St. Malo: Flut und Ebbe

 

Der Weg hinüber nach Grand Bé bei Ebbe.

Einen Tag lang will ich dem heissen Sirren in meinem Kopf gehorchen, in St. Malo verweilen und so gut wie nichts tun. Ich werfe einen Blick in den Gezeitenkalender. „Ebbe ist um 10.45 Uhr“, sagte ich zu Herrn T. „Das reicht für einen Spaziergang nach Grand Bé.“ Grand Bé und Petit Bé sind zwei Inselchen gleich hinter den Toren der Stadt. Bei Ebbe gelangt man auf einem Strässchen nach Grand Bé. Wenn das Wasser steigt, wird der Weg überschwemmt. Rechtzeitige Rückkehr ans Festland empfiehlt sich.

Gesagt, getan. Grand Bé ist klein und rau, im Juni blüht es dort in allen Farben. Wir verweilen aber nicht lange. Dass das Wasser schon wieder steigt, macht sogar Herrn T. nervös.

Später flanieren wir auf der Stadtmauer. Von dort aus hat man Ausblick auf das Strässchen nach Grand Bé, und so werden wir bald Zeugen eines heiteren Spektakels. An dem Gehweg züngelt nun „la marée“ hoch, die Flut. Bald deckt ein Fussbreit Wasser die höchste Stelle der Verbindung. Die letzten Rückkehrer ziehen die Schuhe aus und waten durch das Wasser, ein Paar trägt einen Kinderwagen ans Festland. Überall stehen Leute auf der Stadtbefestigung und schauen zu.

St. Malo: Ankommen

Neun Stunden Zug fahren, die Reisetaschen ins Hotel stellen, zehn Minuten einer schnurgeraden Strasse entlanggehen – und dann stehen wir vor den Mauern der Stadt St. Malo. Mir klappt der Mund auf vor Begeisterung. Ich habe mir ein Fischerdorf vorgestellt, goldener Sand, heitere, rotweisse Sonnenschirmchen. Oder vielleicht windschiefes Korsarentum. Nicht diese aristokratische Strenge. Rundum Schiffe, weiter hinten das Meer, oh, das Meer! Die Felsen, der Sand, okker-grau. Der Wind, der uns in die Kleider fährt.

Alles so neu, so aufregend, ich will alles sehen, alles erforschen, gleich jetzt. Aber da ist dieses heisse Sirren in meinem Kopf, mehr als Tinnitus, mehr als Müdigkeit, eine Warnung.

Hinter den Stadtmauern die Restaurants, wir lesen Speisekarten, sieben Jahre Französisch-Unterricht und ich verstehe mehrheitlich Bahnhof, Herr T. lotst mich ins Châteaubriand, ein Bistro mit erschwinglichen Preisen in einem kleinen Palast und bestellte weltmännisch moûles frîtes. „Seltsam, dass es die jetzt schon gibt, man sollte sie nur in Monaten mit einem ‚r‘ essen“, sagt er, aber da spachteln wir schon herzhaft, die frites sind dünn und knusprig, die moules noch klein, und dazu ein Glas Weisswein.

 

Warum nur haben so viele Le Pen gewählt?

„Le Pen liebt Putin“, steht wahrscheinlich an dieser Wand. Hinweis auf die bevorstehen Wahlen im Juni 2024 im Hafen der Insel Ouessant.

Mit einer Notfall-Taktik hat Mitte-links in Frankreich einen Wahlsieg von Marine Le Pens Rassemblement National verhindert. Zum Glück, denke ich. Denn ich glaube nicht, dass Le Pens europaskeptischer Kurs die Probleme der Menschen in Frankreich lösen könnte. Im Gegenteil.

