Spenden oder nicht spenden?

Wie eine Lawine ergossen sich in den letzten Wochen Bettelbriefe auf meinen Schreibtisch. Neulich habe ich eine Stunde damit verbracht, die meisten Briefe zu entsorgen und jene zu retten, die ich für beachtenswert halte. Wir sind von der Krise bislang zum Glück nur marginal betroffen, daher können wir spenden und tun dies auch.

Eins der Couverts enthält den Spendenaufruf einer schweizerisch-russischen Stiftung, der ich seit vielen Jahren verbunden bin. Ich kenne dessen Schweizer Gründer. Er lebt in einem russischen Landstädtchen südlich von Moskau und hat sich in den neunziger Jahren in ein Hilfsprojekt für die von der Staatskrise Betroffenen dort gestürzt. 1998 oder 1999 war ich mit Freunden bei ihm zu Besuch. Ich hatte die Gelegenheit, mit zahlreichen Russinnen und Russen zu sprechen – etwa mit einer Uni-Professorin, die beim Zerfall der Sowjetunion aus Tadschikistan hatte fliehen müssen. Sie gehörte dem sowjetischen Mittelstand an, doch durch die Währungskrise hatte sie nun auch noch ihre Ersparnisse verloren. Ich sprach mit Lehrpersonen, deren Löhne nur sporadisch ausgezahlt wurden – weshalb sie im Herbst oft nicht in die Schule gingen, sondern auf ihren Datschen Kartoffeln ausgruben. Ich hörte von Korruption, Armut und Alkoholismus. Ich sah traumatisierte Menschen und einen kaputten Staat. Und doch: Ich habe dort zum ersten Mal gesehen, wie Leute in wirklicher Not zusammenhalten und einander in Wärme verbunden sind. Es war eine hervorragende Lebensschule für mich.

Aus Dankbarkeit habe ich der Stiftung seither Jahr für Jahr vor Weihnachten einen nicht zu knappen Beitrag zukommen lassen. Die Probleme in Russland wurden zwar weniger, aber es gab immer noch die Ärmsten, die Essenspakete mit Grundnahrungsmitteln gut brauchen konnten und Invalide, die von der Stiftung Brennholz bekamen – Überlebenshilfe im russischen Winter.

Dieses Jahr drehte ich den Bettelbrief unschlüssig in den Händen, legte ihn zu den zu bezahlenden Rechnungen und zahlte dann doch nicht. Statt dessen las ich den Begleitbrief der früheren Stiftungspräsidentin. Sie betont die politische Neutralität der Stiftung, erwähnt, dass auch in Russland die Preise dramatisch gestiegen sind und schreibt: „So treffen die Sanktionen auch diesmal diejenigen am Härtesten, die am allerwenigsten Schuld tragen.“

Beim Lesen bricht mir fast das Herz – aber ich weiss immer noch nicht, ob ich spenden soll oder nicht. Was würdet Ihr tun?

Wovor wir uns in der Politik wirklich fürchten sollten

In der vergangenen Woche tauchte in den Medien kurz die Meldung auf, immer weniger junge Menschen würden sich für News interessieren (siehe zum Beispiel hier). 38 Prozent der jungen Menschen seien „news-depriviert“. „Depriviert“ kommt vom Lateinischen „privare“, zu Deutsch „berauben“. Fast die Hälfte unserer jungen Erwachsenen sind also der News beraubt. Das warf keine hohen Wellen, denn die Beraubten fühlen sich nicht beraubt, im Gegenteil: News, gerade über Politik, finden sie langweilig und zu traditionellen Massenmedien haben sie wenig Vertrauen.

Meldungen dieser Art kommen einmal im Jahr, und weil ich selbst einmal eine politisch höchst naive junge Erwachsene war, haben sie mir früher auch kaum Sorgen bereitet. „Diese jungen Leute werden schon noch richtig erwachsen“, dachte ich jeweils. Ausserdem habe ich einen Patensohn, der Co-Präsident eines Jugendparlamentes ist. Es gibt also auch politisch aktive junge Leute. Solange der Staat funktioniert und fast alle einen Job und eine Wohnung haben, ist das Desinteresse an News auch kein politisches Problem, sondern lediglich ein wirtschaftliches, für die Medienhäuser. Dachte ich.

