
In meinem letzten Beitrag über London habe ich es in meiner Phantasie bis auf den Vorplatz des Bahnhofs Charing Cross geschafft. Dort habe ich Herrn T. bewiesen, dass auf diesem Viereck der Mittelpunkt von London steht. Nun lasse ich den Blick weiter schweifen. Auf der Strasse vor dem Platz sehe ich etwas, was sehr wahrscheinlich auch bei meinem zweiten Begleiter, dem Gottenbuben Tim, sehr alte Erinnerungen wachrufen wird: die roten Busse, die dort in grosser Zahl vorbeiholpern.
Es könnte ein solches Fahrzeug sein, die seine Begeisterung für London begründet hat. Als er klein war, war er oft in unserer alten Wohnung zu Besuch. Dann musste ich ihn auf den Heizkörper stellen, damit er durch das Fenster zur 500 Meter entfernten Bahnlinie hinuntersah, die nach Zürich führt. Dann und wann ratterte dort ein zwar nicht roter, aber doch doppelstöckiger Schnellzug vorbei. Dann rief Tim: „Schau, ein London-Zug!“ Er muss einen doppelstöckigen Bus unter seinen Spielzeugautos gehabt haben.
Lustigerweise steht ein solcher roter Spielzeugbus auch am Anfang meiner lange Jahre bedingungslosen Liebe für die Kapitale des UK. Als ich zwei oder drei Jahre alt war, besuchte mein Vater zwecks Weiterbildung einen Sprachkurs in England, von wo er mir einen als Souvenir nach Hause brachte. Das Ding soll mein Lieblingsspielzeug gewesen sein – auch als es sich längst an der Sollbruchstelle zwischen den beiden Stockwerken zweigeteilt hatte und nur sehr unzulänglich mit Schnüren oder Klebstreifen zusammengehalten wurde.
Jahre später, als junge Anglistik-Studentin diskutierte ich einmal mit einem Kollegen über die Frage, woher unsere gemeinsame Obsession für das im Grunde recht unbedeutend gewordene Königreich kam. „Bei mir war es die Musik – und ein Bus“, sagte ich. Bei der Musik redeten wir von einem Horizont, der von den Beatles bis zu The Clash reichte – London Calling. Der Bus war vielleicht ein Symbol für die Liebe eines kleinen Kindes zum vorübergehend abwesenden Papa. Vielleicht aber einfach auch Sinnbild jener Skurrilität und Verrücktheit, die wir damals schon den Brit*innen andichteten. Heute kommt es mir vor wie der reine Irrsinn, dass solche Kriterien damals die Wahl unseres Studienfachs beeinflussen konnten. Aber es waren eben andere Zeiten.
Hier geht das Magazin TimeOut der Frage nach, warum der London-Bus rot ist.