Seltsame Begegnung im zertrümmerten Paradies

Heute führte mich ein ein Spaziergang an die Drachenfliegenstrasse. 18 Jahre lang hatten Herr T. und ich dort gewohnt, bevor wir im Juni 2019 wegzogen. Es war unser Paradies, aber jetzt gehe ich nur noch selten dort vorbei. Wir sind glücklich an unserer neuen Adresse. Wenn es doch tue, sehe ich manchmal nach, ob die früheren Nachbarn noch dort wohnen. Oder ob es Anzeichen gibt, dass die Bauherrin endlich die Abbruchpläne ins Werk setzen kann, wegen denen wir weggezogen sind.

Das Projekt war jahrelang blockiert. 2022 zogen ukrainische Familien in die schon leergekündigten Häuser auf der anderen Strassenseite. Auf unserer Seite blieben einige Alteingesessene noch lange. Heute jedoch sind die Bäume am Strassenrand: abgesägt. Alle Wohnungen auf unserer Seite: leer. Verwunschene Gärten und geheime Pfade: planiert. Es riecht nach niedergemähtem Bärlauch. An den Hausecken: Lose Haufen aus Wohntrümmern und abgesägten Ästen. Ich irre umher, die Gespenster der Vergangenheit überwältigen mich.

Hier. An dieser Ecke habe ich einmal ein paar Worte mit Herrn Rüedi gewechselt, der gerade sein Gartenbeet pützelte. Seine Frau sah mich vom Liegestuhl aus böse an. Glaubte sie wirklich, ich wolle mit ihrem Ehemann schäkern? Wenige Jahre danach fuhr Herr Rüedi eines Morgens mit dem Velo aus und kam nicht zurück – ein tödlicher Herzinfarkt riss ihn unterwegs vom Rad. Das weiss ich, weil ich mich später, zunächst widerwillig, mit Frau Rüedi anfreundete. Sie hiess mit Vornamen Katharina, er hatte Karl geheissen, und einmal hat sie mir ihre hinreissende Liebesgeschichte erzählt (hier und hier und hier). Katharina ist auch weggezogen, aber ich finde sie unter ihrer neuen Adresse nicht mehr. Ob sie zu ihrem Karl heimgegangen ist?

Eine alte Frau mit einer sorgfältig toupierten, mahagonifarbenen Frisur tappt mir am Gehstock entgegen. „Verrückt, nicht?“ sage ich, als wir uns begegnen. Sie lächelt. Sie hat dritte Zähne und ein leeres Gesicht und bleibt stumm. Schwerhörig? Dement?

Ich gehe weiter, und hier! Hier hatte ein korpulenter, älterer Herr sein Gärtchen. Er grüsste nur mürrisch, kultivierte ungewöhnliches Gemüse, Catalogna vielleicht, und bewässerte es mit blauen PET-Wasserflaschen aus Italien. Jetzt: nur noch Dreck und Trümmer, ein paar Buben spielen im Unrat. Und hier: Hier hatte Mahika ihr Beet mit Himbeerstauden. Direkt vor dem Zimmer ihrer Tochter Sita im Erdgeschoss. Das Zimmer, ach Gott, es hatte Schimmel an den Wänden und Sita ständig Bronchitis, und so zogen die beiden weg. Sita sehe ich manchmal in der Stadt und Mahika …, ich sollte sie besuchen, aber sie wohnt so weit weg. Ich blicke zum Fenster von Sitas einstigem Zimmer. Die Scheibe ist kaputt.

Da kommt wieder die Frau mit dem mahagonifarbenen Haar. Ich versuche es noch einmal. „Haben sie auch hier gewohnt?“ frage ich. Sie lächelt wieder ihr leeres Lächeln. Dann sagt sie: „Russia.“ Hä!?` „Sie sind Russin?“ Sie nickt.