Aber dann kam die Pandemie, während der viele Menschen erstmals die Existenz des Staates überhaupt bemerkten, und zwar negativ. Da haben wir schmerzlich erfahren, was Leute anrichten können, die plötzlich und aus kompletter Ahnungslosigkeit heraus politisiert werden. Sie wollten „selber denken“. Sie informierten sich auf Plattformen, die elementare Anforderungen an die Wahrhaftigkeit und Sachlichkeit nicht erfüllten. Anforderungen, denen ausgebildete Journalistinnen und Journalisten normalerweise schon aus Professionalität gerecht werden – und wenn dies einmal nicht der Fall ist, sorgt das zu Recht für Empörung, etwa im Fall Relotius.

Die Selber-„denker“ bildeten eine Bewegung, wurden zur Machtbasis der Libertären und Rechtsextremen und merkten es nicht mal. In der Schweiz war der Höhepunkt, dass sich eines Donnerstagnachts in der Hauptstadt ein paar Leute – vom Mob geschützt – mit Brechstangen an den Absperrgittern vor dem Bundeshaus  zu schaffen machten. Ich habe in meinem Leben ab und zu demonstriert – aber diesmal stand ich auf der Seite jener, die froh waren, dass ein paar kräftige Wasserwerfer die Angreifer wegfegten.

Die breite Öffentlichkeit hat das schon fast wieder vergessen. Ich nicht, und ich fürchte, dass die Pandemie ein laues Lüftchen gewesen sein könnte im Vergleich zu dem, was uns die Zukunft bringen wird. Ausserdem weiss ich dank meiner Hannah Arendt-Lektüre, dass politisch desinteressierte Menschen, die von allen anderen Parteien als „zu dumm und apathisch aufgegeben worden waren“*, zur bevorzugten Zielgruppe faschistischer Demagogen werden. Man kann in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ nachlesen, wie diese Demagogen dann arbeiten, um durch Wahlen legitimierte Parlamente lächerlich aussehen zu lassen. Mit Hilfe der Bewegung reissen sie Macht an sich. Danach sind ihnen die Bewegten meist herzlich egal. Diese Demagogen gibt es schon, sie heissen zum Beispiel Trump oder Orban oder – in der Schweiz – Roger Köppel.

Ich warf einen Blick in die News und stellte fest: Vielleicht stehe ich auf verlorenem Posten, vielleicht haben die Libertären und Faschistinnen in Europa schon gewonnen. Dennoch setzte ich mich hin und schrieb meinem Gottenbuben ein Whatsapp: „Lieber Tim, bitte sag mir: Was sagst Du zu jungen Leuten, die sich für Politik überhaupt nicht interessieren?“

Hannah Arendt: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, Serie Piper, 1986, S. 668.

Wie ich in Paris reisen lernte

Die vergangenen fünf Tage haben Herr T. und ich in Paris verbracht. Eigentlich hatten wir das ganze Jahr über andere, ambitioniertere Reisepläne gehabt. Aber diese scheiterten umständehalber gleich reihenweise. Blieb Paris. Mein Herz hatte zwar nie so richtig für die französische Metropole geschlagen, glaubte ich. Dennoch stiegen wir am Montagmorgen in einen TGV. Am Montagabend stand ich auf der Bastille und sah den blaugolden erleuchteten Engel auf der Säule in der Mitte und den tosenden Verkehr rundum.

Die Julisäule auf der Place de la Bastille erinnert an die Opfer des Juli-Aufstandes von 1830 (und natürlich auf den Sturm der Bastille 1789, den Beginn der Französischen Revolution).

Paris-Korrespondentinnen des Schweizer Fernsehens nutzen Kreisel wie diesen oft als Hintergrund für ihre Berichte. Daher erwartete ich, den Platz alltäglich und lärmig zu finden, so gewöhnlich, wie ich diese Plätze auf meinen früheren Paris-Reisen gefunden hatte. Aber irgendetwas liess mich das alles diesmal mit ganz neuen Augen sehen, vielleicht war es das blaugoldene Licht. Es erinnerte daran, dass in einem Land mit blaugoldener Flagge genau an jenem Tag Menschen in einem Raketenhagel gestorben waren, für etwas, was hier, genau hier, einen seiner Anfänge genommen hat.

