Ein Mann mit Anorexie und Burn-out

Niklaus von Flüe (Quelle: Keystone / Tages-Anzeiger).

Auf Flüeli-Ranft, einem winzigen Dorf in den Innerschweizer Bergen, lebte unser Nationalheiliger. Er hiess Niklaus von Flüe. Auf keinen Fall sollte man ihn mit St. Nikolaus mit dem roten Mantel verwechseln. Dieser lebte in Myra, einer Stadt in der heutigen Türkei und war ein wohltätiger und vermutlich auch geselliger Mann. Der schweizerische Bruder Klaus jedoch war Einsiedler, Mystiker und Politberater. Ein Mann des Friedens, ja, aber auch ein asketischer und in vielerlei Hinsicht gequälter Mensch. Manche sagen heute, er sei anorektisch gewesen und habe ein Burn-out durchgemacht.

Wenn man heute „Flüeli-Ranft“ sagt, dann kommen automatisch zwei Reaktionen, und beide lösen bei mir einen Abwehrschauer aus. Zum einen haben unsere Nationalisten den Nationalheiligen vereinnahmt und werfen bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein „Machet den zun nit zuo wit“ in die Runde. „Macht den Zaun nicht zu weit“, heisst das und soll bedeuten, dass die Schweiz neutral bleiben und stets nur den eigenen Nabel beschauen soll, jetzt und in alle Ewigkeit! Wenn man diese Forderung mit dem Zitat eines Heiligen aus dem 15. Jahrhundert untermalen kann, muss man ja auch gar keine Argumente mehr mitliefern, das ist das Praktische daran. Dieses Gelaber macht mich gallig, und vielleicht finde ich es deshalb deplatziert, wenn mir mal wieder jemand sagt, dort oben könne man „schöne spirituelle Erlebnisse haben und wunderbar meditieren“. Heutige Katholiken sagen zwar, Niklaus von Flüe habe das mit dem Zaun gar nie selbst gesagt – und wenn eventuell doch, dann habe er es ganz anders gemeint (hier mehr dazu). Aber wie auch immer: Ich kann nicht nach Flüeli-Ranft gehen, niemand kann nach Flüeli-Ranft gehen, ohne über das Erbe von Bruder Klaus zu grübeln.

Wobei wir gar nicht wegen des Nationalheiligen nach Flüeli-Ranft gingen, sondern eine Tagung von Herrn T.s Klimaspuren-Freunden besuchten. Dass sie dort oben stattfand, hat ebenfalls mit dem Heiligen zu tun: Grüne Katholiken haben sich statt des Geredes über den Zaun die Bewahrung der Schöpfung auf die Fahne geschrieben und im Ranft-Zentrum einen Tagungsort der Nachhaltigkeit geschaffen.

Schildchen beim Zugangsweg zum Ranft.

An dieses Treffen zu gehen war für mich eine schwierige Mission. Zwar geht es mir insgesamt erstaunlich gut, und der dreitägige Ausflug bediente meine grosse Sehnsucht nach einer kleinen Reise. Aber ich höre zurzeit so schlecht, dass ich in einem vollen Speisesaal keiner, wirklich keiner Konversation gewachsen bin. Die ersten zwei oder drei Mahlzeiten waren eine einzige Hochnotpeinlichkeit. Diese Angst, dass jemand das Wort an mich richten könnte! Diese Verunsicherung darüber, dass ich mit meinem dunkelblauen Turban zwar auffiel, aber eigentlich nicht da war. So griff ich zu einer ähnlichen Strategie wie schon in Salecina: Ich blieb nur kurz zum Essen, dann flüchtete ich. Diesmal aber nicht nach Hause, sondern hinunter ins enge Tal, zum Einsiedler, dem ich mich auf einmal sehr verwandt fühlte. Das Schild am Zugangsweg kam mir vor wie ein boshafter, kleiner Kalauer, extra für mich gemacht.

Die Pilgerkirche zuunterst war komplett überlaufen, so suchte ich auch von dort das Weite – auch der Eremit hätte es so gemacht. Auf einem lange Spaziergang fand ich meinen eigenen Weg, meine eigenen Gedanken, mein eigenes, vergessenes Kirchlein auf der anderen Talseite. Und am Abend sass ich auf dem Balkon unseres Hotelzimmers, blickte über die Landschaft und – nein, ich meditierte nicht, das wäre übertrieben. Aber ich war einfach glücklich, in dieser überirdisch schönen Landschaft aufgehoben zu sein.

