Diese Woche las ich in „Altern“ von Elke Heidenreich. Ja, ich weiss, alle lesen es jetzt. Das Büchlein beginnt auch mit einigen klugen Gedanken und Einfällen. Aber dann hüpft es so von Zitat zu Zitat, in diesem sympathischen, aber stets atemlosen Ton, den die 81-jährige Heidenreich auch beim Sprechen hat. Ihre Botschaft: Nicht jammern, das Beste draus machen. Auch sie diskutiert den Gemeinplatz „Altern ist nichts für Feiglinge“. Sie schreibt ihn der der US-Schauspielerin Bette Davis zu wie die meisten, auch der Herr Kulturflaneur hier. Das finde ich aber nicht plausibel. Für mich klingt das Wort „Feigling“ militaristisch. Deshalb glaube ich jenen, die es dem Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762 bis 1836) zugeschrieben haben. Ein Preusse, da passt doch Militarismus.
Ich besuchte auch meinen Vater im Talgrund. Auf dem Weg hielt ich kurz im Garten des Altersheims vor dem Seerosenteich. Kinder waren auf dem Nachhauseweg von der Schule. Als ich plötzlich lautes Schreien höre, denke ich erst: Da raufen wohl ein paar Buben. Aber das Schreien dauert an, es klingt nun wie das Protestgebrüll eines Kleinkindes, hartnäckig und hilflos zugleich. Ich drehe mich um und sehe bei der Ecke ein sehr altes Paar, er schiebt sie in einem Wägelchen vor sich her, fast ein Kinderwagen. Sie gehen Richtung Demenzabteilung. Die Frau schreit und schreit. Etwas vom Verstörendsten, was ich je gehört habe.
Ich ging schnell von dannen und dachte: „Jaja, Elke, erzähl Du nur schön von Goethe und von Deinem Hund und von der Feigheit!“. Ich meine: Feiglinge haben eine Wahl gehabt, kämpfen oder davonlaufen. Wer davongelaufen ist, ist feige (oder hat vielleicht seine Möglichkeiten realistischer eingeschätzt als jene, die ihn Feigling nennen). Und wenn wir unsere Zipperlein zählen, können wir uns gönnerhaft auf die Schulter klopfen und sagen: „Ha, wir halten das alles aus! Wir sind eben tapfer.“ Aber die alte Frau im Wägeli hat doch keine Wahl! Wie soll sie denn davonlaufen? Ihr Mann ist möglicherweise ein Held. Aber sie: Ist sie tapfer, vielleicht sogar eine Heldin?
Elke Heidenreich: „Altern*, Hanser berlin, 2024, aus der Reihe „Das Leben lesen“.