Am Mittwoch streiften Herr T. am Eifelturm vorbei Richtung Arc de Triomphe. Ich erinnerte mich plötzlich sehr klar an meinen ersten Besuch in Paris, mit 20, mit einer Schulkollegin. Wir zwei Frauen waren mit einem Interrail-Ticket unterwegs, sie wollte nach Paris, ich nach London, wir fingen mit Paris an. Ich erinnerte mich, wie ich dort ankam und erwartete, „es“ zu sehen. Das, wofür so viele Menschen nach Paris reisten. Aber ich sah es nicht. Ich fand die Champs-Elysées zu schäbig und die Avenue Kléber zu schick und den Eiffelturm eine gigantische Touristenfalle. Mich faszinierten sehr wohl die silbern und weiss leuchtenden Häuser der Stadt, aber das konnte nicht „es“ sein. Ich liess sehr wohl den Blick sehnsüchtig über die Gesichter maghrebinischer Migranten im Barbès huschen, aber auch das konnte nicht „es“ sein. Ich fühlte mich verloren und gab mich blasiert. Dass wir lediglich einen Reiseführer für Interrail-Touristinnen hatten, der Paris in zwei Seiten abhandelte und nichts erklärte, machte alles auch nicht besser. 2022 schüttelte ich, nunmehr 57-jährig, den Kopf über mein 20-jähriges Ich. Ich erstieg mit Herrn T. den Arc de Triomphe, und diesmal erschlug „es“ mich schier, ich sah die gewaltige Grösse dieser Stadt, ihr Leuchten, sogar an jenem trüben Tag.

Schon am Vortag hatten mich in einer Gasse im Marais die Erinnerungen überflutet, jene an meinen zweiten Besuch in Paris, 1986. Damals reiste ich mit einer anderen Freundin, nennen wir sie Frau Fernweh. Wir verfügten nun über einen Reiseführer aus der damals populären Reihe „Anders reisen“, und mit diesem Buch griffbereit in der Tasche streiften wir durch das Quartier. Wir spazierten von Park zu Park, von Gasse zu Gasse, sahen die Läden und die Menschen, und einmal kauften wir in einem kleinen, arabisch anmutenden Laden Handtücher in hellen Farben. Ich habe meins heute noch. An jenem Tag habe ich flanieren gelernt und das Reisen so, wie ich es in meinem späteren Leben praktizieren sollte. Ohne Erwartungen, dafür mit einem aufmerksamen, wenn möglich gut informierten Blick auf das Hier und Jetzt.

Herr T. holte mich in die Gegenwart zurück. Er klagte: „Ach, es ist alles so schick hier! Ich mag Quartiere mit so vielen schicken Läden nicht.“ Aber ich hatte mich eingelesen, auch auf dem Internet. Ich hatte meine Antwort bereit: „Weisst Du, vor 30 Jahren war es hier ganz anders! Es ist halt alles gentrifiziert worden seither.“ Mit dem Wort „gentrifiziert“ kann mein Geographen-Ehemann etwas anfangen. Nun sah er „es“ auch. Hoffe ich jedenfalls.

So wurde diese Reise nach Paris für mich zu einem gigantischen Bilderbuch über das, was wir gewesen und geworden sind. Es war eine Reise voller Entdeckungen. Und ich habe oft daran gedacht, dass solche Reisen auch ein kostbares Privileg sind. Aber das ist eine andere Geschichte.

Dostojewski und der Mann mit dem Messer

Verhinderter Heiland. Der Protagonist von „Der Idiot“-

Man kann einen guten Roman auf 1000 Arten lesen, und „Der Idiot“ von Dostojewski ist ein guter Roman. Aber ich muss jetzt Farbe bekennen. Ich muss sagen, dass ich die Lesart der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko berechtigt finde (ich habe sie hier kurz zusammengefasst). Diese Geschichte weckt in der Tat Verständnis für mindestens einen sehr grausamen Menschen – und die westliche Literaturkritik hat dies meines Wissens geflissentlich übersehen. Die Rede ist – Achtung, alles Folgende ist ein ausführlicher Spoiler! – vom Messerstecher Rogoschin.