Und dann, am nächsten Tag, beim Mittagessen, gab es eine überraschende, beglückende Wendung in dieser Geschichte.

Blick vom Ranft-Zentrum über die Hügel zum Sarnersee.

Wutanfall am Infusionsständer

Bei der zweiten Dosis Aperol Spritz intravenös gab ich versehentlich dem Infusionsständer einen Schubs, dass es klirrte. Ich bat den netten Pfleger um Entschuldigung. „Ach, solange sie das Ding nicht wütend von sich schleudern und alle Schläuche herausreissen, ist das doch kein Problem!“ sagt er. Ich schaue ihn ungläubig an. Warum sollte ich denn hier eine solche Show abziehen?! Ich meine, sie wollen einen doch heilen auf der Onkologie, nicht quälen. Auch wenn es annähernd auf dasselbe herauskommt, das vergisst man doch nicht!

„Ja, das staunen Sie, aber das ist alles schon vorgekommen“, sagt der Pfleger. Aha. Wir murmeln etwas über Krebs als lebensveränderndes Ereignis, und dass damit nicht jeder einfach so klarkomme. Später gehe ich nach Hause und vergesse das alles. Bis ich am dritten Tag danach wieder mal am Tiefpunkt ankomme. Ich meine, das ganze Salben, Spülen und Medikamenteschlucken zur Linderung der Nebenwirkungen ist ja allein ein 50-Prozent-Job. Dazu erträgt man seinen eigenen Geruch nicht mehr, diese Mischung aus Pharma, Schweiss und Todesangst. Und dann hat man Zeit, alles im Internet zu recherchieren, was einen so plagt. Wenn man gewisse Symptome in die Suchmaske eingibt, diagnostiziert Dr. Google dann auch mal eine Leberzirrhose. 20 Tage lang kämpft man sich aus diesem Loch heraus, sieht wieder Sonnenschein und grüne Wiesen – um am 21. Tag wieder einen Nachmittag am Infusionsständer zu verbringen. Plötzlich verstand ich, dass man darob ins Infusionsständerherumschleudern verfallen kann.

Was mich an jenem Tag gerettet hat? Ich fand einen Krimiklassiker im Büchergestell, Eric Ambler’s „Maske des Dimitrios“. Während der Held immer tiefer in den Bannkreis gewissenloser Verbrecher gerät, bleibt die Sprache des Buches stets über der Sache – knapp, pragmatisch und oft durchtränkt von einer wunderbaren Ironie. Zudem gibt es darin hübschen Lokalkolorit aus Istanbul, Izmir, Sofia und Paris. Ein bisschen wie wie ein alter James Bond, nur ohne das Geknalle. Die Leberzirrhose vertrieb Herr T. innert weniger Tage mit seiner ausgezeichneten Küche. Ich goss die Blumen auf unserem Balkon. Ich traf meine Freundinnen. Und wenig später arbeitete ich wieder, layoutete Seiten und parierte die Empfindlichkeiten merkwürdiger Kunden. Ich muss gestehen, dass ich etwas weniger Geduld mit diesen Empfindlichkeiten habe als sonst. Aber Seiten layouten ist etwas Wunderbares. Das Gesetz des Lebens ist stark in mir.

Jedenfalls bis nächsten Mittwoch. Dann kommt wieder so ein Nachmittag am Infusionsständer.

Zwiegespräch mit Grossmutter

Auf diesem Friedhof ruht (oder ruhte) meine Grossmutter Walholz.

Kurz nachdem ich im März meine Krebsdiagnose bekommen hatte, machte ich einen Spaziergang in einem Dorf in den Bergen. Meine Grossmutter Walholz hatte dort den grössten Teil ihres Lebens verbracht und starb dort 2010. Ihre Asche liegt im Gemeinschaftsgrab am Dorfrand. Oder lag dort. Ihr Name ist jetzt nicht mehr auf dem Gemeinschaftsgrab, und was mit ihrer Asche passiert ist… keine Ahnung.

