Schwerhörig: Dichtestress im Park

Frühlingsstimmung. Herr T. und ich spazieren auf der Allmend. Wir wollen gerade das Paar vor uns überholen und setzen zu einer nicht optimal koordinierten Richtungsänderung an. Da gellt von hinten eine Frauenstimme: „Achtung, Joggerin!“ Ich bin noch verdutzt, da schiesst schon eine Frau in roten Shorts zwischen uns nach vorne. Herr T. empfindet ihren Warnruf als Zumutung: „Sie kommt von hinten und will uns überholen. Sie soll gefälligst selbst dafür sorgen, dass sie ohne Rempelei an uns vorbeikommt!“ schimpft er.

Früher sah ich das genauso wie er. Ich empfand es als Übergriff, wenn zum Beispiel Radfahrer hinter mir mich mittels Klingeln aufforderten, gefälligst für sie vom Weg zu jucken. „Heute sehe ich das anders“, sage ich zu Herrn T. „Ich habe keine Chance mehr, Fahrräder zu hören. Ausserdem mache ich wegen meiner Gleichgewichtsstörungen zuweilen unerwartete Gehschlenker. Da ist es mir mittlerweile lieber, wenn Zweiradfahrer klingeln.“

Herr T. ist nicht restlos überzeugt. Und es stimmt ja: Ein Warnruf oder Klingeln allein erklärt noch nicht, ob die Person von hinten links oder rechts überholen will. Vor allem nicht denjenigen, die ein so schlechtes Richtungsgehör haben wie ich.

Schweizerdeutsch 34: ein loses Kleidungsstück

Schlüttli (N, n)

Standdardeutsch: Säuglingsjäckchen; kann aber jedes für andere leicht zu handhabende, lose sitzende Kleidungsstücke verwendet werden.

Am Dienstag war ich für eine Operation im Spital. Nichts Ernstes, aber ich bekam eine Vollnarkose. Seither bin ich zerstreut und mein Kreislauf macht mir zu schaffen. Vorhin habe ich versucht, wieder zu schreiben. Schreiben hilft mir, wenigstens meine Seele wieder mir selbst zurückzugeben. In meinem Tagebuch notierte ich, wie die OP vor sich ging. „Ich musste mich ausziehen und so ein Schlüttli anziehen, wie heisst das bloss auf Deutsch? Mir fällt nur ‚hospital gown‘ ein; ein englischer Ausdruck, an dem im Nebel meiner Erinnerung ein ganzes Gedicht hängt, oder vielleicht ein Song. Was war das nur? Ich google, aber ich finde es nicht heraus.

Wenigstens bei der Übersetzung ins Standarddeutsche hilft Dr. Google: Ich musste einen Krankenhaus-Einweg-Patientenkittel überziehen.

Schwerhörig: Mit dem Mikrofon in den Buchclub?

Soll ich als hochgradig Schwerhörige meinen Kolleginnen und Kollegen im Buchclub immer wieder sagen, dass ich schlecht höre? „Unbedingt, und nicht nur das“, findet meine Kollegin, Frau Wolf, selbst hochgradig schwerhörig. Sie ist ebenfalls in einem Buchclub und nimmt an alle Sitzungen ein Mikrofon mit. Stets achtet sie darauf, dass es im offiziellen Teil der Sitzung konsequent bei jeder Wortmeldung weitergereicht wird und alle Sprechenden es benutzen.

Ich weiss nicht recht“, sage ich. „Ich verstehe rund 40 Prozent von dem, was gesagt wird. Oft reicht das. Und viele Frauen kommen nach einem anstrengenden Arbeitstag in den Buchclub, und nachdem sie ihre Kinder versorgt haben. Die wollen einfach ein bisschen Spass haben und nicht auch noch auf Leute wie mich Rücksicht nehmen müssen! Ja, wenn es eine berufliche Weiterbildung wäre, würde ich auf bestmögliche Teilhabe pochen. Aber im Buchclub?!“ Frau Wolf denkt nach und fragt: „Wie viele Teilnehmde sind es?“ Ich: „So 15 bis 20.“ Sogar Frau Wolf räumt ein, dass es da sehr viel Zeit brauchen würde, für jede Wortmeldung das Mikrofon herumzureichen.