Rogoschin begegnet dem Romanhelden, Fürst Myschkin, gleich auf dem ersten Seiten, im Nachtzug nach St. Petersburg. Schon hier erscheint Rogoschin als an sich unsympathischer Mensch, dessen Lippen sich „fortwährend zu einem dreisten, spöttischen, sogar boshaften Lächeln“ verformten (S. 6.). Sein Gesicht erwecke den Anschein einer „peinvollen Leidenschaftlichkeit“. Er nähert sich Myschkin in „ungenierter, geringschätziger“ (S. 7) Weise und nicht ohne Schadenfreude darüber, dass der junge Fürst für die russische Novemberkälte nicht warm genug gekleidet ist.

Während der Erzähler die Physiognomie Rogoschins genau studiert hat, übersieht der Romanheld Myschkin die Warnsignale im Gesicht des Fremden – vielleicht wider besseres Wissen. Er antwortet mit geradezu naiver Offenheit auf all seine Fragen und fühlt sich sogar zu ihm hingezogen.

Hier muss ich ein paar Worte zu Fürst Myschkin sagen. Mit ihm habe Dostojewski einen „ganz und gar positiven Charakter“ mit einer „absolut schönen Natur“ gestalten wollen, einen wahren Christen, steht hier. Man kann Myschkin als eine Art verhinderten Heiland sehen. Und natürlich legt es der Roman darauf an, dass wir auf seiner Seite stehen. In der Tat will der Fürst immer alle vor sich selbst retten. Dabei nimmt er, obwohl er Epileptiker ist, wenig Rücksicht auf seine eigene Verletzlichkeit.

Es ist Rogoschin, der ihn schliesslich in den Abgrund zerrt. Ich muss gestehen, dass Rogoschin mir in seiner übergrossen Impulsivität fast schon als Klischee-Russe herübergekommen ist. Beispiel: Er verliebt sich unsterblich in eine Frau, die er nur ein einziges Mal auf der Strasse gesehen hat. Sogleich bestiehlt er seinen Vater, um dieser Frau, Nastasja Filippowna, ein luxuriöses Geschenk zu machen. In der deutschsprachigen Rezeption ist  von den „unkontrollierbaren, bösen Geistern“ Rogoschins die Rede. Man kann ihn auch einfach als Kriminellen sehen.

Auch Myschkin liebt Nastasja Filippowna. Es entsteht eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung. Am Ende lässt die Frau Myschkin am Traualtar hängen und flüchtet zu Rogoschin. Dieser ersticht sie, wahrscheinlich aus Eifersucht. Und was macht Myschkin? Geht er zur Polizei, um den Mörder an der Gerichtsbarkeit auszuliefern? Ich bin nicht sicher, ob es eine funktionierende Polizei in Russland Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt gab. Jedenfalls tut Myschkin etwas ganz anderes: Er legt sich zum nun fiebernden Mörder und streicht ihm eine ganze Nacht lang begütigend übers Haar, während im Nebenzimmer die Leiche liegt. Ist das wirklich Güte? Ist es nicht vielmehr Komplizität mit einem Verbrecher?

I Got Life, Mother!

Seit Anfang Woche arbeite ich wieder im Büro. Das ist schwieriger als ich gedacht habe. Ich fühle mich wie abgeschnitten von den anderen, die ich zum Teil monatelang nicht gesehen habe. Ein Neuanfang, auf den niemand gewartet hat.

Aber gestern Mittag ging ich mit dem Herrn Grossstadtrat zu Mittag essen. Wir speisten im Bistro an der Tagblattstrasse. Er ist ein langjähriger Kunde, und mit den Jahren sind unsere Treffen ungeschäftlicher und unsere Gespräche entspannter geworden.  Hinter uns sassen zwei pensionierte Herren Stadträte, die ich früher interviewt habe, und ihre ebenfalls pensionierten Chefbeamten. Niemand kann so viel Heiterkeit verbreiten wie Politiker, die ihre Arbeit getan haben und sich endlich in Ruhe ein Gläschen gönnen dürfen. Es ist sogar für die Leute am Nebentisch ansteckend.