Ich machte mit Herrn T. den Spaziergang, den ich als Kind oft mit der Familie gemacht habe: Von ihrer Bäckerei über die Passstrasse zum alten Hotel, vorbei am Altersheim, durch die Wiesen zum Friedhof. Um uns lagen der Horizont in Stein gemeisselt und die Häuser unverändert seit den siebziger Jahren. „Grossmutter, sprich mit mir“, sagte ich. „Die Ärztinnen wollen mich retten, aber ich weiss nicht, ob das einen Sinn hat.“

Ihr werdet mich für verrückt halten. Aber was hätte ich tun sollen als mit meiner Grossmutter zu reden? Ich meine: Die meisten Lebenden kann man mit solchen Problemen nicht belasten. Die Büchergestelle sind zwar voll von Lebens-Ratgebern, aber wie man sterben soll, darüber schweigen sie alle betreten. Und, ehrlich gesagt: Ich habe mehr als einmal erstaunliche Erfahrungen gemacht, wenn ich mit Toten gesprochen habe.

Meine Grossmutter schwieg lange. Aber als ich zur Friedhofsmauer kam, sagte sie: „Gar keine Frage: Du musst leben.“

Natürlich hörte ich weder die Stimme meiner Grossmutter noch sah ich sie in ein Bettlaken gehüllt vor mir. Die Antwort lag vielleicht mehr im Wesen dieser Landschaft, dieser Steine, der unverrückbaren Welt dieses Dorfes.

„Aber Grossmutter, Du weisst, dass ich eigentlich nichts Besonderes mehr zu tun habe, oder? Herr T. käme notfalls alleine zurecht, und mein Bruder könnte meinen Eltern ebenso gut auf den letzten Weg helfen wie ich. Vielleicht besser“, sage ich.

„Das ist dummes Zeug. Du musst weitermachen, solange Du kannst. Es ist das Gesetz des Lebens“, sagte meine Grossmutter streng. Ich blickte in die Berge.

„Aber Du weisst, dass gerade eine Klimakatastrophe stattfindet? Und dass die Welt daher auf jede und jeden verzichten kann, die auch noch CO2 verpufft? Du weisst, dass in der Ukraine ein Krieg stattfindet, und dass uns Putin vielleicht bald eine Atombombe auf den Kopf fallen lässt?“ fragte ich.

„Das wissen wir noch nicht“, sagte meine Grossmutter. „Jetzt warte erst mal ab.“

Schreiben oder schweigen?

Vor ein paar Tagen habe ich meine Beiträge der Kategorie „Im Menière-Land“ überflogen. Streckenweise las sich das wie ein einziger, zehn Jahre andauernder Empörungsschrei über den Verlust meines Gehörs und die Macken meines Gleichgewichtssinnes. Dabei habe ich beim Schreiben damals die Empörung gar nicht gespürt. Eher schrieb ich in einer Art vager Hoffnung, ich könnte das Übel bannen, indem ich es in Worte fasste. An meine Leserinnen und Leser habe ich dabei durchaus auch gedacht: Ich MUSSTE erklären, wie sich das alles anfühlt, damit es alle verstehen. Damit die Welt ein Ort wird, in dem auch diese unerhörte Erfahrung einen Platz hat.

Die Reaktionen waren meist positiv. Es kam die eine oder andere Unbedarftheit und es kann sein, dass sich einige still und leise von meinem Blog verabschiedet haben, weil sie nicht genügend Geduld für einen zehn Jahre andauernden Empörungsschrei hatten. Rückblickend habe ich dafür ein gewisses Verständnis. Genau deshalb frage ich mich jetzt: Soll ich überhaupt über den Brustkrebs schreiben? Sollte ich mich nicht besser einem heitereren Thema zuwenden? Und wenn ich doch schreibe: Wie soll ich das genau machen? Und warum?

Ich begann mich in die gängige Krebsliteratur zu vertiefen, auch in Audre Lorde’s „Cancer Journals“. Es handelt sich um ein ein 70-seitiges Essay, in dem sich die Autorin, eine damals 42-jährige, schwarze, lesbische Dichterin und Mutter im Jahre 1980 mit sämtlichen Fragen konfrontierte, die eine Brustamputation 1978 für sie aufwarf – die Angst vor dem Tod und der Mut, der angesichts des Todes kommt. Die Trauer und alles, was sie wieder ins Leben zurückgebracht und in gewisser Weise auch stärker gemacht hat.