Schweizerdeutsch 32: Ein jugendlicher Tunichtgut

Är esch em Tüüfel ab em Charre gheit

Standarddeutsch: Er ist dem Teufel von der Karre gefallen

Heisst: Er ist ein Tunichtigut. Meist verwenden wir es für unberechenbare, im Extremfall kleinkriminelle Jugendliche; in der Regel aber liebevoll oder mit einem „chli“ – ein wenig – abgeschwächt.

Quelle: zvab.com

Aus dem Manesse-Bändchen mit Schweizer Erzählungen will mein Vater ganz entschieden eine Geschichte von Ludwig Hohl vorgelesen bekommen: „Drei alte Weiber in einem Bergdorf“. Vater sitzt im Rollstuhl und lauscht dieser Schilderung dreier wirklich gruseliger Greisinnen. Verstehe einer meinen Vater! Er könnte einen Klassiker haben, Jeremias Gotthelf oder Gottfried Keller, aber nein, Ludwig Hohl muss es sein. Dabei wissen wir beide nicht einmal recht, wer Ludwig Hohl war. Ich zücke das Handy, konsultiere Wikipedia (hier) und lese vor: „Hatte zeitlebens ein schwieriges Verhältnis zu den Eltern, … besuchte die Kantonsschule Frauenfeld, die er wegen des angeblich schlechten Einflusses auf seine Mitschüler vorzeitig verlassen musste. Als er in Zürich auch an der Handelsschule Minerva gescheitert war, verliess er sein Elternhaus und kehrte nie mehr zurück, … liess sich noch lange von den Eltern finanziell unterstützen.“ Ich schaue auf und schmunzle meinen Vater an: „Dä esch mäini chli em Tüüfel abem Charre gheit.“ Hohl wurde einer der bedeutendsten Schweizer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Zwei linke Hände und ein Wasserhahn

Mein Lieblingshandwerk ist das Zusammenbauen von Buchstaben zu Wörtern und Sätzen. Für alles andere habe ich zwei linke Hände. Als meine Mutter neulich den Zustand des Wasserhahns in unserem Bad bemängelte, seufzte ich. Sie hatte recht, das Sieb im Ausfluss war verkalkt, kleine Wasserstrahlen spritzten in mehrere Richtungen. Herr T. fand es unnötig, etwas zu unternehmen. Ich selbst hatte noch nie so ein Sieb entkalkt. Aber ich hatte schon zugeschaut und wusste, dass man so ein Ding sehr wohl auseinandernehmen kann – dass es aber schwierig sein könnte, es danach wieder richtig zusammenzusetzen. Ich zögerte und zögerte. Doch letzten Samstag hatte ich einfach keine Lust mehr auf Buchstaben und suchte nach einer einfachen, sinnhaften, handwerklichen Tätigkeit. Der Wasserhahn!

Ich schaute mir eine Anleitung in einem YouTube-Video an. Darin kam ein Schraubschlüssel zum Einsatz. Also versuchte ich einen solchen am Wasserhahn anzusetzen, aber der Ring war mit dem Werkzeug nicht zu greifen. Als ich den Ring genauer anschaute, entdeckte ich eine Rille in seiner Mitte. Ob man ihn mit einer Münze aufschrauben könnte? Portmonee geholt und einen Zweifränkler angesetzt. Es ging! Ich hatte die beste Laune seit Tagen.

Ich badete die Teilchen im Ring in Essigwasser und reinigte sie mit einer Zahnbürste. Anschrauben konnte ich das alles auch wieder. Seltsam ist nur: Er spritzt immer noch, wenn auch vielleicht ein bisschen weniger. Aber ich lasse das jetzt mal und komme zurück zu den Buchstaben.