Später traten der Herr Grossstadtrat und ich auf die Strasse, die Bäume am Strassenrand waren gelb, der Himmel strahlte. Als wir uns verabschiedeten, parkierte gerade eine junge Frau ihr Fahrrad beim Veloständer nebenan. Es war die Frau SP-Regierungsratskandidatin, nach der sich der Herr Grossstadtrat verstohlen umblickte.

Ich blickte in den Himmel und fühlte mich wie eben geboren. In meinem Kopf erschallte plötzlich ein Song, den ich seit Jahren nicht mehr gehört habe. Aber ich hörte ihn klar, jede Modulation in der Stimme des Sängers, und ich konnte erstaunlicherweise weite Strecken des Textes auswendig: „I got life, mother; I got laughs, sister; I got freedom, brother; I got good times, man.

I got crazy ways, daughter; I got million dollar charm, cousin; I got headaches and toothaches; And bad times too like you!

I got my hair; I got my head; I got my brains; … I got my ass; I got my arms; I got my hands; I got my fingers; I got my legs; I got my feet; I got my toes; I got my liver; I got my blood;  got my guts; got my muscles I got life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)Life (life)“
Hier und hier alles darüber.

Wenn ein Tisch dagewesen wäre, hätte ich glatt darauf zu tanzen begonnen.

 

Was von Dostojewski zu Putin führt

Oksana Sabuschko, die „streitbare“ Intellektuelle, die meine Dostojewksi-Lektüre veränderte.

Ihr erinnert Euch: Mein Freund, Slawist Chäppeli, sagte während eines Spaziergangs, Dostojewki solle man jetzt nicht mehr lesen. Das war eine in zurückhaltendem Ton gemachte Äusserung, und später widerrief er sie auch schriftlich: „Ich möchte nur klarstellen: Nie würde ich sagen, dass man heute den Roman nicht mehr lesen könne oder solle.“ Gleichzeitig schickte er mir zwei Links, um zu erklären, wie er überhaupt auf diese Aussage gekommen sei.

Der  erste führte zu einer Polemik der ukrainischen Schriftstellerin Oksana Sabuschko, „eine der streitbarsten Intellektuellen der Ukraine“, wie die NZZ schreibt, die den Essay auf Deutsch veröffentlicht hat. Er ist zuallererst eine Anklage gegen den Westen, der das Entstehen eines neuen Totalitarismus in Russland gut zwanzig Jahre lang sträflich übersehen habe. Dann schimpft sie auf jene westlichen Intellektuellen, die nun versuchen würden, das Böse zu verstehen, zu rationalisieren, sich in Putins Hirn hineinzudenken und so in Dialog mit dem Serienmörder zu treten. Das sei der Situation nicht im mindesten angemessen. Der Westen habe sich vom Kreml jahrzehntelang an der Nase herumführen lassen.

Aber was hat die russische Literatur, noch dazu jene des 19. Jahrhunderts, mit Putin zu tun? Sabuschkos Antwort: „Man“ habe die russische Literatur ja immer „für europäisch und humanistisch“ gehalten. Dabei habe sie 200 Jahre lang ein Weltbild genährt, „in dem man den Verbrecher nicht verurteilt, sondern bedauert und Mitleid mit ihm hat.“

Und dann kommt die Abrechnung mit Dostojewski, „mit seinem Kult der Emotion und der gleichzeitig offen zu Schau getragenen Verachtung der Vernunft.“ Dostojewski stehe ausserhalb der europäischen Literatur, das habe schon Milan Kundera gesehen, jener berühmte Tscheche, der das Wüten der Sowjets im eigenen Land erlebte. Aber im Westen habe man ihn niedergeschrien, als er das sagte. Sie schreibt sogar, die Invasion vom 24. Februar sei „reines Dostojewskitum“ gewesen, die Explosion „reiner destillierter Bösartigkeit, eines lange unterdrückten historischen Neids und Hasses, verstärkt durch das Gefühl absoluter Straflosigkeit.“

Die Entgegnung des russischen Exil-Schriftstellers Michail Shishkin im zweiten Link wirkt dagegen reichlich blass, ihr müsst sie selbst lesen.