Nun stehe ich an einem ganz anderen Ort als sie. Sie war eine Königin unter den Kriegerinnen. Ich bin nicht einmal mehr eine Kriegerin, und ihr royaler Gestus nervt mich sogar gelegentlich. Ausserdem ist das hier ein winziger Blog. Ich könnte schweigen, es würde niemanden kümmern. Ich kann darüber schreiben, es langweilt, ekelt, nervt vielleicht ein paar wenige, die mich hier lesen. Doch wenn wir schweigen, berauben wir uns unserer selbst und uns alle des Wissens über einander*, schreibt Lorde sinngemäss. Nur durch sprechen können wir die Unterschiede zwischen uns überbrücken. „Denn es sind nicht die Unterschiede, die uns lähmen, sondern das Schweigen darüber. Und es gibt so viel Schweigen, das es zu brechen gilt.“ (S. 16) So denke ich nicht länger über das Schweigen nach, sondern spreche und hoffe, dass es uns alle in gewisser Weise stärker machen wird.

Und für mich ganz persönlich: dass ich über die nackte Empörung hinausgewachsen bin und die richtigen Worte finde.

* meine Übersetzung

Audre Lorde: „The Cancer Journals“, Penguin Classics, 1980.

Der beste Zeitpunkt für einen Kahlkopf

Jada Pinkett Smith, deren Kahlkopf einen Hollywood-Skandal auslöste. Quelle: wingsdailynews.com)

Am 25. Mai um 11.18 Uhr postete ich hier meinen letzten Beitrag. Dort stand: „Noch habe ich meine Haare“. Ziemlich genau fünf Stunden später, um 16.15 Uhr, sass ich wieder vor meinem Laptop, fuhr mir beiläufig über den Kopf und hielt danach ein zartes, aber eindeutig zu dichtes Gespinst von weissen und dunklen Fäden in der Hand. Seither nehmen die Dinge ihren Lauf. Ich erspare Euch die Details.

Ich war darauf vorbereitet. Merkwürdigerweise ist der Schmerz in meiner Seele sehr viel erträglicher als jener unter der Kopfhaut. Als würden meine Haarwurzeln vor Entrüstung über dieses ganze Drama brüllen, sobald eine Hand oder ein Kissen meinen Kopf berührt. Also spreche ich ihnen gut zu. „Hey, ihr Lieben, nehmt Urlaub und wartet, bis Eure Stunde wieder kommt“, sage ich, „Es gab in der Weltgeschichte für eine Frau nie eine bessere Zeit, kahlköpfig zu sein! Bald werde ich aussehen wie Jada Pinkett Smith, die die feminine Kahlköpfigkeit ja gewissermassen salonfähig gemacht hat – wenn auch vielleicht nicht ganz freiwillig. Naja, vielleicht werde ich nicht ganz so sexy sein wie sie. Dafür werde ich auch nicht Gegenstand eines ganzen, dämlichen Medienspektakels vor versammelter Weltöffentlichkeit werden (Hier die ganze Story, falls jemand sie verpasst haben sollte).“

Dann atmete ich tief durch und fällte einen kühnen Entscheid: Heute Abend werde ich die Tondeuse nehmen, die ich normalerweise über das Haupt meines Mannes führe. Und dann werde ich mir die Reste meiner Haarpracht abrasieren.

Aperol Spritz intravenös

Chemotherapie sieht irgendwie ganz entspannt aus: Man sitzt in einem Lehnstuhl und von oben werden einem verschiedene Flüssigkeiten aus Beuteln in die Venen geträufelt. Ich bekomme Epirubicin und Cyclophosphamid und, nein, ich habe beide Medikamente nicht gegoogelt. Ich google nur das Nötigste, das ist eine Art Selbstschutz vor zu viel Krankheit. Eine der Flüssigkeiten ist orange. „Die Farbe von Aperol Spritz“, sagte Herr T., der neben mir auf der Fensterbank sitzt und zuschaut. Aperol Spritz trinken wir jeweils freitags, ein fröhliches Ritual zum Wochenabschluss. Im Moment geht das nicht, im besten Fall genehmigen wir uns ein Cüpli.

Herr T. hilft, wo er kann, meist ohne zu motzen. Er kommt mit mir mit ins Spital, wenn es nötig ist – fast immer. Er hilft mir, die Ärztinnen und Ärzte zu verstehen. Aber ich beginne mich zu fragen, ob ein Mann eine Frau lieben kann, die ihren Aperol Spritz schon am Mittwoch und intravenös verabreicht bekommt.