Was macht eine Russin hier? Ukrainerin, ja. Aber eine Russin? Misstrauen, Neugier und Freundlichkeit streiten kurz in mir, es gewinnen Neugier und Freundlichkeit. Ich recke meinen Zeigefinger Richtung andere Strassenseite, wo die Häuser noch bewohnt sind. Sie nickt. Ich kann es mir nur so erklären: Sie ist eine geflüchtete Ukrainern russischer Herkunft, die dort drüben wohnt. Ich versuche, mit ihr zu sprechen, in allen Sprachen, die ich kann. Ich hätte hundert Fragen. Sie schüttelt nur den Kopf. Russisch kann ich nicht, verdammt!

Auf dem Nachhauseweg schwelge ich in meinem Schmerz, aber dann fällt mir die alte Russin ein und dass sie tausendmal mehr verloren hat als ich. Und  vielleicht noch nicht einmal ein neues Zuhause.

Ärger mit WordPress

Eben stelle ich fest: Irgendetwas an WordPress wurde „aktualisiert“. Hat zur Folge, dass ich auf den meisten Blogs, die ich lese, nicht mehr liken und Kommentieren kann. Zu auf privat geschalteten Blogs zum Beispiel von Nell, Erinnye und Milou habe ich leider gar keinen Zugang mehr. Ich muss jetzt weg. Falls jemand hier vorbeikommt und zufällig weiss, worum es geht, bitte melden. Sonst versuche ich das Problem über Ostern mit Herrn T. zu lösen.

Edit: Es geht wieder. Fragt mich nicht, wie. Aber es geht 🙂

Über die Abschaffung des Geschlechts

Ungefähr so wären die Arbeitskräfte meiner Geschlechter-Utopie gekleidet gewesen. Frau und Mann würden aber nebeneinander stehen. (Quelle: joom.com)

Endlich habe ich begriffen, warum Gender-Diversität in den letzten Jahren ein derart grosses Thema geworden ist. Weshalb wir in jeder erdenklichen Lebenslage dazu aufgerufen sind, über sie zu reden, sie anzuerkennen und sie zu preisen. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts war das noch anders. Nehmen wir das Arbeitsleben als Beispiel: Damals waren wir Frauen in vielen Branchen die nicht allzu willkommene Diversität. Aus Vorsicht gaben unsere wie auch immer geartete Gender-Identität beim Sekretariat ab, bevor wir uns am Morgen an die Arbeit machten. Nichts sollte den Verdacht erwecken, dass wir nicht die volle Leistung bringen könnten. Merke: Männer bestimmten meist, was volle Leistung ist. Volle Leistung bringen hiess für Frauen auch, stets angemessen gestylt sein. Im Arbeitsleben lauerte allerhand Ungemach: Eine etwas zu intime Beziehung zu einem Vorgesetzten, es wird ruchbar und, zack, weg ist sie (nicht er)! Es war lange vor MeToo. Judith Butler nennt diesen Zustand Phallogozentrismus und wie ich war sie damit nicht sonderlich glücklich.

Meine Utopie war, dass wir alle an der Bürotür eine Unisex-Mao-Uniform erhalten, in der das Geschlecht des arbeitenden Menschen unsichtbar wird. Das mag freudlos klingen. Aber es hätte niemanden davon abgehalten, sich in der Freizeit nach Kräften zu aufzubrezeln und seinen sexuellen Vorlieben zu frönen.

Butler geht mit mit ihrer Analyse weiter: Der Phallogozentrismus macht nicht nur die Frau unsichtbar, er sorgt – aus vorgeblichem Interesse am Fortbestand der Menschheit – für strikte Geschlechter-Binarität und Zwangsheterosexualität. Als Feministin und Lesbe fragt sie: „Wie kann man am besten die Geschlechter-Kategorien stören, die die Geschlechter-Hierarchie und die Zwangsheterosexualität stützen?“ (S. 8). Sie rät: Wir sollen mit Geschlechter-Identitäten spielen, sie parodieren, sie performen, uns dabei von von Schwulen, Lesben und Transvestiten inspirieren lassen. Das Begehren und die Identität frei schweben lassen.