Letztes Jahr konnten Herr T. und ich besichtigen, wie posteuropäische Verzweiflung in kleinen Städten  Grossbritanniens für Reisende aussieht: Das eine Hotel hatte eine ausgebrannten Küche, das andere ein völlig zugemülltes Geistergeschoss. An den Einkaufsstrassen mit Sperrholz verbarrikadierte Schaufenster, auch an guten Lagen. Zerfallende Häuser überall. In der Bretagne gibt es diese Art von Verwahrlosung nur an wenigen Orten. Klar, es gibt Bettelnde, die mit hohlen Gesichtern vor den Kathedralen stehen. Aber sind es mehr als in anderen europäischen Städten? Die Hotelzimmer jedenfalls sind meist picobello, die Stadtzentren fast alle richtig schnuckelig. Die Leute hier scheinen nicht so verzweifelt, dass sie  rechtsextrem wählen müssten. Und doch hat Marine Le Pen auch hier mächtig zugelegt.

Warum diese Unzufriedenheit? Ich kam wegen meiner Schwerhörigkeit selten mit Leuten ins Gespräch. Aber einmal habe ich mit meiner Schulfreundin Mélanie telefoniert, die mit ihrem Mann in Frankreich einen Bauernhof hat. Wir wollten uns treffen. Mélanie trug schon Brillengläser wie Flaschenböden, als wir beide zwölf waren. Mittlerweile sieht sie so schlecht, dass sie nicht Auto fahren kann (ich ja auch nicht mehr). Sie sitzt in ihrem Dorf fest – denn da, wo sie wohnt, gibt es keinen öffentlichen Verkehr. Ich meine: einfach keinen, im Umkreis von vielen Kilometern.

Und dann ist da ihre Tochter. Die 19-jährige Lou will Physiotherapeutin werden, und dafür muss sie studieren. „Die Matura hat sie bestanden, jetzt steht sie auf mehreren Uni-Wartelisten. In Nantes auf Platz 13, in Rennes auf Platz 5. Krankenschwester könnte sie werden, sie hat eine Lehrstelle auf sicher, aber das will sie nicht. Ich meine: Als Du damals die Matura gemacht hast, da konntest Du doch alles studieren, was Du wolltest, oder?!“

Das System für höhere Ausbildungen in Frankreich ist so stressig, dass sich mein Adrenalinschub auf der Buslinie 91 in Paris dagegen angenehm prickelnd ausnahm. Bis zum 13. Juli müssen sich die Hochleistungs-Kinder mit den besten Plätzen auf den Wartelisten entschieden haben, an welche Unis sie denn nun wollen. Mélanie sagt es nicht, aber es hängt in der Leitung zwischen uns: Hochleistungs-Kinder sind oft auch die Kinder von akademisch gebildeten Eltern. Lou muss also warten, bis die jeunesse dorée sich entschieden hat – die Chancen sind gut, dass doch noch ein Platz für sie frei wird. Aber bis man Genaueres weiss …!

Es war ein schönes Gespräch. Wir hätten uns beide gerne in die Arme geschlossen, da bin ich mir sicher. Aber ich ahnte auch, dass sie mit Selbstzweifeln kämpft, vielleicht mit verhaltenem Neid darüber, dass mein Mann und ich müssig in Frankreich herumkurvten, während sie dasitzt und für ihre Tochter fiebert. Ich weiss nicht, ob sie Französin geworden ist und falls ja, wen sie gewählt hat. Aber ich könnte mir vorstellen, dass solche Sorgen der Stoff sind, aus dem rechte Wahlsiege gemacht werden.

Nur: EU-skeptisch und fremdenfeindlich wählen ist keine Antwort. Das lässt sich für Französinnen und Franzosen relativ leicht herausfinden: mit einem Reisli auf die andere Seite des Ärmelkanals. Wenn der öffentliche Verkehr vor der Haustür fehlt, sollte man sich bei einer derart existenziellen Frage ausnahmsweise von der Nachbarin bis zum nächsten Bahnhof chauffieren lassen.

Höchstspannung in Paris

„Taxi, Metro oder Bus?“ fragte Herr T. Das war am Freitag. Unser TGV aus der Bretagne schickte sich an, pünktlich um 13.19 Uhr in die Gare de Montparnasse in Paris zu gleiten. Dort stand uns der Wechsel an die Gare de Lyon bevor, wo unser Zug nach Basel um 14.22 Uhr abfahren sollte. Die Metro schien diesmal eher ungeeignet. Google.maps.com empfahl Bus Nummer 91. Er verbinde die beiden Bahnhöfe direkt, hiess es, und brauche für die Strecke 37 Minuten. Frau Frogg stellte sich einen Shuttle vor, nur für Touris und ohne Haltestellen und dachte: Diesmal kein Taxi. „Nehmen wir den Bus“, sagte sie. Herr T. kaufte noch schnell zwei Fahrkarten, direkt an der Bar des Zuges. Guter Service, dachte ich.

