Der älteste Urner hat einen boshaften Schalk. Als wir gestern in Seelisberg unterwegs waren, riss er mir mehrmals den Sonnenhut vom Kopf. Schliesslich fegte er das Ding auf einem Parkplatz unter eine rote Van. Mein Begleiter, der Pedestrian, und ich gingen vor dem Auto ächzend in unsere Ü50-Knie, und ich konnte ihn unter dem Chassis hervorziehen. Danach packte ich ihn weg.
„Der eltischt Ürner“ ist noch viel älter als wir. Er heisst Föhn und ist so alt wie das Wetter in unseren Bergtälern. Er ist ein heisser, trockener Südwind. Im Frühling und Herbst peitscht er den See und lässt seine Böen gegen Bäume und Hauswände krachen. Eine Naturgewalt.
Der Pedestrian und ich wollten von Seelisberg nach Isleten wandern. In Isleten plant der ägyptische Investor Samih Sawiris die weltvergessene Stille des linken Urner Seeufers mit einem mondänen Bootshafen zu stören. Ich wollte Isleten wiedersehen, solange es noch existiert. Unser Ausgangspunkt war Seelisberg, das auf einer Art Balkon am Berg liegt, 350 Meter über dem See. Den Abstieg hätten wir unseren Gelenken zugemutet, doch dann spürten wir die Macht des Sturms. Er liess Äste knarzen, bog grössere Baumstämme und zerrte mich zweimal fast vom Strässchen. Der Pedestrian riet zur Umkehr – niemand will herumfliegende Föhrenäste im Gesicht.
Ich war froh. Mein Körper fühlte sich an wie ein durchgerüttelter Sack voller Knochen, alles schmerzte. Der Föhn steht im Ruf, Migräne zu verursachen. Aber solches Knochenrasseln? Das kenne ich erst, seit ich täglich Letrozol zur Krebsprävention schlucke, und auch dann nur bei besonderem Wetter. Ich war erleichtert, als wir sicher hinter den dicken Mauern des Café Träumli beim Tanzplatz sassen.
Doch ich verspürte auch die beunruhigende Ziellosigkeit, die man hat, wenn man eine Wanderung abbricht. Früher habe ich mal in einem Blogbeitrag ein Loblied auf die Ziellosigkeit geschrieben, aber jetzt? Waren wir jetzt extra in die Berge gekommen, nur um im Café zu sitzen?! Das Missbehagen legte sich allmählich, als wir einige Zeit verplaudert und sich meine Knochen wieder richtig zusammengesetzt hatten. Dann bummelten wir Richtung Seelisberg Dorf.
Schnell kamen wir zum fast verlassenen Hotel Sonnenberg. 1875 während des ersten Schweizer Tourismusbooms erbaut, gehörte es in den 1970er-Jahren dem indischen Guru Maharishi Mahesh Yogi (hier die ganze Geschichte). Wir hatten typisches Föhnwetter: Blendenden Sonnenschein, während dicke Wolken gegen den südlichen Alpenkamm drückten.
Von dort gingen wir hinunter in den alten Dorfkern, verpassten vor lauter Fotografieren das 16.15 Uhr-Postauto und fanden uns schliesslich an der Stelle wieder, wo laut dieser Kurzchronik seit spätestens 1284 ein Kirchlein steht. Das jetzige Gotteshaus wurde 1936 geweiht und ist innen asketisch eingerichtet, mit einem Kreuzweg aus fast schon bürokratisch nummerierten Malereien an den Wänden, sonst nichts. Durch orangerote Glasfenster fiel kränkliches Licht. Der Pedestrian konnte hören, wie der Wind sich mit aller Macht gegen die Mauern warf. Ich nicht. Ich hörte nur ein- oder zweimal pro Minute die Holztüren krachen, als wären wir doch nicht ganz allein hier. Es war gespenstisch. Ich stellte mir eine Sonntagskongregation in den dreissiger Jahren vor, bei Föhnsturm. Ob die Leute sich fürchteten in ihrem neuen Gotteshaus?
Im 17.15-Uhr-Postauto lüftete ich meinen Hut selbst – diesmal um dem ältesten Urner zu danken. Ich konnte meinem Loblied der Ziellosigkeit eine neue Strophe hinzufügen. Es war ein glücklich verplemperter Tag gewesen. Später sah ich auf meinem Wetter-App nach, wie schnell die Böen gewesen waren: 65 km/h.