Das könnte auch heissen: die Binarität durch eine Vielzahl von gelebten  Geschlechter-Identitäten zum Einsturz bringen. Dazu müssen wir die ganze vorhandene Gender-Diversität überhaupt erst sichtbar machen. Die Vielfalt des sexuellen Begehrens und die Transsexualität sind dann unbedingt zu akzeptieren und zu fördern. Im Prinzip bin ich damit absolut einverstanden. Dieses Vorgehen gibt nicht nur vielen Menschen ihre Rechte und holt sie aus der finsteren Kammer der  Selbstzweifel. Es könnte sogar zu einem ähnlichen Resultat führen wie meine eigene Geschlechter-Utopie: dass die Geschlechter-Binarität überall dort einfach verschwindet, wo sie nicht zwingend gebraucht wird.

Nun ist die Darstellung dieser Vielheit sehr viel bunter geworden als ich es mir vorgestellt hatte, und auch das ist eigentlich schön. Ich frage mich lediglich, warum diese Gender-Diversität in den letzten Jahren vor allem die Cis-Frauen zum Verschwinden gebracht (zum Beispiel im Begriff Flintaq*) oder auseinander dividiert hat (im feministischen Streik). Nicht aber die Cis-Männer. Während wir bunt sind, uns zeigen und uns streiten, erhalten sie den Phallozentrismus an Schlüsselstellen unserer Gesellschaft weiter aufrecht: mit Mehrheiten in Machtpositionen in der Finanzwirtschaft, in der Armee, im Bauwesen, in der Politik. Diskret, uniform und mächtig.

Judith Butler: „Das Unbehagen der Geschlechter“; Frankfurt am Main: edition suhrkamp 1722, 1991,

Judith Butler und der begehrliche Blick des Mannes

Judith Butler 2012 (Quelle: Wikipedia).

In vier Tagen habe ich das Vorwort zu Judith Butler’s Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ zweieinhalbmal gelesen. Schon diese acht Seiten haben meine Hirnsynapsen zum Glühen gebracht, und das ist ein Kompliment. Nichts liebe ich mehr, als wenn meine Hirnsynapsen glühen. Antworten auf meine Frage vom letzten Beitrag habe ich indes noch keine gefunden. „Ja oder Nein“, „Frau oder Mann“, „ist oder ist nicht“ – solche Gegensätze klar zu benennen, ist nicht die Absicht von Judith Butler. Wir kennen sie ja angeblich alle. Butler will solche Gegensätze untersuchen, unterwandern, zum Einsturz bringen, kurz, dekonstruieren. Das ist ihr Job, und sie will damit nicht weniger als „das herrschende Gesetz“ ins Wanken bringen. Schon auf der ersten Seite studiert Butler den begehrlichen Blick des Mannes auf die Frau: Wie der Mann Unbehagen empfindet, wenn die Frau plötzlich zurückblickt. Weil die Frau ja Objekt dieses Begehrens ist. Wie erschrickt er da, wenn sie plötzlich zu erkennen gibt, dass sie selbst Subjekt sein könnte! Butler hat das bei Jean-Paul Sartre so gelesen. Sie selbst ist ja lesbisch.

Ich stelle mir beim Lesen vor, wie Butler das sich ständig wiederholende, heterosexuelle Liebesritual des 20. Jahrhunderts befremdet und amüsiert aus der Distanz beobachtet. Ich erinnere mich gut an dieses Ritual: Meine Mutter hatte mir beigebracht, mein eigenes Begehren für einen Mann erst dann zu erkennen zu geben, wenn sicher ist, dass er keinen Rückzieher machen wird. Mit 14 fand ich das unmenschlich. Ich musste aber lernen, damit zurechtzukommen. Alles andere wäre ein schwerer Verstoss gegen die Gesetze der Weiblichkeit gewesen. Begehrliche Blicke meinerseits hatten verstohlen zu bleiben; und niemals, wirklich niemals spricht eine Frau gegenüber einem Mann zuerst ihr Begehren aus. Ich zucke heute noch zusammen, wenn junge Frauen im Film einem Mann ganz frank und frei ihre Liebe gestehen. Geht das heute?! Und sucht der Mann dann nicht schnellstens das Weite?! Und wenn frau das heute ungestraft macht: Ist es auch ein Verdienst von Judith Butler?