Kaum hatte der Zug seine Türen geöffnet, stürmten Dutzende Reisende mit Sack und Pack zum Bahnhofportal. Dort befinden sich links die Taxistände und rechts die Haltestelle für unseren Bus. Schnell rückte weit hinten links der 91er ins Gesichtsfeld. Mittlerweile hatten sich jedoch TGV-Passagiere zahlreich auf die wartenden Taxis gestürzt. Volle Autos drängelten auf die Fahrspur und versperrten dem Bus den Weg. Wir konnten ihn weit hinten gefühlte zehn Minuten im Stau stehen sehen. Frau Frogg’s Adrenalinspiegel stieg.

Endlich stand Bus Nummer 91 vor uns und öffnete seine Türen. Zahlreiche Reisende bugsierten ihre Koffer ins Fahrzeug und mussten noch Billette kaufen. Das Fahrzeug war rappelvoll und ein ganz normaler Stadtbus, in dem auch Pariser*innen mehr oder weniger gemütlich zu- und wieder ausstiegen. Wenn wir Zeit gehabt hätten, wäre die Fahrt ein Genuss für Flaneurin Frogg gewesen. Der Bus rumpelte von Rotlicht zu Rotlicht, von Haltestelle zu Haltestelle. Wir passierten das Café am Boulevard Montparnasse, in dem Herr T. und ich im Herbst 2022 etwas gegessen hatten und möglicherweise auch Ernest Hemingway’s seinerzeitiges Lieblingscafé. Aber für sowas hatte ich jetzt überhaupt keine Geduld! Mein Blick klebte an Herrn T.s Armbanduhr am Haltegriff vor meiner Nase.

Die Minuten verstrichen, der Zeiger rückte gegen 14 Uhr, dann weiter. Es war wie in einem Hitchcock-Film. Höhepunkt: Eine ältere, blinde Frau stieg zu, liebevoll geführt von einer anderen Frau, beide ahnten nichts von der Hochspannung unter den Reisenden im Bus. Bei der übernächsten Haltestelle stiegen sie wieder aus, im Zeitlupentempo, schien es mir. Ach Gott, dann verpassen wir halt den Zug, sagte ich mir. Dann verbringen wir vielleicht die Nacht in Paris, das ist doch nicht so schlimm! Aber ich wollte den Zug nicht verpassen. Ich wollte nach Hause.

Es war nach 14.10 Uhr, als der Fahrer vor der Gare de Lyon stoppte. Eine einheimische Mitpassagierin hatte Herrn T. zuvorkommend auf ihrem Handy die Nummer des Gleises gezeigt, auf dem unser TGV bereitstand. Soll nie mehr jemand behaupten, die Pariser*innen seien unfreundliche Leute!

Nun war höchste Eile angesagt. Denn die Gare de Lyon ist ein grosser Bahnhof, er hat drei Hallen, 2022 benützten ihn 102 Millionen Fahrgäste, und vorgestern waren es auch nicht wenige. Mit einem halben Dutzend anderen Touris bugsierten wir unser Gepäck ein schmales Treppchen hoch. Dann hetzten wir durch freitägliches Bahnhofsgedränge in die zweite Halle, wo unser TGV tatsächlich bereitstand. Wir fanden unseren Platz. Dann fuhr der Zug los.

Und, ja, nun sind wir wieder zu Hause, und ich werde ein bisschen von unserer Reise in die Bretagne erzählen.

Finistère

Finistère, das heisst Ende der Erde, Ende des Bodens, Neudeutsch: Ende Gelände. Hier blickt man von den Klippen aus auf den Atlantik Richtung Westen und denkt: nächster Halt Amerika! Oder so stelle ich mir das jedenfalls vor.