Ich bin viel zu Hause und arbeite im Homeoffice. Meinem Chef, der mir das verdammte Schneckenhaus aufgesetzt hat, bin ich jetzt dankbar. Es läuft recht gut hier. Bei der Arbeit muss ich meine Kräfte vorsichtig einteilen. Meist fühle ich mich tiptop, aber manchmal kommt die Müdigkeit wie eine Wand. Wenn schwierige Kunden sich melden oder ein mühsamer Vorgesetzter, wird mir kurz übel. Der grösste Teil meiner Energie geht in die Büroarbeit, deshalb schreibe ich hier so wenig. Noch habe ich meine Haare, es fallen mir nur auffallend viele Augenbrauen aus. Am Nachmittag kommen oft Freunde vorbei, und wir haben Spass.

Der Duft meiner Strasse

Balkon im ersten Stock eines Nachbarhauses, stets sorgfältig geschmückt, aber darunter müffelt es oft ein wenig.
Am Mittwoch gegen Mittag ging ich kurz in den Coop, einkaufen. Es war ein strahlender Maitag, und ich ging durch meine Strasse als wäre es zum letzten Mal. Beim Hofausgang, fiel mein Blick wie immer zuerst auf den Balkon im ersten Stock des gegenüberliegenden Hauses. Dort wohnt eine vermutlich ältere Person. Unter ihrem Balkon mieft es manchmal ein wenig, nach ungelüfteten Zimmern oder stehengebliebenem Essen. Oder sogar nach Kehricht, von der Sammelstelle gleich hinter mir. Aber die Person, die dort oben wohnt, lässt sich davon nicht beeindrucken, sondern verpasst ihrem Balkon zu jeder Jahreszeit einen neuen, fröhlichen Schmuck.

Schräg links liegt das trendige, tunesische Restaurant, heute umweht von einer Ahnung Hautpflegecreme. Interessante Note.

Jetzt erreiche ich die Bundesstrasse und muss mich entscheiden, ob ich sie überquere oder nicht. Ich beschliesse, auf der olfaktorisch vielversprechenderen Seite zu bleiben. Ich weiss nicht, ob ich morgen noch etwas riechen werde. Überhaupt weiss ich nicht, was morgen mit mir sein wird. Am Mittwochnachmittag werde ich meine erste Dosis Chemo bekommen, und das fühlt sich an, als würde mein Körper danach nicht mehr mir gehören. Als würde er eine Fabrik, in der giftige Flüssigkeiten mehr oder weniger wohldosiert von einem Gefäss zum anderen geträufelt werden. Manchmal werden ein paar heisse Tropfen über einen Gefässrand zischen und grünlichbraune, stinkende Blasen werfen. Niemand kann mir sagen, wie sich das genau anfühlen wird.

Das erste Haus ist die Nummer 24, wo es immer duftet, als wäre dort die Küche eines indischen Restaurants. Heute: wahrscheinlich Lime Chutney. Noch nie bin ich der Frage nachgegangen, woher dieser Duft kommt, denn Restaurant steht hier keines – aber auf den Klingelschildern des einen Hauses sehe ich die Namen zweier vermutlich tamilischer Bewohnerinnen oder Bewohner. Ich bin ihnen dankbar, dass sie hier etwas Stimmung machen. Ich hatte solches Fernweh in den letzten paar Wochen, aber daraus wird jetzt nichts – meine Strasse muss mir die Welt bleiben, in einen vollgestopften Zug werde ich mich nicht setzen, siehe reduzierte Immunnabwehr.

Nach 100 Metern überquere ich die Bundesstrasse dann doch. Schon auf dem Zebrastreifen werde ich vom Gurkenaroma in der Luft überrascht. Bietet die Bäckerei als schnelle Mittagsverpflegung auch Gurkensalate an? Oder ist es einer der neuen Läden in der 17 und 19, von denen ich nie sicher weiss, ob sie Boutiquen oder Cafés sind?

Im Helvetiagärtli haben die Kastanienbäume rote und weisse Kerzen dicht an dicht auf ihre Kronen gereiht. Duften die Blüten auch? Ja, ich glaube schon, ein ganz klein bisschen wenigstens. Erst wenn man näherkommt, merkt man es richtig, dann sticht der Blütenstaub sogar ein bisschen, fast zuoberst in der Nase.