Schweizerdeutsch 31: Was unser Herz öffnet

härzig (Adj)

Standarddeutsch: niedlich, reizend, süss anzusehen

„Härzig“ können alle Menschen sein, die wir als liebreizend empfinden: Frauen, Männer (wenn sie sich auf sympathische Art allzu menschlich verhalten oder gut aussehen), Kinder sowieso. Ferner Tiere, vom Marienkäfer etwa bis zum kleinen Hund. Auch ein junger Elefant kann härzig sein. Das Adjektiv ist auch verwendbar für Blümchen und allerhand kleinere Dekorationen.

Das Wort „niedlich“ verwenden wir überhaupt nicht. Als ich es als Kind zum ersten Mal hörte, glaubte ich, es habe etwas mit „Neid“ zu tun.

Schweizerdeutsch 30: Überfordert vom alltäglichen Wahnsinn

Äinen eläi glaubt’s ned!

Standarddeutsch: „Einer allein glaubt es nicht!“ Im Sinne von: Es ist derart absurd oder gestört, dass einer allein dafür nicht genügend Fassungsvermögen hat.

Eine Redensart, die ich von einer Berner Freundin an der Uni habe. Ich brauchte sie für alle erdenklichen Manifestationen des alltäglichen Wahnsinns. Beispiele: Beim Ferienjob auf dem Briefversand hatte der Chef mich für eine Spät- und eine Frühschicht gleich hintereinander eingetragen. Dazwischen: nur vier Stunden Pause! „Äinen elei glaubt’s ned!“ rief ich kopfschüttelnd und ging zum Chef.

Oder: Die Bürokratin vom Rektorat hatte gerade eine Zahlung gefordert, die ich für ungerechtfertigt hielt. „Äinen elei glaubt’s ned!“ erzählte ich empört Kollegin Rosi, machte zähneknirschend die Zahlung und erhielt Ende Jahr korrekt das Geld zurück.

Oder: Der Zug stand eine halbe Stunde bewegungslos auf der Brücke von Aarburg, ohne Durchsage, ohne Erklärung, ich verpasste in Olten mit 150 anderen den Anschluss. „Äinen elei glaubt’s ned!“ rief ich aus, als ich meinem über meine Verspätung verärgerten Liebsten Konrad die Sachlage schilderte. Das reichte, um ihn zu beschwichtigen.

Wie niedlich waren damals doch unsere Fassungslosigkeiten!

Leben in der Trump-Ära: Bücher aus den USA

Wegen des Zoll-Wahnsinns von Donald Trump sollten wir jetzt keine Waren aus den USA mehr kaufen, heisst es. Bislang erschien mir das einfach. Ich wollte nie einen Harley Davidson, beim Whisky bevorzugen wir – wenn überhaupt – Marken aus den schottischen Highlands und Levi’s Jeans haben eh noch nie zu meinen Kurven gepasst. Vielleicht bestelle ich sogar Netflix ab, dachte ich, und X sollte ich mir sowieso endlich abgewöhnen.

Aber jetzt lese ich, „James“, den überwältigenden Roman des US-Autors Percival Everett. Er erzählt die Geschichte von Huckleberry Finn’s Mississippi-Reise aus der Sicht seines Schwarzen Begleiters Jim – pardon, James. Dieser ist ein entflohener Sklave und schildert eindrücklich, wie er und seine Leidensgenossen schon als Kinder lernen, sich auch sprachlich kleinmachen, um zu überleben. Sklaverei ist gewiss die entsetzlichste Form von Ungleichheit. Aber was Jim da erzählt, ist teils auch auf andere Machtverhältnisse anwendbar. Und: Der Roman ist auf bitterböse Art lustig.