Es kommt mir vor, als hätten wir vorgestern erst Silvester gefeiert und meinen Vater in den Talgrund bugsiert, das war im Januar – und jetzt ist schon wieder ein halbes Jahr um und wir haben Ferien und fahren weg.

Herr T. wollte ja dieses Jahr partout nicht nach Grossbritannien, aber irgendwie kamen wir dann auf Klein-Britannien, die Bretagne.

Dort gibt es Orte mit gälisch klingenden Namen, zum Beispiel Aber Wrac’h. Und tatsächlich heisst „Aber“ dort ungefähr das gleiche wie in Wales, nämlich „Mündung“. Es könnte mir dort gefallen.

Somit ist hier für die nächsten paar Wochen wohl Ende Gelände. Ich winke zum Abschied.

Über Schwerhörigkeit bloggen

Eine Bekannte von mir hat als @ohrkaputt auf Instagram einen höchst sehenswerten Feed. Die Protagonistin saust dort mit Mann, Kind und Schwerhörigkeit auf fröhlichen Cartoons durch ihren Alltag. Neulich thematisierte @ohrkaputt etwa das Paradox, dass Schwerhörige oft sehr lärmempfindlich sind. Das Material ist ansprechend verknappt – da ist ein Profi am Werk. Dringend nötige und wirksame Aufklärung, auch für Hörende.

Dann blicke ich jeweils stirnrunzelnd auf meinen eigenen Blog. Vielleicht sollte ich mehr über Schwerhörigkeit schreiben, denke ich. Ich meine: Meine Posts zu diesem Thema gehören zu den meistgelesenen. Freud’scher Verhörer etwa kommt auf sagenhafte 397 Klicks. Und doch sträube ich mich, aus zwei Gründen. Erstens will ich hier gar nichts Professionelles tun. Ich will hier kussbereit bleiben. Ich will wie die vom Liebeszauber berauschte Feenkönigin Titania dem erstbesten Thema verfallen, das mir an einem Morgen so begegnet. Und dann will ich, Königin und gewissenlose Womansplainerin, unverkürzt darüber schwadronieren.

Zweitens, und wichtiger: Ich habe irgendwann festgestellt, dass so eine Menière-Erkrankung zwar beengend ist. Dass es aber hilft, wenn man nicht die ganze Zeit um sie kreist. Ich habe beschlossen: Ich will zeigen, dass ich einen Horizont habe, der über meine Behinderung hinausgeht. Dass es möglich ist, schwerhörig zu sein und zum Beispiel über Politik nachzudenken. Oder über Bücher.

Das ist nicht so wirksam. Aber wichtig ist es eben auch. @ohrkaputt solltet Ihr Euch trotzdem anschauen.

 

Geert gegen Geert – zu den Europawahlen

Geert Wilders, Rechtspopulist; Jahrgang 1963 (Quelle: Wikipedia)

Anlässlich der EU-Wahlen wollte ich Geert Mak googeln. Kaum hatte ich „Geert“ getippt, schlug die Suchmaschine mir Geert Wilders vor. Nun, den kennen die meisten. Er ist der bekannteste Rechtspopulist der Niederlande und Sieger der letzten Wahlen dort. Seine vor einiger Zeit noch ausdrücklich EU-skeptische Partei kandidiert auch für die EU-Wahlen.

Wilders ist gewissermassen die Antithese zu jenem Geert, den ich tatsächlich googeln wollte: Geert Mak, niederländischer Schriftsteller, Journalist, begeisterter Chronist der europäischen Geschichte. Ich lese gerade sein 1999 erarbeitetes Buch „In Europa“. Bei jedem Satz des 900-Seiten-Wälzers wird deutlicher, dass seit der damaligen Reise von Herrn Mak ein ganzes Vierteljahrhundert verflossen ist. Wie sehr Europa sich seither verändert hat! Wir erinnern uns an die EU 1999: Der Euro stand vor der Einführung, die EU-Osterweiterung lag in der Luft. Den Rechtspopulismus war noch unbedeutend.