Im Coop an der Habsburgerstrasse liegt der Geruch von aufgebackenem Blätterteig in der Luft. Der Lunch für die im Quartier arbeitenden Dienstleister und Studentinnen liegt schon auf den Wärmeplatten: Spinat- und Fleischweggen und Schinkengipfeli.

Auf dem Rückweg, zwischen Winkelriedstrasse und Helvetiagärtli, rieche ich nichts. Einfach nichts. Aber ich frage mich: Wenn jemand aus einem anderen Land hier durchkäme, würde er dann riechen, dass er in der Schweiz ist? So, wie ich immer gerochen habe, dass ich in England angekommen war – an dieser unverwechselbaren Mischung aus hölzernen Eisenbahnbohlen, Russ und chlorhaltigem Reinigungsmittel?

Das verdammte Schneckenhaus

Im Moment arbeite ich wieder fast so viel wie früher. Es hat bei der Onkologie einen Kurswechsel gegeben. Erst morgen werde ich erfahren, ob ich nun wirklich eine Chemotherapie machen sollte. Die Ärzte wollten weitere Gewebeproben machen. Die Resultate könnten zeigen, dass eine Hormontherapie reicht, um dem Krebs den Rest zu geben. Arbeiten tut mir gut in solchen Zeiten der Ungewissheit – manchmal fühlt sich beim Arbeiten viele Stunden lang alles vollkommen normal an, wie früher. Alle Ängste und all diese lästigen Gedanken, die sowieso nichts bringen, sind wie verpackt und weggeräumt.

Mein Wanderrucksack, 50 Zentimeter hoch, mit dem ich nun mein ganzes Büro täglich herumtrage. (Bild: ochsnersport.ch)
Ich ermüde nur schneller als vor der OP. Und dass ich neuerdings auch noch das verdammte Schneckenhäuschen herumtragen muss, empfinde ich als brandschwarze Zumutung. Beim verdammten Schneckenhäuschen handelt es sich um meinen Wanderrucksack, in dem ich mein Büro überall bei mir habe. Eigentlich ist mein Büro nur ein einziger, neuer Laptop, dazu kommt das Portmonee und der Schirm. Aber das verdammte Schneckenhäuschen kommt mir tonnenschwer vor, die Riemen des Rucksacks wie eine Zwangsjacke.

Ich gehe ja oft zu Fuss zur Arbeit, 40 Minuten von Tür zu Tür. So schütze ich mich einerseits vor Covid-19 – wir werden ja hierzulande hemmungslos durchseucht, auch die Maskenpflicht im Bus ist schon vor Wochen gefallen. Ganz bestimmt will ich eine allfällige Chemotherapie nicht mit aktivem Coronavirus antreten. Andererseits tue ich auf dem Arbeitsweg allerhand Dinge, die das Leben lebenswert machen: Blitzschnell das Handy zücken und fotografieren zum Beispiel; dabei auch mal in die Knie gehen; Umwege erproben; Hügel ersteigen. Alles fast nicht leistbar mit Schneckenhaus.

Eigentlich ist es merkwürdig, dass mir das Ding so verdammt sperrig vorkommt. Der Laptop ist lediglich 1,5 Kilo schwer, und beim Wandern mache ich ja auch Fotos. Es liegt vielleicht daran, dass das Gewicht auf meinen Rücken noch an meinen Narben zerrt. Oder daran, dass der schicke Laptop mit einer unschönen Diskussion mit meinem Chef kam. Kaum hatte ich ihm meine gesundheitlichen Probleme auseinandergesetzt, sagte er: „Du bekommst jetzt endlich auch so einen Laptop, wie alle anderen, denn Du musst jetzt auch im Homeoffice arbeiten können.“ Ich würde weiterhin lieber täglich ins Büro pilgern, und zwar unbeschwert. Während der Pandemie hat man das auch von mir verlangt. Wahrscheinlich hat der Chef recht, schon wegen der Sache mit Covid-19 im Bus. Aber die Art, wie das alles gelaufen ist, erfüllt mich trotzdem mit vernehmlichem Groll.

Das alles kann jedoch nicht hinreichend erklären, weshalb ich beim Herumtragen des Schneckenhäuschens so elend müde werde, dass ich manchmal schon noch einer halben Stunde Gehen kaum noch das Gleichgewicht halten kann. Ich frage mich, ob ich in dem verdammten Rucksack, nur unzureichend verpackt, auch alle diese Ängste und Gedanken herumschleppe, mit denen sich zu befassen sowieso nichts bringt.