Nein, auf Romane aus den USA will ich nicht verzichten, denke ich. Romanautorinnen und -autoren sind ja auch so selten Republikaner, denke ich. Wir müssen doch die Meinungsvielfalt ennet dem Atlantik aufrechterhalten helfen, denke ich. Ich will nach „James“ auch Mark Twain’s „Abenteuer von Huckleberry Finn“ wieder mal lesen. Dieses Buch werde ich mir aber doch in der Bibliothek besorgen. Und danach werden wir dann sehen, wie teuer uns die Förderung der US-Meinungsvielfalt zu stehen kommt.

Schweizerdeutsch 29: Zeit verplempern

tämpele (V) (auch: tämperle)

Standarddeutsch: Zeit vertrödeln (absichtlich oder einfach so);

Nicht viel los im Büro im Moment. Man hätte Zeit, vor dem Aufbruch noch ein paar sinnvolle Dinge zu erledigen. Aber erst mal noch im Pyjama per E-Mail dem Sekretariat mitteilen, dass man später kommt. Dann den Geschäfts-Posteingang checken und die News online. Kaffee trinken und Zeitung lesen, man liest wieder gründlicher Zeitung als auch schon. Dann nochmals ein Blick in die Geschäftsmails. Duschen gehen wollen. Aber zuerst noch ein bisschen auf X scrollen, dann mit Herrn T. plaudern. Die Kaffeepflanze giessen, sie lässt wieder die Blätter hängen. Im Bad eine kleine Hautunebenheit im Gesicht untersuchen, die Härchen am Kinn auszupfen. Eine leere Shampooflasche im Altplastik entsorgen. Nochmals kurz mit Herr T. plaudern, ach, planen wir doch gleich noch den Filmfestivalbesuch vom Samstag. Endlich duschen. Danach mehr Sorgfalt als üblich bei der Kleiderwahl. Noch eine Notiz ins Tagebuch und, huch! Schon ist es Zeit zum Aufbruch!

Schwerhörigkeit: Der Wert von Ritualen

Früher langweilten mich politische Rituale. Ich wollte das wichtigste in Kürze, keine hingeleierten Sprechakte. Ich weiss nicht, ob es am Alter, an der Weltlage oder an meiner Schwerhörigkeit liegt, aber das hat sich stark geändert.

Das merkte ich zum Beispiel gestern, als das das Schweizer Parlament einen neuen Minister wählte. Das ist immer ein Spektakel. Diesmal ging es um die Nachfolge der abtretenden Verteidigungsministerin. Zwei Männer kandidierten: Martin Pfister und Markus Ritter, beide von der Mitte-Partei. Die Diskussionen im Vorfeld waren schwierig – wie jedes Mal bei solchen Bundesratswahlen. Der Entscheid jedoch fiel bereits im zweiten Wahlgang. Um 9.11 Uhr gab Nationalratspräsidentin Maja Riniker nach dem immergleichen Ritual bekannt: „Gewählt ist mit 134 Stimmen – Martin Pfister.“ Dazu ein Echo in der zweiten Landessprache: „Est élu avec 134 voix ….“. Diesen Moment hört und sieht man danach als Medienkonsumentin den ganzen Tag mehrmals. Hier ist er.

Obwohl ich das alles am Mittag längst wusste hörte ich die Bekanntgabe Rinikers am Radio mit Herrn T. nochmals. Ich mag es nicht, wenn Herr T. mittags Radio hört, ich verstehe dann meistens am Radio nichts und ihn auch nicht mehr. Aber Rinikers deutlich gesprochene, feierliche Ankündigung mochte ich. Ich war sogar gerührt. Der Bundesrat ist wieder vollzählig. Die Welt ist in Ordnung.

Eine deutliche Aussprache ist im Parlamentssaal nötig, denn die Akustik ist in der über 120 Jahre alten Halle nicht die beste. Aber eine so präzis inszenierte Botschaft wird auch Parlamentarier mit nachlassendem Gehör erreichen und sogar Schwerhörige auf den Besuchertribünen. Das Problem könnte bloss gewesen sein, dass beide Kandidaten so ähnlich heissen. Beide tragen die Vokalfolge „a…i i…e“ im Namen.