Geert Mak, Journalist, geboren 1946 (Quelle: geertmak.nl)

Mak reiste kreuz und quer durch den Kontinent, machte Recherchen über die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert und schrieb zunächst Kurzbeiträge. Diese erschienen auf der Front seiner Zeitung, des liberalen NRC-Handelsblad. Im Jahr 1999 waren gedruckte Zeitungen noch ehrwürdige Hüterinnen der Demokratie. 2024 sind gedruckte Zeitungen ökonomisch schwer bedrängt und viel diffamiert. Das NRC-Handelsblad gibt es noch, im Print mit einer Auflage von 145000, und auch digital. Aber ich weiss nicht, ob das Blatt heute die Reisen von Herrn Mak bezahlen könnte. Überhaupt, die Digitalisierung: Mak reist bereits mit einem Mobiltelefon und gar einem Notebook (das war damals der letzte Schrei), aber er hatte noch kein Smartphone, statt dessen eine CD-ROM der Encyclopedia Britannica und 15 Kilo Bücher im Gepäck (Seite 21). Weiss heute noch jemand, was eine CD-ROM ist?

Angekommen in Paris, rühmt Mak 1999 die „sechs Gemüsehändler, fünf Bäcker, fünf Schlachter und drei Fischhändler“ an seinem kurzen Weg vom Hotel zum Boulevard (Seite 31). Vor meinem geistigen Auge taucht eine Erinnerung an den Herbst 2022 auf: die leere, ehemalige Metzgerei neben unserem Hotel an der Rue du Faubourg St. Antoine. Ursachen für leere Ladenlokale in der EU heute: die Pandemie. Der unaufhaltsame Vormarsch der Grossverteiler. Und wieder: die Digitalisierung.

Maks nächstes Reiseziel ist London – diese Destination würde er wohl heute  auslassen, Grund: der Brexit.

Wirklich unheimlich wird es aber, als der Autor das Grauen des Ersten Weltkrieges (1914 bis 1918) schildert. Ob Mak sich 1999 vorstellen konnte, dass 2024 ein ähnlicher Krieg am östlichen Rand des Kontinents toben wird? Heute sagen viele Expert*innen: Die Zukunft Europas wird in der Ukraine entschieden. Wichtigste Aufgabe der EU werde nun sein, ihre Haltung zu Putin zu klären.

Diesbezüglich haben die beiden Geerts nun sehr unterschiedliche Meinungen. Geert Wilders ist ein erklärter Putin-Freund, siehe hier, wie so viele seiner rechten Kollegen. Und was sagt sein Gegenpart, Herr Mak? Er hat news.at 2023 ein sehr kenntnisreiches Interview gegeben – hier. Man müsse in der EU mit dem komplizierten Nachbarn Russland leben lernen, einem Mafiastaat, sagt er. Das heisse: Die EU müsse sich bewaffnen, um sich vor ihm zu schützen. Auf die Amerikaner sei diesbezüglich kein Verlass mehr.

Ich habe als Schweizerin nichts zu melden, wenn es um die Zukunft der EU geht. Trotzdem sage ich es hier: In dieser Sache stehe ich auf der Seite von Geert Mak.


Geert Mak hat bereits selbst eine Fortsetzung seines Euro-Epos vom Anfang des Jahrhunderts verfasst. Es heisst „Grosse Erwartungen – auf den Spuren des europäischen Traums“ (erschienen im August 2020). Oder eben: Geert Mak: „In Europa“, Pantheon Verlag, 2004.

Über die Liebe, die Ehe und den Schwindel

Rebecca Solnit

Ein Besuch im Bücher-Brocky spülte mir den Titel „A Field Guide to Getting Lost“*,  von Rebecca Solnit in die Tasche. Als ich zu lesen begann, verliebte ich mich sofort in den Text oder vielleicht auch die Autorin. Die Autorin: geboren 1961. Eine Frau meiner Generation, eine Wanderin und Spaziergängerin. Die Texte: träumerische Essays über das Sich-Verirren, im weiten Land oder als Mensch. Es sind auch Essays über die Liebe, die oft klingen, als wären sie über meine eigenen Liebschaften, jene der Vergangenheit und die heutige. Die heutige: eine fürsorglich-routinierte Ehe. Fast täglich fragt mein Mann: „Hast Du gut geschlafen?“ Oder: „Hast Du die Zeitung schon geholt?“ Oder: „Willst Du Suppe essen?“ Er fragt stets mit einer leisen Ironie, als könnten sich hinter der schieren Banalität dieser Fragen ungeahnte Möglichkeiten verbergen – aber dann vertiefen wir uns halt doch in die Zeitung oder essen Suppe.

