch und bogen sogleich in die Passstrasse Richtung Dolgellau (sprich: Dolgethlai) ein. Denn wir wollten noch am selben Abend einen Teil der Steigung bewältigen. In der Abenddämmerung fanden wir ein traumhaft schönes Bed & Breakfast unter Bäumen und übernachteten dort. Allerdings: Es gibt zwei Strassen durch das Hochland zwischen Machynlleth nach Dolgellau. Welche der beiden haben wir wohl genommen? Ich weiss es nicht mehr. Sicher ist: Wir kamen in Dolgellau an. Ich erinnere mich an eine Strassenkreuzung dort, an der wir in einem Café Kuchen assen. Obwohl Kuchen viele Kalorien hat. Aber man mit dem Velo einen Pass überquert hat, darf man das. Doch warum habe ich all die herrlichen Landschaften vergessen, die wir dabei  gesehen haben müssen? Was für eine Energieverschwendung!

Meine Gewisseheiten bekamen erste Risse, als Herr T. und ich in Machynlleth umstiegen (er hat hier davon erzählt). Wir mussten 30 Minuten vor Aberystwyth ¨über eine Stunde auf den nächsten Zug warten. Ich ging kurz im Städtchen spazieren, und da sah ich sie! Die Strassenkreuzung, an der wir Kuchen gegessen hatten! Ich hatte einen richtigen Freudenschauer. Aber Halt! Die Kreuzung von damals war doch in Dolgellau! Wie konnte das sein?! Hatten wir etwa Kuchen gegessen, bevor wir über den Pass fuhren? Das hätte mein jüngeres Ich mir doch niemals erlaubt! Oder irrte ich mich? Glaubte ich nur, dass dies die besagte Strassenkreuzung sei, weil ich mich so sehr danach sehnte, etwas von damals zu sehen?

Im Anschlusszug dämmerte mir dann auch: Ich kann die Ehefrauen von Aberystwyth gar nicht in Aberystwyth gesehen haben. Denn Aberystwyth ist nicht trostlos, sondern stemmt mit grosser Geste eine lange Häuserfront den Naturgewalten entgegen. Und es hat auch keinen gelben Strand, sondern einen grauen und eigentlich keinen Platz für einen Jahrmarkt.

Aberystwyth im Juni 2023. Der Mann mit dem Beret links im Bild ist mein Ehemann, Herr T., und nein, er hat keine Schnur.

Porthmadog und das Wesen der Erinnerung

Porthmadog – hier muss ich einmal den Weg zu einem phänomenalen Ziel eingeschlagen haben. (Bild: Robert Parry Jones/North Wales Live)

Kaum waren wir in Porthmadog angekommen, beschäftigten mich Fragen nach dem Wesen der Erinnerung fast mehr als die Gegenwart. Porthmadog ist ein erstaunlich lebhaftes Dorf in einer Landschaft von geradezu alpiner Kargheit. Es hat an jedem Ende einen Bahnhof, und auf dem Weg vom einen zum anderen gingen wir fast die ganze High Street hoch. „Ich bin schon hier gewesen“, rauschte es mir durch den Kopf, „Hier muss ich zusammen mit meinem damaligen Liebsten Konrad den Zug nach Blaenau Ffestiniog bestiegen haben. Es kann gar nicht anders gewesen sein, denn nur von hier aus gibt es einen Zug dorthin.“ Ich weiss noch, dass wir aus Aberdaron kamen und die Schiefergruben in Blaenau Ffestiniog besichtigten, und dass das phänomenal war. In meiner Erinnerung verschwimmen die Bilder von der Fahrt in die Tiefe des Berges mit jenen von Harry Potters Ausflügen in die Gewölbe von Gringott’s Bank. Immer wieder Harry Potter! Aber Porthmadog? Ein weisser Fleck in meinem Hirn.

Als ich jung war, legte ich grossen Wert auf die Pflege meiner Erinnerungen. Die Erinnerung ist ein Schatz, sagte ich mir. Sie macht uns zu der Person, die wir sind. Mit den Jahren setzte ich andere Prioritäten. Manche Erinnerungen legte ich in Grümpelkisten, irgendwo im Hirn, sie waren mir egal, aber fortschmeissen kann man sie ja nicht. Bei Bedarf braucht es manchmal etwas Zeit, bis ich sie hervorgekramt habe. Aber dass eine Erinnerung gar nicht mehr auffindbar war, war doch beunruhigend. Ich meine: Wer sind wir, wenn wir nichts mehr über den Ort wissen, von dem aus wir ans Ziel unserer Reise gelangten?

Herr T. und ich kamen beim zweiten Bahnhof an und picknickten auf einer Bank. Wir hatten noch Brot aus Conwy, Cherrytomaten und frischen Cheddarkäse. Wo wir den gekauft hatten, weiss schon jetzt nicht mehr. Ein Stück Käse fiel mir vom Brot auf eine Zigarettenkippe unter der Bank. Ich ging ein paar Meter zum nächsten Abfalleimer, um es wegzuschmeissen.

Es war kalt. Wir warteten, bis es 13 Uhr war und der Pub am Bahnhof öffnete. Auch das Lokal war karg, trotz nostalgischen Reisebildern an den Wänden. Die Wirtin machte Tee für meinen Mann und – widerwillig – eine Tasse Nescafe für mich. Eine ältere Frau in einem Kleid in verwaschenen Farben trank ihr erstes Bier, am runden Tisch sassen ein paar junge Männer mit anthrazitfarbener Sportbekleidung. Über allem hing der überwältigende Geruch von Bleach. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was sich am Vorabend hier zugetragen haben könnte, dass es so viel von diesem chlorhaltigen Reinigungsmittel gebraucht hatte. Bleach tötet Bakterien und Viren und überdeckt alle anderen Gerüche.

In Grossbritannien laufen solche Putzmittel generell unter der Bezeichnung „Bleach“. (Quelle: cloroxa.ca)

Aber bei mir belebte der ätzende Geruch Erinnerungen. Keine an Porthmadog, aber mehrere an etwas auch fast Vergessenes: das Heim in Südengland, in dem ich mit 20 ein Jahr lang gearbeitet habe und an die zwei weissblonden Kinder des Heimleiterpaares. Der Bub war vier, das Mädchen zwei, es hiess Emily. Sie hatten beide Keuchhusten, wochenlang. Wenn sie einen Anfall hatten, bellten sie in den Gängen herum, bis der Brechreiz kam. Nie wieder habe ich kleine Menschen so erbärmlich husten sehen. Damals lerne ich das Wort Bleach kennen, weil die Heimmutter immer damit hinter ihnen herputzte, als wäre Bleach ihr Nothelfer. Sie war Anthroposophin, und sonst waren Calendulasalbe und Ruhetage ihr probates Rezept gegen die meisten Übel. Hier aber: Bleach. Sie muss in 1000 Ängsten gewesen sein, dass der Erreger unter den Jugendlichen im Heim eine Epidemie auslösen könnte. Aber das wird mir erst beim Erinnern klar.