 

 

 

Wiedersehen mit Judith Butler

Pünktlich zum Tag der Frau habe ich gestern angefangen, „Das Unbehagen der Geschlechter“ von Judith Butler wieder zu lesen. Für alle Nicht-Feminist*innen muss ich vorausschicken: Dieses Buch ist so etwas wie das Evangelium des zeitgenössischen Gender-Feminismus. Es ist aber in einem schwer verständlichen philosophischen Jargon gehalten. Wenn ich jetzt über meine Wieder-Lektüre auch noch blogge, dann laufe ich Gefahr, mich zur Närrin oder zur Zielscheibe von Trans-Aktivist*innen zu machen. Ich tue es trotzdem, jedenfalls, so lange ich Lust darauf habe. Ich will das Buch jetzt verstehen. Auch, um meinen Ort in einem Feminismus zu finden, der Frauen wie mich, (heterosexuelle Cis-Frau, Jahrgang 1965, hochgradig schwerhörig) in an Schusswaffen erinnernden Akronymen wie „Flintaq*“ verschwinden lässt. Bloggen hilft mir, meine Gedanken zu ordnen. Ich diskutiere gerne und akzeptiere auch Widerspruch – wenn er die Grenzen des Anstandes nicht überschreitet.

In meinen jungen Jahren habe ich das 1990 publizierte Buch glattweg abgelehnt. In einem Kreis von Butler-Interessierten (mehrheitlich mit den neusten akademischen Trends vertrauten Männern), diskutierten wir 1996 Butler’s angebliche These, dass das biologische Geschlecht gar nicht existiere. „Das ist doch Bullshit“, sagte ich, „Es ist doch leicht zu sehen, dass die meisten Menschen entweder Frauen oder Männer sind.“ Mein biologisches Geschlecht schien mir nicht nur Quelle unbändiger Lust, sondern auch spezifischer Schwierigkeiten im Alltag zu sein. Wie kann man so etwas in Abrede stellen? Die Versammelten wiegten nachdenklich die Köpfe.

Selbst gelesen habe ich Butler erst später und, ja, ich kam dabei zur Überzeugung, die Autorin löse das biologische Geschlecht in einem Wust von Sprache auf.  Erst kürzlich hat mir jemand gesagt, nein, das stimme so nicht. Butler habe neulich eben beteuert, dass sie das sie das Vorhandensein das biologischen Geschlechts eben nicht in Abrede gestellt habe. Sie meine das mit dem Geschlecht vielmehr so, wie es hier sehr gut nachvollziehbar erklärt ist.

Um herauszufinden, wie es wirklich ist, habe ich mir die deutsche Ausgabe vorgeknöpft: „Das Unbehagen der Geschlechter – Gender Studies“, Edition Suhrkamp, 1991. Das englische Original wäre mir denn doch zu anstrengend.

Sensemann

Gestern habe ich Herrn Hooligan in einem Brief erzählt, was bei uns seit seinem Besuch zum Jahreswechsel so alles passiert ist. Dann erörterte ich kurz die Weltlage, wie wir das in unseren Briefen so tun. Er stets optimistisch, ich stets etwas düster. Ich endete mit: „Um auch die heitere Seite zu sehen: Ich bin in diesen Tagen sehr fröhlich, beinahe schwindlig vor Glück.“ Ich schrieb nicht, warum. Ich wollte ihn nicht in Sorge versetzen. Ich hätte geschrieben: „Ich sehe den Tod hinter mir in an die Wand gelehnt, ein Knochengestell. In der einen Hand hält er die Sense, in der anderen eine Zigarette. Ich weiss nicht, ob die Zigarette lang ist oder kurz. Aber ich weiss: Wenn er fertig geraucht hat, wird er sie lässig wegschnippen und die Sense in beide Hände nehmen. Ich weiss nicht, ob er für jemand anderen kommt oder für mich. Aber ich weiss: Ich bin frei, das beste zu machen aus der Zeit, die mir bleibt.“