Ich konnte diese Aussagen von Sabuschko zunächst überhaupt nicht akzeptieren, ich gestehe: Ich verstand kaum, was sie mir sagen wollte. Ich meine, ich verstand und verstehe den Hass der Ukrainer auf die Russen – aber noch schwankte ich an manchen Tagen selbst Richtung mildem Putin-Verstehertum. Wahrscheinlich, weil ich mich einfach zu sehr vor der Alternative fürchtete: dass Sabuschko recht haben könnte, zumindest mit ihrer Darstellung von Putins Russland. Wenn man den Mann verstünde, dachte ich, könnte man mit ihm verhandeln und gut ist. Aber an anderen Tagen sah ich klar, dass das nicht geht. Und ahnte, was das für uns alle bedeutet – und wie sehr uns der grinsende Teufel im Kreml zum Narren gehalten hat.

Die Ereignisse der vergangenen Woche haben Sabuschko, was die Politik betrifft, leider Gottes mehr als Recht gegeben. Das heisst: Ich fürchte mich jetzt immer noch, aber ich weiss wenigstens besser, wo ich dabei stehe. Und nach und nach veränderte das auch meine Lektüre von „Der Idiot“. Doch dazu dann später mehr.

 

 

Dostojewski lesen

Eines Sonntags im Juli  traf ich bei der nachbarschaftlichen Kehrichtsammelstelle den Doppelbuddha. Damals war ich noch kahl, hatte aber vergessen, mir einen Hut aufzusetzen. Ich hatte nur ein Käppi aus Strumpfstoff an, wie man es unter Perücken trägt.

„Meine Güte, hast Du Chemo?!“ rief der Doppelbuddha aus. Er tat dies derart spontan, dass ich sehr berührt war. Ich bejahte, wir redeten, und irgendwann sagte ich:  „Ach, weisst Du, das Gute daran ist: Man hat viel Zeit zum Lesen. Ich nehme mir gerade so richtig dicke Wälzer vor.“ Er sagte: „Na, dann könntest Du ja mal Dostojewski lesen. Ich leihe Dir ‚Der Idiot‘ aus, wenn Du willst.“ Weil er so nett gewesen war, sagte ich nach einigem Zögern: „Ok, sehr gerne! Wenn Du ihn vorbeibringst, dann komm doch gleich mit Frau Doppelbuddha zum Apero!“ So machten wir es und hatten einen sehr vergnüglichen Abend.

Dann begann ich, den Roman zu lesen, 950 Seiten. Ein Stück Weltliteratur, dem – so hatte ich im Literaturstudium gelernt – mit grösster Hochachtung zu begegnen ist. Ich befürchtete gepflegte Langeweile, aber „Der Idiot“ elektrisierte mich am Anfang geradezu. Die zwei Fremden, die im Zug nach St. Petersburg Bekanntschaft schliessen!  Die mysteriöse Schönheit Nastasja Filippowna! Als Teenager von ihrem Adoptivvater sexuell missbraucht, wird sie von der Gesellschaft als gefallene Frau behandelt. Dass man ihren Stiefvater ins Gefängnis stecken sollte, kommt niemandem in den Sinn! Was für eine Welt!

Die zwei Männer aus dem Zug verfallen Nastasja Filippovna schnell mit Haut und Haaren: der reiche Kaufmannssohn Rogoschin sowie der als Idiot bezeichnete Protagonist des Romans, der junge Fürst Myschkin. Myschkin ist Epileptiker und gerade von einem jahrelangen Kuraufenthalt in den Schweizer Bergen zurückgekehrt. Er ist ein herzensguter, aber in gesellschaftlichen Dingen total unbeholfener Jüngling.

Es ist kein familientauglicher Gesellschaftsroman, wie wir sie sonst aus dem 19. Jahrhundert kennen. Myschkin denkt viel über Grausamkeit, Armut und Tod nach. Auch das packte mich. Ich hatte mich selbst mit Fragen zu beschäftigen, die man nicht so leicht familientauglich abhandeln kann.