Fliegen beim Lesen

Hier werde ich über einen Roman schreiben, den nur die allerwenigsten von Euch lesen werden – weil er in einer Sprache geschrieben ist, die die nur wenige von Euch beherrschen: Luzerndeutsch. Ich tue es trotzdem, weil die Lektüre für mich geradezu berauschend war (wenn auch vielleicht nicht so, wie sich die Hauptfigur der Geschichte Berauschtheit vorstellt, aber dazu komme ich noch). Der Roman heisst „Provenzhauptschtadt“, der Autor Béla Rothenbühler. Und der Text beginnt so:

„Ech wörd ned met Schwalben aafo, wenn ke Schwalben ome gsi wärid. Aber: De ganz huere Hemel voll Schwalbe. Schwalbebüüch ond Schwalbeschwänz, wo äifach so omesäglid, voll äis metem Wend, Termik total im Körpergfüel.“ (S. 8)

Heisst auf Hochdeutsch: „Ich würde nicht mit Schwalben anfangen, wenn keine Schwalben dagewesen wären. Aber: Der ganze verdammte Himmel voller Schwalben. Schwalbenbäuche und Schwalbenschwänze, die einfach so herumsegeln, voll eins mit dem Wind, Thermik total im Körpergefühl.“ Als ich das las, fühlte ich mich selbst wie eine Schwalbe, die vom kargen Boden des Hochdeutschen ins Element ihrer Muttersprache gewirbelt wird. Ich hörte den Erzähler geradezu labern, sehe ihn gestikulieren in einer Beiz, mit seinen Kollegen. Ich kann das Bier riechen. Mein Leben lang habe ich eine Sprache gesucht, die manche meiner Geschichten erst richtig zum Fliegen bringen könnte. Das wäre diese Sprache.

Ich muss einräumen, dass es dazu auch andere Meinungen gibt. Arno Renggli, der Rezensent der „Luzerner Zeitung“, beurteilte den Dialekt als „echtes Hindernis“ beim Lesen. Nun ja, vielleicht fehlte ihm auch einfach die Bereitschaft, sich der Thermik dieser Sprache anzuvertrauen. Hat man als Muttersprachler diesen Moment des Zögerns hinter sich, ist es ganz einfach. Renggli benannte auch gleich den kommerziellen Haken am Projekt „Luzerndeutscher Roman“: „Eine gute Story ist eine gute Story, was braucht es da das Handicap des Dialekts, das des Autors Absatzchancen ja auch noch geografisch einschränkt?“ (Ausgabe vom 15. Februar 2021). Da hat er freilich recht: Der Markt für Luzerndeutsche Literatur ist wohl winzig.

Aber erzählt „Provenzhauptschtadt“ auch eine gute Story? Nun ja, nicht so richtig. Eigentlich scheitert sie schon an ihrem Titel. Dieser behauptet, dass sich das Buch mit der Provinzialität im Allgemeinen und der Luzernischen Provinzialität im Speziellen auseinandersetzt. Aber der Ich-Erzähler bleibt bei jeder Gelegenheit, sich in dieses Thema zu vertiefen, vollkommen vage. Er bleibt überhaupt bei jedem Thema vollkommen vage. Er behauptet zwar, „Fermepsücholog“ zu sein – also Firmenpsychologe. Da müsste er doch auch ein wenig an Menschen interessiert sein, vielleicht wenigstens an seinen WG-Kollegen, mit denen er nächtelang bechert. Ist er aber nicht. Nicht einmal die Frau, in die er verliebt ist, interessiert ihn so richtig. Vielleicht liegt es daran, dass gerade Sommer ist und Fussball-WM und alle immer ein bisschen betrunken oder bekifft. Oder will die Geschichte uns sagen, dass Provinzmenschen im Allgemeinen vage denken und beziehungsunfähig sind? Das wäre nun ein Vorurteil, dem ich Deutsch und deutlich widersprechen muss.

Der Roman beginnt sommerlich melancholisch und endet mit einem üblen Kater. Er wird wohl keine neue Literaturtradition begründen, und auch ich werde in meinem Blog weiterhin auf dem Boden des Hochdeutschen bleiben, schon wegen Euch Leserinnen und Lesern. Von meinem stillen Kämmerchen aus aber werde ich wohl ab und zu die Schwalben fliegen lassen und ein bisschen mit dieser Sprache experimentieren.