Das alles wird in ein merkwürdiges Licht gestellt von Solnit’s Gedanken über Alfred Hitchock’s Meisterwerk „Vertigo“. Ihr erinnert Euch: eine Liebesgeschichte zwischen Privatdetektiv Scottie Ferguson und einer blonden Frau mit einer seltsam verschwommenen Identität. Scottie soll herausfinden, wer sie ist, und verliebt sich in sie. Sie ist jedoch schwer suizidal. Als sie auf einen Kirchturm flüchtet, kann er ihr nicht folgen, denn er leidet an Höhenangst. Er muss zusehen, wie sie vom Turm springt und stirbt. Diese Angst des Protagonisten vor der Tiefe versteht Solnit als Metapher für seine innere Unzulänglichkeit.

Dem Phänomen der Höhenangst** widmet Solnit mehrere Seiten. Sie beschreibt eine Besteigung des Mount Whitney in Kalifornien, 4419 Meter über Meer. Dabei kommt sie von Osten her und hat zunächst nur Blick auf die Landschaft auf der einen Seite des Berges. Sie schreibt: „Einen Gipfel zu besteigen, wird immer als Eroberung dargestellt. Aber wenn Du höher und höher steigst, wird die Welt grösser und grösser, und Du fühlst Dich kleiner im Verhältnis zu ihr, bist überwältigt und befreit, weil so viel Raum um Dich herum ist.“ (S. 151). Dann überwindet Solnit die letzten Meter und blickt über den Grat: „Plötzlich erscheint die Welt im Westen vor Dir, eine gigantische Weite. … Die Welt verdoppelt ihre Grösse. Etwas Ähnliches geschieht, wenn Du jemanden wirklich siehst – und das ist der Grund, weshalb alle in ‚Vertigo‘ immer wieder fallen.“ (S. 152) Mit anderen Worten: Scottie kann die Geliebte nicht retten, weil es ihn überfordert, sie wirklich zu sehen. Oder das, was seine Verbindung mit ihr ist oder sein könnte.

Seither frage ich mich: Was heisst das, jemanden wirklich zu sehen? Ich meine, unsere Ehe gleicht keiner Gipfel-Erstürmung – mehr einem Marsch auf den oft glatten, teils unwegsamen Pfaden des Alltags. Aber: Welche ungeahnten Möglichkeiten sieht Herr T., wenn er fragt, ob ich eine Suppe will? Und: Ist es auch ok, sich der gigantischen Grösse einer Liebe nicht täglich bewusst zu sein?

*Rebecca Solnit: „A Field Guide to Getting Lost“, Penguin, 2006. Ich habe hier bewusst den englischen Titel angegeben, der romantisch und ominös klingt. Der deutsche Titel lautet: „Die Kunst, sich zu verlieren – ein Wegweiser“. Das wirkt für meinen Geschmack zu putzig.

** Als Menière-Patientin muss ich anmerken, dass hier von Höhenangst die Rede ist, nicht von Drehschwindel, obwohl im Film-Trailer Drehschwindel dargestellt wird. Wer mir hier allenfalls eine psychosomatische Lesart des Textes aufzwingen will, hat den Ernst einer Menière-Erkrankung nicht erkannt und gehört mit nur einer halben Stunde zünftigem Drehschwindel bestraft.

Neue Freud’sche Verhörer

Der Frühling ist hierzulande auch die Zeit der Generalversammlungen. Als hochgradig Schwerhörige meide ich solche Treffen. Ich verstehe trotz guter Hörgeräte meist sowieso nicht, was gesagt wird. Ausnahme ist die Jahresversammlung unserer Wohnbaugenossenschaft. Da gehe ich immer hin, auch, weil sie exzellent vertont ist. Ich verstehe jeweils fast alles, aber manchmal verhöre ich mich.