Am 31. August ging ich mit meinem alten Freund, dem Slawisten und Zweifler Chäppeli, spazieren. Wir diskutierten zuerst ein bisschen über den Zustand der Welt, den Krieg und all das. Dann erzählte ich ihm freudig von meiner Dostojewski-Lektüre und fragte ihn, was er von dem Roman gehalten habe. Er zögerte, wie es seine Art ist und sagte dann: „Nun ja, Dostojewski sollte man ja jetzt auch nicht mehr lesen.“

Es war die Zeit, als alle Welt über „Der junge Winnetou“ und andere Arten kultureller Aneignung diskutierte, und ich dachte: „Oh nein, nicht noch mehr Zensur! Man kann doch einen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nicht für die Verbrechen des 21. schuldig sprechen!“ Aber Chäppelis Bemerkung sollte meinen Blick auf das Buch erheblich verändern.

 

Stromfresser Staubsauger

Heute Morgen loteten Herr T. und ich die Grenzen unserer Stromspar-Manie aus. Herr T. testete mit seinem Messgerät den Stromverbrauch des Staubsaugers. Sein „Du meine Güte!“ übertönte das Sausen des Motors im himmelblauen Gehäuse. Es stellte sich heraus: Das Ding verbraucht 3300 Watt! „Das ist ein Grund, weniger staubzusaugen“, meinte er. Er hasst das Geräusch von Staubsaugern. Ich bringe unser Teil meist zum Einsatz, wenn er gerade einkaufen geht. „Nein, nein, nein“, sagte ich. Wahrlich, ich bin als Putzfrau Minimalistin aus Überzeugung – schon daher können wir bei der Haushalts-Hygiene keine weiteren Abstriche machen.

Letzte Woche haben wir erschreckende Geschichten über die Steigerung der Strom- und Gaspreise in Deutschland gehört. Hierzulande fallen die Nachrichten zu diesen Themen etwas gemässigter aus – die Teuerung beim Strom liegt in einigen wenigen Gemeinden bei maximal 230 Prozent, in anderen sind es 2 Prozent oder weniger. Es hat auch damit zu tun, dass bei uns der Strommarkt nicht vollständig liberalisiert ist wie in den Staaten der EU. Wir haben das 2002 bei einer Volksabstimmung verhindert. Für Ottilia Normalverbraucherin gibt es bei uns immer noch in jedem Dorf höchstens drei, meistens nur einen Stromanbieter. Unter anderem wegen dieser fehlenden Strommarkt-Liberalisierung hatten wir dann aber Unstimmigkeiten mit der EU, die zum Abbruch der Verhandlungen über einen Rahmenvertrag geführt haben. Zum ersten Mal bin ich gerade froh, dass wir  den nicht haben.

 

Wie wir Strom sparen

Ich muss hier vorausschicken, dass die Strompreise in unserer Stadt lediglich um rund 33 Prozent steigen werden. Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, wird uns das nicht in existenzielle Schwierigkeiten bringen. Unser Versuch, weniger Strom zu verbrauchen, ist daher eher ein Beitrag an das Wohlergehen der Allgemeinheit: Damit „der Pfuus“ für alle länger reicht. Damit wir weniger das Gefühl haben, in dieser Krise ohnmächtig dazusitzen. Und das tun wir:

  • Schon seit August spare ich täglich früh morgens beim Zeitungsholen eine Liftfahrt aus dem fünften Stock nach unten ein. Aufwärts klappt’s noch nicht so mit dem zu Fuss gehen. Einmal täglich keuche stur treppauf, seit wir hier wohnen. Aber für mehr bin ich noch zu faul.
  • Ich separiere meine 30-Grad-Wäsche nicht mehr nach hellen, roten und blau/schwarzen Kleidungsstücken, sondern wasche kunterbunt alles miteinander. Meist nehme ich auch noch Sachen von Herrn T. dazu, damit die Trommel voll wird. Das habe ich früher nicht gemacht, wir hatten einen emanzipierten Haushalt, Herr T. machte seine Wäsche selbst. Ich füllte die Trommeln oft nur zu einem Drittel. Mit dem neuen Regime haben wir die verbrauchte Waschenergie wahrscheinlich um ungefähr ein Drittel reduziert. Farbunfälle gab’s bis jetzt keine.
  • Ich stelle alle meine Computer abends ab, und die Steckerleisten ebenfalls. Herr T. macht das auch beim Fernseher.
  • Wenn ich sehe, dass eine Lampe brennt, die wir gerade nicht brauchen, schalte ich sie sofort aus. Ich habe von Leuten gehört, die mit solchen Massnahmen ihren Verbrauch halbiert haben.
  • Ich habe einfach mal ein bisschen drauflos gespart. Herr T. war gründlicher und hat ein Gerät gekauft, mit dem er den Verbrauch eines jeden einzelnen Teils messen kann, das wir in die Dose stecken. Erfreulich: Mein Homeoffice verbraucht wenig Strom – lediglich um die 60 Watt, was gleich viel ist wie Grossmutters Lampenbirnen anno dazumal – und das mit zwei Monitoren.  Extrem sparsam sind die Lampenbirnen der neuesten Generation, sie verbrennen gerade noch 4 Watt pro Stück. Aber die unangenehme Überraschung: Die Design-Lampe in unserer Küche (ein Herzstück unseres Haushalts und täglich morgens und abends im Gebrauch) frisst nicht weniger als 122 Watt. Wir versuchen jetzt, sie nicht einfach  brennen zu lassen wie früher.