Béla Rothenbühler: „Provenzhauptschtadt“, Verlag Der gesunde Menschenversand, Luzern, 2021

Perücke

Echthaar-Perücke an etwas zu rotwangigem Model (Quelle: lightinthebox.com)
Zweierlei habe ich festgestellt, seit ich um den Krebs weiss: So eine Diagnose verschiebt erstens die Koordinaten der zwischenmenschlichen Beziehungen auf merkwürdige Art. Zum Beispiel wollen einen plötzlich Menschen umarmen, zu denen man eigentlich keine Umarmungs-Beziehung hat. Zweitens: Sobald man sich als Frau einer Chemotherapie unterziehen muss, gehört man zur Zielgruppe einer spezialisierten Wohlfühl- und Gutausseh-Industrie. Schon im Spital bekommt man Müsterchen mit Kosmetika und eine Liste von Coiffeuren, die Perücken vermitteln. Man sieht unzählige Bilder von etwas zu rotwangigen Schönheiten mit Turbanen und Haarteilen. Ich will das nicht kritisieren, wahrscheinlich werde ich sogar auf meine Art froh darum sein, die Chemo beginnt nächste Woche.

Ich befolgte auch den Rat, mir schon vorher von so einer Perücken-Vermittlungsperson einen Haarschnitt verpassen zu lassen. Damit die wissen, was man für Haare hat. Im Spital gab mir jemand eine Liste mit Adressen von solchen Leuten. Auf ihr war der Coiffeur Platzhirsch mehrfach vertreten, der für seine Professionalität und einen etwas pompösen Dekor einen gesalzenen Preis verlangt. Ich wählte statt dessen den Salon Léonie bei uns in der Nähe. Eine Einzelperson mit einem kleinen Lokal in einem Wohnblock.

Ich hatte mir Léonie als nüchterne Geschäftsfrau Ü35 vorgestellt, aber sie erwies sich sehr jung, fast noch ein Mädchen, das ein scheues Wesen hinter ein paar Speckröllchen versteckte. Ihr kleiner Salon ist voller Topfpflanzen, an den Wänden zwischen den Spiegeln ranken hübsche, wahrscheinlich selbst hingemalte Ornamente. Sie hatte einen kleinen Hund bei sich und wenn sie lächelte, tat sie es nicht wie ein Profi, sondern wie ein richtiger Mensch.

Nun ja, sie habe eigentlich bis jetzt wenig mit Perücken und so zu tun gehabt, gestand sie. „Aber eine habe ich besorgt, für eine Frau hier aus dem Haus. Die kann ich Dir zeigen. Sie hat sie gestern zurückgebracht.“ Sie nestelte an einer Schuhschachtel auf dem Ladentisch herum.

Ich sagte: „Ja, wenn das alles vorbei ist, gibt man die Sachen sicher gerne zurück.“

„Nun ja“, sagte Léonie, „es ist eben nicht vorbei. Die Frau räumt gerade ihre Wohnung, sie geht morgen ins Sterbehospiz.“

Ich liess das kurz einsinken. Dann sah ich ihr zu, wie sie eine weissblonde Perücke auf ein Drahtgestell drapierte. Sie erklärte mir erst die haarigen Einzelheiten. Dann erzählte sie mir ganz viel über die Frau, die das Ding getragen hatte: Wo deren erster Tumor ungefähr gesessen habe und dass sie über 80 sei. Schnell war ich sicher, dass ich die Frau nicht kennen konnte. Daher liess ich Léonie erzählen und mir sogar Bilder der Fremden mit Perücke zeigen – von hinten, man sah ihr Gesicht nicht. Aber ich sah eine vielgliedrige Goldkette an ihrem Hals wie meine Mutter eine hat.

Zwischendurch wurden Léonies Augen etwas feucht. „Weisst Du, sie war eine so liebenswürdige Person! Ich habe sie sehr gern gehabt.“ Ich zweifelte leise an der Eignung von Léonie für den emotional fordernden Job der Perückenvermittlerin. Aber es fehlte nicht viel und ich hätte sie umarmt, um sie über den Verlust ihrer Nachbarin zu trösten.