Ein Buch, das Vater und Tochter verbindet

Wenn ich meinen Vater im Heim besuche, lese ich ihm jeweils ein paar Seiten aus „Der arme Mann im Tockenburg“ von Ulrich Bräker vor. Wer immer über dieses Buch schreibt, beeilt sich, seine „mangelnde literarische Qualität“ zu erwähnen (zum Beispiel hier). Ich gehe daher vor allem auf seine durchaus erwähnenswerten Stärken ein. Es ist erstens in einer ganz eigenen Sprache gehalten, leicht an Bräkers Muttersprache angelehnt, den Ostschweizer Dialekt, der im bergigen Toggenburg gesprochen wird. Es ist zweitens das früheste erhaltene Stück Schweizer Autofiktion. Bräker (1735 bis 1798) erzählt darin seine Lebensgeschichte, die eines Bauernbuben, der als junger Mann in die preussische Armee gerät, abhaut und dann in seiner Heimat eine karge Existenz aufbaut. Mit Frau, Kindern und einem Textilhandelsgeschäftchen, wie es in der Frühindustrialisierung in der Ostschweiz viele gab. Und: Das Buch hat die Kraft, meinen Vater und mich jeweils für eine halbe Stunde oder so über sein Elend hinweg zu verbinden. Er war selbst ein Bauernbub, im bergigen Napfgebiet, und hat sich später in einer Beamtenhierarchie abgearbeitet.

Ich bin hingerissen von Bräkers ersten Kindheitserinnerungen: „Ganz deutlich besinn ich mich, wie ich auf allen vieren einen steinigten Fussweg hinabkroch und einer alten Base durch Gebärden Äpfel abbettelte.“ Ich sehe das fast wie einen Film vor mir. Aber, hey, das war 1738! Mein Vater horcht auf, wenn vom Geissenhüten die Rede ist. Dann unterbrechen wir uns und er erzählt von der Ziege, die er selbst als Bub hatte. Wie sie ihm sagten, er solle sein Herz nicht zu fest an sie hängen, sie werde zu Ostern geschlachtet.

Wenn ich ihm vorlese, bin ich seine literarische Tochter, geboren, um ihn stolz zu machen. Er geniesst das Stolzsein. Das rührt mich, denn früher war er nie stolz auf mich oder hat es mir jedenfalls nicht gezeigt. Aber hier erzählt er den Pflegenden bei jeder Gelegenheit, dass ich im Fall seine Tochter sei und ihm dieses tolle Buch vorlese.

Einmal, ich bin mittendrin, ruft Wiederkehr an, sein Jugendfreund. Die beiden waren zusammen auf der Beamtenschule und büffelten Schweizer Verkehrswege und Postleitzahlen. Wiederkehr hatte eine Stelle in der Bundeshauptstadt. Aber jetzt ist auch er vergesslich geworden. Auch ihm erzählt mein Vater von diesem tollen Buch und vom Toggenburg und vielleicht wissen beide nicht mehr auf Anhieb, wo oder was das Toggenburg ist, es ist doch etwas abgelegen. Aber dann fällt der Groschen und einen Moment lang klingt es so, als würden sie gleich zusammen Ostschweizer Postleitzahlen zu repetieren beginnen.

Ulrich Bräker: „Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des armen Mannes im Tockenburg; Hofenberg Sonderausgabe 2017; (Erstdruck 1789).

Glücklich

Er lächelte, ich auch.

Am vergangenen Samstag, 14.15 Uhr, packte ich meine Kamera ein und eilte an die Strassenfasnacht. Ich liess mich von der Menschenmenge treiben und knipste. Und lächelte. Und knipste. Schaltete die Hörgeräte aus und hörte nur noch ferne Rhythmen, keinerlei Lärm. Nach einer Stunde wusste ich: Ich bin genau jetzt der glücklichste Mensch auf der Welt. Ich muss gar nichts. Ich muss keinen Mann suchen, der sich mir an den Hals wirft wie als ich 16 war. Ich muss nicht meine Kreativität unter Beweis stellen wie mit 22. Ich muss die Fasnacht nicht zu meinem Beruf machen und tagelang konfettibedruckte Seiten zutexten wie mit 35. Ich kann genau das tun, was ich an der Fasnacht am liebsten tue. Ich kann zuschauen und diese leicht surrealen Momente geniessen, in denen der Alltag dem Ausnahmezustand weicht – oder umgekehrt.