Ich dachte, solcherlei Sparübungen würden ein bisschen einschenken. Ich dachte, viele würden dasselbe tun wie wir. Aber am 19. September gab’s vom Bund Zahlen über den Stromverbrauch der Schweiz im August 2022: Er ist im Vergleich zum Vorjahr lediglich um 1 Prozent gesunken.

Fieberträume auf der Zielgeraden

Auf meinem Nachttisch lag diese Karte aus einem Buch, das mir ein Nachbar geliehen hatte.
Bis Montag pilgerte ich täglich ins Kantonsspital zur Bestrahlung. Ich lag in einem leeren Raum auf dem Schragen, während seltsame Apparate um mich herum ihre Kreise drehten wie unbewohnte Planeten. Ich hatte erwartet, irgendwelche Strahlen zu sehen, eine Art Laser. Aber das ist natürlich dumm – ionisierende Strahlen sieht man ja nicht.

Einer der Planeten ist eine Halbkugel, deren flache Seite mit einer Glasscheibe bedeckt ist. Dahinter sieht man eiserne Zähne sich bewegen, als kaue dort ein grimmiges Felsenorakel etwas Unsichtbares. Ich habe immer hundert Fragen an das Orakel, wenn ich so daliege. Aber ich konnte sie nicht einmal in Worte fassen und sowieso nicht aussprechen. Egal, dachte ich. Ich bin auf der Zielgeraden. Bald bin ich nach bestem Wissen und Gewissen auskuriert. Ich ein neues Leben geschenkt bekommen – noch bevor ich richtig begriffen habe, dass ich eins brauche.

15 Termine sind es insgesamt, am Montag hatte ich den achten. Unter dem Orakel tat mir da schon der Hals weh, und gegen Abend stieg meine Temperatur. Dann kam eine eine jener Nächte, in denen man Väterchen Frost in den Gliedern spürt und glaubt, gar nicht zu schlafen und doch siebenmal dasselbe träumt. Der Bestrahlungstermin fiel ins Wasser, ich legte mich ins Bett und las, wenn ich konnte. Auf meinem Nachttisch lag die Karte aus einem Buch, das Nachbar Doppelbuddha mir ausgeliehen hatte.

Ich finde Fiebertage an sich spannend, sie machen seltsame Dinge mit dem Gehirn. Solange ich annehmen kann, dass nachher wieder alles gut ist, gebe ich mich gerne dem Delirium hin, das sich so ab 38.8 Grad Celsius bei mir einzustellen pflegt. Gegen Abend spürte ich Flammen aus meinen Knochen gegen das Duvet züngeln und alles tat weh und ich dachte: „Jetzt strecke ich mich aus und lasse mich vom Tod wegtragen.“ Ich probierte zehn Minuten lang aus, ob das tatsächlich möglich wäre, dann drehte ich mich um und erblickte auf dem Nachttischchen das Bild, das mir diesen albernen Gedanken überhaupt eingeflösst hatte. Ich stand auf und machte mir ein Neocitran. Danach ebbte das Fieber ab.

Am nächsten Tag ging ich ins Covid-19-Testzentrum. Und siehe da: Ich war positiv. Die Bestrahlung fällt somit bis Montag ins Wasser. Aber jetzt huste ich nur noch ein bisschen. Und ich kann wieder Dinge in Wort fassen. Alles wird gut.