Etwa, als unser Vizepräsident eine langjährige Vorständin verabschiedete. „12 Jahre lang hat sie uns ihr wackliges Knowhow zur Verfügung gestellt.“

Wackliges Knowhow? Das kann er nicht gesagt haben! Die Frau vorne hatte ein sympathisches Lächeln und einen eisgrauen, kompetenten Haarschnitt. Bestimmt meinte er „ihr fachliches Knowhow“, entschied ich.

Ja, und dann feiert unsere Wohnbaugenossenschaft auch noch ihr hundertjähriges Bestehen. Der Präsident sagte daher zum Schluss: „Heute findet auch unser Überlebensfest statt, zu dem ich Sie herzlich einlade.“

Überlebensfest? Eine Genossenschaft mit fast 2200 Wohnungen und nach Präsentation einer erfreulichen Jahresbilanz? Nein, er muss das Jubiläumsfest gemeint haben.

Ältere Freud’sche Verhörer gibt’s hier und hier.

 

Meine Meinung über Nemo ist non-binär

Gesangsstar Nemo (Quelle: Facebook.com)

Am Sonntagmorgen segelte ich auf einer rosa Wolke des Patriotismus zum Frühstücktisch. Dort machte sich meine Freundin Helga aus Deutschland gerade eine Tasse Getreidekaffee. „Wir haben den Eurovision Song Contest gewonnen!“ strahlte ich. Nemo heisst das 25-jährige, non-binäre Wesen aus Biel, das am Samstagabend in Malmö ganz Europa hingerissen hatte (hier geht’s zum Film). Beim Kaffeetrinken kamen wir dann auf den kleinstaatlichen Aspekt der Sache zu sprechen. „Weisst Du, der Song Contest ist in der Schweiz schon total verpolitisiert“, berichtete ich unserem Gast. „Denn jetzt müssen wir die nächste Austragung durchführen, und die Kosten sind für ein verhältnismässig kleines Land verhältnismässig hoch. Die Rede war von 20 Millionen Euro.“ Ich grinse selbstironisch. Ich weiss, dass es schwierig ist, Deutschen zu erklären, dass wir hier in der Schweiz für irgendetwas kein Geld haben könnten.

„Ich bitte Dich!“ sagte Helga prompt, „Luxemburg ist ein noch viel kleineres Land und hat den Eurovision Song Contest in den 68 Jahren seines Bestehens viermal ausgerichtet.“ Nun ja, wo sie recht hat, hat sie recht, dachte ich. Erst später habe ich hier gesehen: Luxemburg hat sich 1993 vom Wettbewerb zurückgezogen, aus Kostengründen. Ausserdem kennt Helga das Gift der helvetischen Debatte über Fernsehgelder nicht. Die SVP, unsere Rechtspartei, will die Gebühren für das öffentlich-rechtliche Fernsehen und Radio massiv kürzen. So ein Eurovision Song Contest, noch dazu gewonnen von einer non-binären Person – meine rosa Wolke löste sich in düsteren Vorahnungen über kommende Debatten auf.

F¨ünf Tage später muss ich leider melden, dass meine Befürchtungen sich bewahrheitet haben. Die Schweiz hält es nicht aus, einen Sieg zu geniessen. Das einzige, was wir hierzulande noch kollektiv können, ist streiten, meistens um Geld. Ich habe zwar selbst feministische Fragen zur Non-Binarität, (hier habe ich das angetönt). Aber mir wurde derart übel von der rechten Hetze gegen non-binäre Menschen allgemein und Nemo im Besonderen, dass ich in Gedanken an einen guten Ort floh: auf den Berg, auf dem Helga und ich später spazierten und uns einig waren, dass wir in unserem Alter (ich bin Jahrgang 1965) zur Non-Binarität nicht mehr unbedingt eine dezidierte Meinung haben müssen.

Aber dass wir aus dem European Song Contest nächstes Jahr ein wunderschönes Fest machen sollten, dafür bin ich ganz entschieden.