„Verkauf bitte meine Bitcoins, und zwar sofort.“

Bei der Brücke steht ein unten als Clown verkleideter Mann – und spricht oben so dringlich ins Handy, als würde er zu seinem Gesprächspartner sagen: „Bitte verkauf meine Bitcoins, und zwar sofort!“ Oder da sind diese beiden kleinen, drahtigen Frauen im kleidsamen Matrosenkostüm. Ihnen winken zwei aufwändig und wunderschön herausgeputzte Piraten in mittleren Jahren zu – „hallo, winkt doch zurück, wir sind schliesslich auch in der Hochseeschifffahrt tätig!“ Ich konnte sehen, wie die beiden Frauen nicht sicher waren, ob sie belästigt wurden, oder ob es einfach Spass war. Sie entschieden sich nach kurzem Zögern für „einfach Spass“ und winkten zurück. Ich schaute und hatte keine einzige Sorge auf der Welt. Und als mir nach einer Stunde das Gedränge unangenehm wurde, konnte ich einfach nach Hause gehen und ein Buch lesen – und das war dann auch schön.

Der literarische Tod und der echte Tod

Mein Vater hat nun ein Zimmer im Heim am Talgrund und findet dort allmählich etwas Ruhe. In den letzten Wochen war er eine ständige, oft auf ganz neue Art liebenswürdige Präsenz in unserem Leben. Jetzt haben der Krebs, die Demenz und der Heimalltag ihn bei der Hand genommen. Es scheint oft schwierig, ihm dorthin zu folgen, wo er gerade ist. In diesen Tagen bezweifle ich oft, dass sein Tod so sein wird, wie wir Tode hundertfach gelesen und am Fernsehen gesehen haben: Der oder die Sterbende blutet, spricht ein letztes, handlungstreibendes Wort, dann kippt sein Kopf zurück, seine Augen brechen.

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Der Zufall will es, dass ich dieser Tage die letzten Kapitel eines Buches las, das mir eine sehr liebe Freundin ausgeliehen hat: „Rainer Maria Rilkes Schweizerjahre“ von Jean-Rodolphe von Salis. Einige Grundkenntnisse über Rilke gehören immer noch zur deutschsprachigen Allgemeinbildung. Der Autor des Buches, Jean-Rodolphe von Salis, ist hingegen nicht mehr so präsent. Aber er war einer der bedeutendsten Journalisten der Schweiz im 20. Jahrhundert. Von Salis hatte in jungen Jahren Rilke noch persönlich kennengelernt. Die letzten Kapitel seines Buches enthalten eine mitfühlende Schilderung der Krankheitsjahre, die Rilke grösstenteils in der Schweiz verbrachte. Rilke starb an einem Blutkrebs, der jenem meines Vaters ähnlich ist. Deshalb sind mir die letzten Kapitel des Werkes besonders nahe gegangen. Von Salis scheinen ähnliche Fragen beschäftigt zu haben wie mich gerade. War der Tod dieses Literaten so wie er sich selbst den Tod vorgestellt hatte? Sicher dürfe man diesen Tod nicht mit Bildern beschreiben, die dem Werk des Dichters entnommen seien, das verbiete der Anstand, die Scham „vor dem Unaussprechlichen“, schreibt von Salis.

Aber wie hat Rilke selbst es gehalten? Von Salis: „Der Mann, der seit jungen Jahren als Dichter des Leidens und des Todes hervorgetreten war, vermied soviel wie möglich die Aussprache über die grossen Rätsel, als sie sich seiner eigenen Existenz bemächtigten.“ Und: „Es ist auffallend, dass er in seinem letzten Jahren und in seinen reifsten Werken die berühmten alten Bilder nie mehr brauchte, die er einst im Malte-Roman und im Stundenbuch geprägt hat, um den Tod zu bezeichnen.“ Rilke glaubte offenbar auch bis fast zuletzt daran, dass er wieder gesund werde – in dieser Hinsicht ist ihm mein Vater nicht unähnlich. Von Salis zieht das Fazit: „Es war keine literarische Krankheit und kein literarischer Tod, die sich Rilkes bemächtigt haben, und er erlitt beide als ein mannhafter, tapferer Mensch.“ (S.216)

Wie man den Fehlerteufel besänftigt (hoffentlich)

Wer denkt, der Fehlerteufel Titivillus (am linken Bildrand) habe nur mittelalterliche Scribenten geplagt, täuscht sich (Quelle: Wikipedia)

Warum machen wir Fehler? Das ist eine Frage, die mich schon lange beschäftigt (auch hier nachzulesen). Mich interessieren vor allem jene, von denen wir sehr genau wissen, dass sie uns nicht passieren dürfen. So genau, dass wir präzise Vorkehrungen getroffen haben, um sie zu vermeiden. Und trotzdem passieren sie uns. Als hätte ein Dämon unsere Hand geführt. Wir Zeitungsmacherinnen der alten Schule kennen solche Vorkommnisse nur zu gut. Auf einer fertigen Seite alles Wesentliche nochmals kontrolliert – und dann doch in einer Bildlegende einen Namen verwechselt; in der Nachrichtenspalte eine uralte Nachricht aus dem Stehsatz nochmals veröffentlicht. Das klingt harmlos. Aber je nach Art und Relevanz des Lapsus konnte eine solche Panne früher Leserbrief-Shitstorms auslösen. Oder seine Urheberin entschuldigte sich danach tagelang telefonisch bei Menschen, die sich – oft verständlicherweise – beleidigt fühlten. Ja, solche Ausrutscher konnten Karrieren beenden.

Auch bei mir hat eine Häufung solcher Fehler vor 15 Jahren einen beschämenden Karriereknick verursacht. Sie passierten trotz mit der Zeit geradezu panischer Kontrollen. Sie schienen auf einen unhaltbaren Zustand in mir drin zu verweisen, den ich nicht verstand. Erst im letzten Herbst habe ich mich mit dieser finsteren Phase meiner Laufbahn versöhnt, als mich ein gewisser Tarcisius Schelbert aus Weggis (hier sein köstlicher Leserbrief) mit dem Dämon aller Schreibtischtäter bekanntmachte, dem Titivillus. Dass ein Gehilfe des Teufels bei solchen Fehlleistungen seine Finger drin hat – und dass schon die Scribenten des Mittalalters diesen kannten – schien mir keine billige Entschuldigung zu sein. Es half mir, meine Unzulänglichkeiten von damals gelassener zu sehen.

„Dieser Dämon hat Humor“, schreibt Schelbert und weist darauf hin, dass aus „Unfällen“ in der Hektik des Tagesgeschäfts schnell „Umfälle“ werden. Und er gibt Anleitung zum Umgang mit dem Titivillus:  „Also, wir Texter, Männer und Frauen, müssen den Titivillus besänftigen. Ich opfere ihm deshalb eine Flasche Wein. Man muss seine Feinde lieben, vielleicht schadet das ihnen. Viva!“

Dieser Tage machte meine Nichte Marie-Christiane (23) an einer wichtigen Prüfung an der Uni erste Bekanntschaft mit dem Titivillus. Ich werde hier keine Einzelheiten ausbreiten. Nur, dass sie infolge eines Versehens als Betrügerin dasteht, was die erfolgsverwöhnte und äusserst korrekte, junge Frau zutiefst erschüttert hat. Ich bin sicher, dass sie sich retten kann. Aber ich opfere hiermit einen Sonntagmorgen, indem ich dem Titivillus eine Huldigung schreibe. Möge er damit zufrieden sein und von meiner Nichte für lange Zeit ablassen. Und möge Marie-Christiane in zehn Jahren über den Aufruhr von heute lachen können.